Eine Passage des Passanten

Die Geschichte von dem armen alten Mann und den reichen Kindern kann ich erzählen, weil ich die ganze Zeit dabei war. Vordergründig eine Kriminalgeschichte handelt sie davon, wie wenig kulturelle Bewusstseinsveränderung an den Grundfesten der Klassengesellschaft rührt.

„Ich bin keine Slalomstange!“, wiederholt der Alte den Refrain seines Klageliedes.

„Kinderschläger, Kinderschläger!“, jault der Chor der Knaben, die den Alten auf seinem Weg durch die Innere Stadt verfolgen.

Kein Stück aus dem Tollhaus. Nur eine Momentaufnahme aus einer durchschnittlichen deutschen Kleinstadt.

Erstkontakt

Heute weiß der Alte, dass die Geschichte für ihn am 14. September 2017 gegen 19 Uhr in Stade anfing. Er ging vom Fischmarkt die Hökerstraße hinauf. Plötzlich bremsten quietschend und sich querstellend zwei Fahrräder vor ihm.

Die Innere Stadt ist Fußgängerzone. Das ursprünglich strikte Verbot für Radfahrer wurde gelockert, seitdem gewisse bürgerliche Kreise den Zweiradverkehr zum Ausweis höheren gesellschaftlichen Bewusstseins erklären. Dass er im Gassengewinkel zwischen Bahnhof und Hafen toleriert wird, legen die FahrerInnen so aus, als hätten die Passanten Acht zu geben, den Rädern nicht in die Quere zu kommen. Noch im dichtesten Gedränge an den Markttagen Mittwoch und Samstag steigt die ökologisch höher stehende Hausfrau so wenig von ihrem High-End-Bicycle wie der von ihr betreute und mit sozialen Spielregeln vertraut gemachte syrische Flüchtling.

Die Fahrer, die ihre Tour durch die Hökerstraße abrupt vor den Füßen des Alten beendeten, waren der Nachwuchs der auf das Rad gekommenen Ober- und Führungsklasse. So viel war auf den ersten Blick klar. Mit diesen Rädern und Helmen könnte kein gewöhnliches Arbeitnehmerpaar seine Söhne ausstatten.

freerider_helme
»bandit bike: make your bike a gun«

Als der Alte in ihrem Alter war, um die Strafmündigkeitsgrenze herum, 12 bis 14, fuhren in der Hökerstraße noch Autos. In den folgenden Jahrzehnten wurde ihm stets eine Art Rechtfertigung abverlangt und sein Status als Sonderling gefestigt, wenn er etwa als Journalist zu einer Verabredung mit Unbekannten nicht im Auto, sondern auf dem Fahrrad erschien.

(Foto: urian)
November 1993

Nun, in einem Alter, in dem es ihm schwerer wird, für den Automobilisten mit aufzupassen, der eine Ampel bei Rot oder einen Zebrastreifen überfährt, wird er außerdem vermehrt auf Gehwegen und in der Fußgängerzone von derselben Rücksichtslosigkeit auf zwei Rädern verfolgt.

Der Alte beobachtete die beiden Biker in der Hökerstraße weiter. Sie starteten an der Birnbaumpassage und rasten hinab zum Fischmarkt, wobei ihnen die Passanten als Slalomstangen dienten. Kameras an den Helmen filmten die Fahrt.

Später sah er, wie sie sich im Konvoi einen Weg durch die Fußgänger in der Holzstraße bahnten, im Vertrauen darauf, dass man ihnen ausweichen würde. Neben seiner Schulter hob sich ein Vorderrad und senkte sich knapp hinter dem Rücken eines anderen, den der Bursche umkurvte, der seinen Kopf optimal geschützt hatte. Gegen Verletzungen wie dagegen, haftbar gemacht werden zu können.

Sie nennen sich „Freerider“ und nehmen sich die Freiheit, Verkehrsregeln zu missachten. Die Helme maskieren sie bei ihren Raubzügen und tragen ihnen zugleich die Beute ein: Videos im Internet mit Titeln wie We bike Stade. Besonders fündig wird man mit dem Stichwort „angry people“.

„Ich bin keine Slalomstange!“ – „Kinderschläger, Kinderschläger!“

(Foto: urian)
Holzstraße Stade

Gefahrenlage

Am 12. November, einem Sonntag, versammelten sich gegen 16 Uhr am Zeughaus etwa 30 Freifahrer. Darunter nicht nur Sprösslinge aus begüterten Häusern, der „Elite“, den „Leistungsträgern“, die das Steuerzahlen denen überlassen, die von ihnen ausgebeutet werden, sondern auch, erkennbar an den fehlenden Helmen, Söhne aus unteren Schichten. Aufnahmen des Events veröffentlichten die künftigen Herrenmenschen unter „BikerMeet 2k17“.

Der Alte schlenderte gedankenverloren weiter. Dann erst erwachte sein Reporterinstinkt, und er beschloss, dem Treiben zuzuschauen. Er bog am Rücken des Zeughauses ein, wo dieses mit dem Bauzaun des Einkaufszentrums eine Gasse bildet. Dort kamen ihm ein Auto und ein maskierter „Freerider“ in einer Front entgegen.

Sie sahen ihn so gut wie er sie, machten aber keine Anstalten anzuhalten oder auszuweichen. Für Ortsunkundige sei betont: der Alte befand sich in einer Fußgängerzone. Er wich an die Wand des Zeughauses aus, gerade rechtzeitig, damit der „Freerider“ nicht in ihn hinein fuhr. Während dieser schon vorbei wischte, machte der Alte eine abwehrende Geste, um sich den Platz zu verschaffen, den Auto- und Radfahrer ihm in der Fußgängerzone nicht lassen wollten. Mit der angewinkelten flachen rechten Hand traf er den Radfahrer an der gepolsterten Schulter. Eine ungezielte Bewegung, die seinen Helm treffen oder ins Leere hätte gehen können; eine Berührung ohne Kraft.

Der Alte sah den Radler halten und den Helm in seine Richtung wenden. Dann setzte er seinen Weg fort.

Als er einen Monat später den Tatort fotografierte, war der Bauzaun gewandert. Würde sich die Situation wiederholen, wäre der Alte unweigerlich vom Auto angefahren worden.

(Foto: urian)
Tatort Zeughaus

Stalking

Offenbar hatte das freifahrende Bübchen nichts Eiligeres zu tun, als seinen Kumpanen eben die Geschichte zu erzählen, nach der sie jagen, die sie filmen und ins Netz stellen: Erwachsene – je älter, je lieber –, die sich darüber aufregen, dass sie von den Kids soeben in ihrer körperlichen Unversehrtheit bedroht worden sind.

Prompt bildete sich ein radelnder Mob, der dem Alten auf seinem Weg durch die Innere Stadt nachstellte. „Kinderschläger, Kinderschläger!“

Er ignorierte sie eine Weile. Endlich blieb er stehen und hielte ihnen eine Rede, die mit der Aufforderung schloss, die Polizei zu rufen, weil er es sonst tun würde, wenn sie ihn nicht in Ruhe ließen.

Sie filmten ihn mit ihren Helmkameras. Erst als der Alte sein Smartphone hob, „dann werde ich mal Beweismittel sichern“, drehten sie flugs ab und zerstreuten sich.

Polizeieinsatz

Das Konterfei des Alten wurde unter Stader Bikern prominent, und jedes Mal, wenn einer seiner ansichtig wurde, formierten sich die Banditen und folgten ihm. Der Alte kümmerte sich nicht darum. Er wusste noch nichts davon, dass sie es auf Bilder von Ärger und Wut anlegten und lieferte ihnen keine.

Am 14. Dezember hängten sie sich zum dritten oder vierten Mal an ihn; er ahnte nicht, dass er die Begegnungen würde zählen müssen. Er hatte an einer seiner Tankstellen für freies WLAN am Hafen gestanden, als die Gangster ihn entdeckten und einen Pulk bildeten. Es war dunkel, und sie sammelten sich in einiger Entfernung, so dass sie sich vermutlich einbildeten, er bemerke sie nicht.

Nachdem er im WLAN fertig war, führte er sie auf den Fischmarkt, wo Weihnachtsbuden aufgebaut waren. Er drehte sich nicht um und kann keine Angaben machen, welche Probleme die Verfolgung bereitete. In der Bungenstraße setzte sich ein Freifahrer vor ihn, offenbar, um sein Gesicht zu filmen. Der Alte hob sein Smartie und blitzte ihn an.

An einer WLAN-Tankstelle auf dem Pferdemarkt verweilte der Alte, belauert von behelmten Gestalten. Während des Weihnachtstrubels streiften mehr Polizisten als sonst zu Fuß durch die Innere Stadt, und die Gangster ergriffen die Gelegenheit. Ohne auch nur den Helm abzusetzen, zeigten sie den Alten an.

So kam er als Nicht-Autofahrer zum zweiten Mal dazu, einem Polizisten auf der Straße seine Personalien anzugeben. Das erste Mal lag mehr als zehn Jahre zurück; er hatte den Notruf gewählt und die Polizei auf die Spur eines Mannes gebracht, der zwei Raubüberfälle in der Inneren Stadt verübt hatte.

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Posting eines Stader Freeriders

Kriminalisierung

Nachdem er sich ein Vierteljahrhundert lang aus der Perspektive des Beobachters, als Historiker und Berichterstatter, mit Verbrechen befasst hatte, war er nun zum zweiten Mal in der Position des Beschuldigten. Das erste Mal war 18 Jahre her: eine Neonazi-Familienbande behauptete fälschlich, er habe ihr Grundstück betreten.

Damals hatte er einen Termin beim Staatsschutz, diesmal erhielt er mit Datum vom 18. Dezember lediglich ein Formular zur „Beschuldigtenanhörung“. „Tatvorwurf: (Vorsätzlich einfache) Körperverletzung (§ 223 StGB)“.

Die freifahrenden Kinder hatten zu Protokoll gegeben, was sie erwarteten: „Opfer befährt mit seinem Fahrrad die Stader Fußgängerzone. Darüber ist der Beschuldigte so sehr verärgert, dass er das Opfer auf den Rücken schlägt [,] als dieser [!] an ihm vorbei fahren will.“

Vom falschen Sachverhalt abgesehen, waren die Kinder an den Falschen geraten. Falls man ihn dabei erwischen sollte, wie er grantelnd und maßregelnd unterwegs sei, dürfe man ihn erschießen, beteuerte der Alte.

Er hatte dem Polizisten, der die Anzeige aufnahm, seine Version des Geschehnisses geschildert. Auf dem Anhörungsbogen kreuzte er an: „Ich mache von meinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch.“ Sollte die Farce fortgesetzt werden, würde er sie auf seinem Blog dokumentieren und sich erst wieder in einem Gerichtssaal förmlich dazu einlassen.

In Anbetracht dessen, dass er über tausend Straftäter geschrieben hatte, wäre es allerdings unredlich, ein Geheimnis daraus zu machen, wenn er in diese Rolle gedrängt wurde. Tatsächlich hatte er gerade begonnen, seine Kenntnisse über Verbrechen zu sichten, um sie womöglich gebündelt zusammenzufassen. Sein eigenes Strafverfahren trägt zur Abrundung bei.

Während der Alte kriminalisiert wurde, blieb den Freifahrern jede Kritik an ihrem Verhalten erspart. Minderjährige Banditen aus anderem sozialen Milieu wären und wurden umgehend skandalisiert und von Polizei und Politik an den Medien-Pranger gestellt worden. Über die Rad-Gangster von Stade, so vertraut sie den Passanten mittlerweile sind, wurde bis heute kein öffentliches Wort verloren. Weil sie noch keinen angefahren haben? Kann man überhaupt wissen, ob sie das noch nicht haben?

Killing Freerider (Zeichnung: urian)

Einstellung

„Kinderschläger, Kinderschläger!“

Den Mob wird der Alte wohl nicht mehr los. Die reichen Kinder, die einüben, was sie ihr Leben lang klassenmäßig vorbestimmt tun werden: ihren Sadismus in Kapitalismus umsetzen.

Immerhin schützt der Rechtsstaat vor kompletter Willkür. Am 16. Januar 2018 teilte die Staatsanwaltschaft die Einstellung des Verfahrens mit. Der Schauprozess, den der Alte sich auszumalen begonnen hatte, wird nicht stattfinden.

„Ich bin keine Slalomstange!“

22. Januar 2018 © Uwe Ruprecht