Der Fall Thomas Lemke

Gegen 21 Uhr am Freitag, den 15. März 1996, erhält André Luisetti Besuch von einem jungen Kameraden. Der 73-jährige Franzose lebt seit 1980 im Ruhrgebiet. Mit 14 war er den faschistischen Chemise bleu (Blauhemden) beigetreten. Er war 18, als die Deutschen in Paris einmarschierten und er sich ihnen begeistert anschloss. Mit der Waffen-SS kämpfte er in Polen und Ostpreußen.

Nach dem Zusammenbruch steckten seine Landsleute ihn für vier Jahre ins Gefängnis. Danach siedelte er sich in Kolumbien an, wo ihn viele alte Kampfgenossen begrüßten. Anfang der 1960er kam Luisetti nach Deutschland, um die Rente einzustreichen, die ihm für seinen Militärdienst zustand.

Er trat der NPD bei und übernahm in Essen und Bottrop Parteiämter. Später stand er der Freiheitlichen Deutschen Arbeiterpartei FAP in Duisburg vor. »Ich bin kein Neonazi«, stellte Luisetti klar, »ich bin ein alter Nazi.«

Bei einer Flasche Bier sagt sein Besucher, er habe »schon einen erschossen« und werde noch einen umbringen. Zum Abschied schenkt er Luisetti ein Foto von sich: im Tarnanzug, die unbrauchbare Panzerfaust, die er in seiner Wohnung aufbewahrt, lässig im Anschlag wie ein Gewehr. Luisetti, der erfahrene Krieger, kann über das Bild nur grinsen: nie im Leben hat der Bursche eine Panzerfaust abgefeuert.

Mit Waffen aber hat er es. Im Rucksack trägt er stets eine »Pump Action Shotgun« bei sich. Die Munition der Schrotflinte fällt Luisetti auf, die kennt er nicht: Patronen Marke »Sauposten«, Kaliber 12/70, neun Bleikugeln pro Schuss. Damit legen Jäger auf Wildschweine an.

Mord im Treppenhaus. Dorsten-Rhade, 15. März 1996

Als Luisetti mit seinem Besucher über Waffen fachsimpelt, ist Helga K. vor dem Fernseher eingeschlafen. Kurz vor Mitternacht wird sie durch zweimaliges Türklingeln geweckt.

»An der Wohnungstür war aber niemand. Ich betätigte den elektrischen Türöffner. Unsere Wohnung ist in der ersten Etage. Ich kann von der Tür aus allerdings sehen, wer unten ist. Ein dunkelhaariger junger Mann, relativ groß, war an der Tür. Mit der linken Hand hielt er die Tür auf, die rechte Hand hatte er auf dem Rücken.«

Der Fremde fragt, wem der rote Golf gehört, und sagt noch etwas, das Helga K. nicht versteht. »Es ging wohl noch um einen Ford Sierra, so ein Auto fahre ich, der angefahren sei.« Sie sagt »einen Moment« und geht in das Zimmer ihrer Tochter, wo bei dieser ihr Freund Martin Kemming schläft.

Sie bittet den 26-jährigen Mann im Haus, nachzuschauen, was mit den Autos los sei. Frau K. begleitet Kemming in den Flur und schließt die Tür hinter ihm. Gleich darauf hört sie kurz hintereinander zwei Schüsse. Sie hält sich die Ohren zu und sagt: »Lemke«.

Martin Kemming liegt im Treppenhaus. »Sauposten« haben ihm Brust und Bauch zerfetzt, die Wirbelsäule und innere Organe zerstört. Er stirbt binnen Minuten.

Der Polizei erzählt Helga K., dass Kemming früher Skinhead war und 1993 in seinem Wohnort Bottrop ein Steckbrief mit Foto kursierte, in dem er als »Faschist« bezeichnet wurde, der den Türken schaden wolle. Kemming erstattete Anzeige und nannte Thomas Lemke als mutmaßlichen Verfasser.

Die Tochter weiß von Drohbriefen Lemkes aus dem Gefängnis und Anrufen nach seiner Entlassung; es gäbe eine Todesliste Lemkes, auf der Kemming stünde.

Als die Polizei bei Kemmings Eltern erscheint, fragt dessen Mutter sofort, ob ihr Sohn erschossen worden sei.

»Woher wissen Sie das?«

»Nach den Anrufen in der letzten Zeit war mir das klar.«

Seit drei Monaten meldete sich immer wieder eine verstellte Stimme am Telefon: »Martin kommt weg! Martin wird plattgemacht! Bumm, bumm, Martin kommt nicht mehr!«

Darauf angesprochen, habe ihr Sohn bloß abgewunken: »Ach, das war wohl wieder der Psychopath!« An die Polizei habe er sich nicht wenden wollen: »Wir kriegen keine Hilfe, dafür sind wir nicht reich genug.«

1989 hatte Thomas Lemke im Keller seiner Wohnung Kemming gequält. Dessen damalige Freundin Sandra kam hinzu: »Der Martin saß gefesselt auf einem Stuhl. Der Thomas hielt ihm eine abgesägte Schrotflinte in den Mund. Mir rief er zu: ›Verpiss dich, du Schlampe!‹«

Als Motiv gab Lemke an, Kemming sei ein »Verräter«. Was er verraten haben sollte, behielt Lemke für sich. Sandra meinte, Lemke sei Kemming »hinterhergelaufen wie einer Freundin«. Die Flinte verschaffte ihm die verweigerte Aufmerksamkeit.

Für Bedrohung, Nötigung und illegalen Waffenbesitz, sowie eine Körperverletzung, begangen an einer jungen Frau, von der er sich hintergangen fühlte, wurde Lemke zu 14 Monaten Gefängnis verurteilt. Zur Verhandlung trat er in Braunhemd, Koppel, schwarzer Hose und Stahlkappenschuhen an, grüßte mit gestrecktem Arm und bezeichnete sich als Kriegsgefangenen im Sinne der Genfer Konvention. »Ich stehe nur vor Gericht, weil ich Nationalsozialist bin.«

Die Bewährung für eine Jugendstrafe von 21 Monaten wurde widerrufen; Lemke saß bis September 1993 ein. Im Gefängnis betreute ihn die Hilfsorganisation für nationale Gefangene und deren Angehörige e. V. HNG, die ihn im Sommer 1992 zum »Gefangenen des Monats« kürte. Verfahren wegen Verbreitung von Propagandamaterial, Volksverhetzung und Verwendung nationalsozialistischer Symbole hatte das Gericht mit der Begründung eingestellt, keine Märtyrerlegende begünstigen zu wollen.

Im Prozess hatte Martin Kemming nicht nur gegen seinen Peiniger ausgesagt, sondern auch über ihre braunen Verbindungen. Für Lemke hatte er sich damit als Spitzel des Verfassungsschutzes entlarvt. Kemmings Steckbrief, den er in Bottrop verbreitete, führte zu einem Prozess im April 1995. Lemke versäumte den Termin und wurde zur Verhaftung ausgeschrieben.

Unklar, warum die Polizei ihn fast ein Jahr lang nicht fasste. Durch eine Anfrage der PDS-Bundestagsfraktion kam heraus, dass Lemke am 4. März 1996, elf Tage vor dem Mord an Kemming, »bei einer Observation in der rechtsextremistischen Szene für einen Zeitraum von 45 Minuten« im Visier des Verfassungsschutzes stand.

»Da bekannt war, dass gegen Lemke ein Haftbefehl bestand«, schrieb das Bundesinnenministerium, »wurde unmittelbar nach seiner Identifizierung die Polizei unterrichtet. In dem genannten kurzen Zeitraum gelang es jedoch nicht, die Polizei an Lemke zur Festnahme heranzuführen.«

Werwolf. Gladbeck 1985–95

Außer durch seine Straftaten – von Brandstiftung über Aufstachelung zum Rassenhass und Störung der Totenruhe bis zu Verbreitung pornografischer Schriften, Urkundenfälschung und Betrug – war Lemke durch Drohungen gegen Polizisten, Staatsanwälte und die eigenen Kameraden aufgefallen. Einem Richter schickte er eine Briefbomben-Attrappe und einem Staatsschutz-Beamten eine Gewehrpatrone mit der Ankündigung: »Die nächste bekommst du in den Kopf«.

Lemke war seit seinem 17. Lebensjahr bei Polizei und Verfassungsschutz als Neonazi registriert – seit im Dezember 1985 bei einer türkischen Familie in Gladbeck eine mit Feuerwerkskörpern, Nägeln und Benzin gefüllte Flasche durchs Fenster geflogen war; nur ein Teppich fing Feuer.

Lemke wurde 1968 als uneheliches Kind geboren. Er lebte abwechselnd bei der »hinterhältigen« Großmutter, einer Tante und der Mutter, die er bei ihren häufigen Streits als »Judenhure« beschimpfte. Sein Auftreten als Hitler-Verehrer brachte ihm den Verweis von der Realschule ein. Als »nicht dumm, aber erschreckend verblendet« erlebten ihn Mitschüler.

Lehren als Tischler, Dachdecker und Schreiner brach er ab. Ab 1984 gehörte er zu einem Dutzend Skinheads, die sich Bomber nannten und auf ihren olivgrünen Jacken den Aufnäher trugen: »Ich bin stolz ein Deutscher zu sein«. Ihre Räuberhöhle war ein Schuppen in Gladbeck.

Im Herbst 1985 scharten sie sich um André Luisetti. Eine Zeitungsannonce, in der er deutsche Orden anbot, stellte den Kontakt her. Lemke hatte bereits bei Wehrsportübungen der Wiking-Jugend mitgemacht. Der Alte schwärmte den Jungspunden von seiner »schönen und glorreichen« Zeit bei der Waffen-SS vor.

Von da an datieren die ersten bekannten Straftaten der Bomber: Sie warfen einer Pastorin die Fensterscheiben ein und traten ein Loch in die Haustür einer Lehrerin, besprühten Telefonzellen und Stromkästen mit Hakenkreuzen und »Türken raus«. Ein Sozialarbeiter berichtete später, dass er »um Thomas mit dessen geistigem Ziehvater in der NPD-Zentrale rang«.

Vor Gericht bestand Luisetti darauf, dass Lemke ihn am Abend von Kemmings Ermordung um 21 Uhr und nicht nach Mitternacht besucht habe. Lemke habe gesagt: »einer erschossen« und einer steht noch aus. Erschossen hatte Lemke da noch niemand, aber zwei Morde begangen.

Nach Hitler und Luisetti war Gary Rex Lauck ein Vater für Lemke. Der Führer der NSDAP-Aufbauorganisation verschickte aus den USA seinen NS-Kampfruf und fungierte seit den 1970ern als Schaltstelle für deutsche Neonazis. 1991 erschien Lemke auf Laucks internationaler »Märtyrerliste«.

Dort las ihn Sharon Lee Money aus North Carolina. Angetan von »the movement«, der braunen Bewegung in den USA, der ihr älterer Bruder angehörte, schrieb sie Briefe an 200 »Gesinnungshäftlinge«. Eine Antwort tat es ihr besonders an. Zum Briefwechsel kamen Telefonate. Thomas Lemke lernte Englisch und ließ Sharon in die Heimat der »Bewegung« einfliegen.

Das Auto, mit dem er sie vom Flughafen abholte, hatte er von seiner Freundin, der Altenpflegerin Bianka W., geliehen. Wie Sharon hatte er sie über eine Kontaktanzeige kennen gelernt. Es begann eine Menage à trois. »Sie war so dumm«, sagte Sharon über Bianka, »er benutzte sie, nahm Geld von ihr, brachte es nach Haus und kaufte Zigaretten für mich«.

Zwei Monate nach ihrer Einreise wurde Sharon Lemkes Ehefrau. Die Hochzeit fand sie »furchtbar«: »Statt Kochtöpfen bekamen wir Orden aus dem Dritten Reich geschenkt.« Die Trauung im November 1994 war ein Event der braunen Szene.

Als Trauzeuge fungierte Dieter Riefling, 27, damals Kreisbeauftragter der FAP und weiterhin einer der umtriebigsten Neonazis. Nachdem es zu Kämpfen zwischen seinen Leuten und türkischen Jugendlichen gekommen war, erklärte Riefling namens der FAP im Mai 1994 bei einem gemeinsamen Auftritt mit Vertretern der türkischen Gemeinde einen »Gewaltverzicht«: »Wir wollen unsere politischen Ziele mit Argumenten und nicht mit Gewalt und auch nicht auf dem Rücken der in Oer-Erkenschwick lebenden Ausländer erreichen«.

Dazu trug Riefling ein T-Shirt mit dem Aufdruck »Kameradschaft Recklinghausen«. Erst 1999 wurde er dafür belangt, dass diese 20 bis 30 Mann starke Truppe eine Nachfolgeorganisation der 1995 verbotenen FAP war.

Riefling wurde mehrfach einschlägig verurteilt. Bis zum Verbot war er Funktionär von Blood & Honour. 2008, inzwischen in Hildesheim ansässig, propagierte er den Schulterschluss der Freien Kameradschaften mit der NPD, für die er zum Landtag kandidierte: »Wir setzen hier ein Signal, dass Partei und Freie Kräfte gleichberechtigt in den Wahlkampf starten.« Seine Frau Ricarda zeichnete 2012 für die Pressearbeit der niedersächsischen NPD verantwortlich.

Bei Hausdurchsuchungen in Rieflings Kreisen wurde die 1991 von Gary Lauck herausgegebene Schrift Eine Bewegung in Waffen beschlagnahmt. In dem Handbuch für eine Untergrundarmee hieß es: »Der Werwolf muss als Avantgarde der Jugend gegen das System antreten. […] Der Werwolf hält selbst Gericht und entscheidet über Leben und Tod unserer Feinde […] Verräter verfallen der Feme.« Und wie auf Thomas Lemke gemünzt: »Berauscht vom Geruch des Blutes, übersteigert sich der Revolutionär radikalster Ausprägung in seinen ekstatischen Gefühlen bisweilen aber auch zu einer Art Hysterie des Aktivismus.«

Lemke, fand seine Ehefrau bald heraus, »hatte zwei extreme Seiten. Er konnte der wundervollste, süßeste Mann sein und sich abrupt in ein Monster verwandeln.« Den Krisen mit der einen Frau entkam Lemke zu der anderen. Als sei er ungebunden verlobte er sich an Silvester 1994 mit Bianka W. und zog bei ihr ein.

Sharon hatte genug und flog im März 1995 heim in die USA. Damit brachen bei Lemke die Dämme. Nachdem er Sharon um ihre Rückkehr angebettelt hatte, kam auch sie auf seine lange Liste von »Verrätern«, und er drohte ihr in Variationen den Tod an.

Zwei Mal schickte er ihr Zigaretten, die mit einer Chemikalie präpariert waren und Brandverletzungen verursacht hätten. Sie erwiderte mit einem Rundschreiben an die Kameraden: »Jedes Mitglied der NS-Bewegung wird davor gewarnt, Kontakt mit der Person namens Thomas Lemke aufzunehmen, da er sich seinen Mitstreitern gegenüber als gefährlich und instabil erwiesen hat. Er ist jederzeit mit einer Schrotflinte oder Pistole bewaffnet.«

Lemke ließ seine Wut an Bianka aus. Er verprügelte sie und hielt sie wie eine Gefangene. Ihre Erniedrigung vollendete sich eines Sonntags.

Mord im Wald. Altena, 16. Juli 1995

Er habe entschieden, »irgend jemanden« gemeinsam mit Bianka umzubringen, um sie an sich zu binden, erklärte Lemke nachher; als Opfer kam jeder in Frage, »der so dumm war, mitzugehen«. Es traf Dagmar Kohlmann, so alt wie Bianka, 25, und ebenfalls Altenpflegerin.

Genaueres über ihre Beziehung zu Lemke ist nicht bekannt. Sie war die Freundin der Freundin eines Knastgenossen und gehörte möglicherweise zu den NS-Kreisen im Ruhrgebiet. Er habe sich mit ihr »gut verstanden«, sagte Lemke, und ein »flüchtiges Verhältnis mit ihr gehabt«.

Er verabredet sich mit ihr an einer Straßenkreuzung in Dortmund. Sie steigt zu ihm und Bianka ins Auto und fährt mit zu deren Wohnung in Altena. Lemke fragt Dagmar, ob sie jemand von dem Treffen erzählt habe. Als sie verneint, fesselt er sie mit Handschellen.

Dann sitzen sie im Wohnzimmer und schauen Videos. Dagmar ist apathisch und schweigt; laut Lemke war sie »ganz daneben«. Vor Gericht bestritt er, was er gegenüber der Polizei noch zugegeben hatte und Bianka indirekt beobachtete: dass er Dagmar zu vergewaltigten versuchte, aber »dazu nicht in der Lage« war.

Draußen wird es dunkel. Lemke verklebt Dagmar Augen und Mund, fesselt sie mit einem Seil und hüllt sie in eine Decke. Er trägt sie zum Auto und legt sie in den Kofferraum. Bianka setzt sich ans Steuer, und Lemke lotst sie zu einem nahe gelegenen Waldstück.

Bianka hält die Taschenlampe, Lemke hebt mit dem Klappspaten eine Grube aus. Er schlingt Dagmar ein Kunststoffseil um den Hals und fordert Bianka auf, das andere Ende zu nehmen. Sie sträubt sich, und er droht ihr mit der Flinte, bis sie gehorcht. Sie ziehen das Seil zu, das Opfer fällt um.

Weil es noch röchelt, schlägt Lemke mehrmals mit dem Klappspaten auf Kopf und Hals. Aber Dagmar Kohlmann ist bereits an der Erdrosselung gestorben. Lemke zerschneidet ihre Kleider und entfernt sie, »damit sie nicht zu identifizieren war, und damit wir den Waldboden nicht belasten«. Er wirft die Leiche in die Grube, schaufelt zu und tarnt das Grab mit Tannennadeln.

Mord im Haus. Bergisch Gladbach, 2. Februar 1996

Auch für den nächsten Mord sucht Lemke sich einen fügsamen Begleiter. Der 24-jährige Marcel M. wuchs »in geordneten Verhältnissen« auf: der Vater Schulleiter, die Mutter Angestellte bei der Staatsanwaltschaft. Mit seiner Verlobten hat er zwei kleine Kinder. Ausbildungen brachte er seiner angegriffenen Gesundheit wegen nicht zum Abschluss; er hat einen Herzschrittmacher und ist Bluter.

Lemke lernte er durch einen Kameraden kennen. Mehrfach besuchten sie gemeinsam NS-Veranstaltungen in Duisburg, die »ideologisch und alkoholisch ausgerichtet« waren. Seine einzige Vorstrafe kassierte Marcel wegen Schwarzfahrens. Ein gerichtspsychiatrisches Gutachten hielt ihn für einen »typischen Untergebenen, der gern im Kielwasser anderer mitschwimmt«.

Marcel kommt in der Nacht nach Hause und findet Lemke auf der Türschwelle vor. Für den Tag schlägt Lemke eine Tour zu Kameraden vor, und Marcel willigt ein. Doch sie treffen niemanden an und fahren auf Lemkes Vorschlag nach Bergisch Gladbach zu Patricia Wright.

Lemke will die 23-Jährige eine Weile vorher im Hauptbahnhof Hagen auf ihren »Nazis raus«-Button angesprochen und sich als Gleichgesinnter ausgegeben haben. Als er nun an der Tür klingelt und die Stimme aus der Gegensprechanlage fragt, wer da sei, habe er sich auf diese Begegnung bezogen, behauptete Lemke.

Marcel zufolge meldet er sich schlicht mit »der Thomas«, worauf der Türöffner summt. Zeugenaussagen legen nahe, dass Lemke Patricia mehr als einmal begegnet und der letzte Besuch bei ihr nicht der erste war.

Patricia empfängt die unerwarteten Gäste in T-Shirt und Slip und kleidet sich dann erst an. Lemke plaudert mit der Gastgeberin, Marcel sitzt unbeholfen daneben.

Als er von der Toilette zurückkehrt, hält Lemke seine Schrotflinte an Patricias Kopf. Er wirft Marcel weiße Handschuhe zu, die er anziehen, und Handschellen, die er der Frau anlegen soll. Die Handschuhe streift Marcel über, aber die Frau fesselt er nicht.

»Ich kann nicht«, jammert er. Also macht Lemke es selbst. Patricia »saß da und war geschockt«, erinnerte sich Marcel.

Lemke zeigt der Frau einen Ausweis, der nach SA und SS aussieht, wie es Marcel vorkommt, und sagt: »Du Schlampe, du Hure, wir sind nicht nett, wir sind die bösen Onkels.« Dann nimmt Lemke erst einmal ein Bad.

Marcel sitzt bei Patricia und unternimmt nichts. Bevor Lemke die Frau ins Schlafzimmer schleppt, befiehlt er Marcel, sich in den Flur zu stellen und aufzupassen. Nach der Vergewaltigung bietet Lemke die Frau seinem Komplizen an, der abwehrt: »Schlafen, nein!«

»Jetzt fahren wir in den Wald«, entscheidet Lemke und beginnt damit, Patricia anzuziehen. Mittendrin ändert er den Plan und würgt die Frau mit einem Schnürsenkel. Er lässt wieder von ihr ab und fordert Marcel auf, den Schnürsenkel zu halten, während er in der Küche nach einem Messer sucht. Er kehrt ohne zurück, wühlt in seinem Rucksack und zieht eine Gipsbüste hervor, mit der er Patricia auf den Kopf schlägt.

Vom Badezimmer aus will Marcel dann einen Knall gehört haben. Als er nachschaut sticht Lemke mit einem Messer auf Patricia ein. Lemke hingegen sagte aus, Marcel sei die ganze Zeit zugegen gewesen, auch als er zwei Messer aus der Küche und eine Schere ausprobierte und schließlich doch das eigene Klappmesser benutzte, um Patricia 91 Stich- und Schnittverletzungen zuzufügen.

Nach dem Mord weist Lemke Marcel an, Fingerabdrücke zu beseitigen. Er schickt ihn zum Auto und bleibt zehn Minuten allein in der Wohnung. »Linke haben kein Recht zu leben!«, verkündet er, als er sich ins Auto setzt.

Unbeschrieben ist die Gipsbüste. War sie verfänglich, etwas wie ein Hitler-Kopf? Als Schlagwerkzeug taugte sie wenig, und Lemke hatte ein besseres zur Hand, den Schaft seiner Schrotflinte. Und weshalb suchte er in der Küche nach Messern, wenn er eines im Rucksack hatte? Marcels Schilderungen wies Lemke als teilweise gelogen zurück, ohne näher darauf einzugehen: »Ich möchte mir aber nicht den Schuh anziehen, dass seine Kinder ihn erst einige Jahre später wiedersehen können.«

Offensichtliches und Mystisches. Essen, Februar/März 1997

Lemke bezichtigte sich weiterer Morde. Im Herbst 1995 habe er in Duisburg einen »Schwarzen« mit einem Pistolenschuss getötet und in den Rhein geworfen; am Flussufer in Düsseldorf zeigte er der Polizei die Stelle, an der er einen Unbekannten umgebracht habe. Er prahlte mit einem »Privatfriedhof« im selben Wald, in dem er Dagmar Kohlmann verscharrte. Die Ermittler überprüften rund 400 Namen aus seinem Adressbuch und fanden keinen Hinweis auf unerklärliche Todesfälle.

Zwei psychiatrische Sachverständige wurden nicht schlau aus Lemke und bezeichneten ihre Erkenntnisse selbst als »unbefriedigend«. Sie attestierten ihm volle Schuldfähigkeit und mochten sich nur auf das Offenkundige festlegen: dass er eine »schizoide Persönlichkeit« sei, distanziert, isoliert, von geringer Einfühlsamkeit.

Schizoid ist eine Vielzahl der Zeitgenossen. Knallhart und abgebrüht muss sein, wer Karriere machen will. Seine »mangelnde Empathie« teilt Lemke mit Führungspersönlichkeiten in Wirtschaft und Politik.

Die Dynamik der Mordserie scheint weder von Gutachtern noch Richtern sonderlich bedacht worden zu sein. Auch der Kriminalbeamte und Bestseller-Autor Stephan Harbort geht nicht ein auf das, was Lemke von den Serienmördern unterscheidet, neben die er ihn stellt. Er gibt seiner Fallstudie den Titel »Natural Born Killer« und greift damit ein Motiv aus den Presseberichten auf, die den gerade aktuellen Film als Folie einsetzte: Lemke »gleicht dem furchtbaren Helden aus dem US-Film Natural Born Killers, den er wie süchtig immer wieder sah«. Auf der Leinwand zieht ein Paar mordend durch die USA; Lemke ist ein Einzelgänger. Seine Mittäter sind keine Partner, nicht einmal Sekundanten.

Bianka wird noch zur Beihilfe genötigt, bei Marcel fällt selbst das aus – sofern er nicht doch mitgestochen hat. Das gemeinsame Erdrosseln von Dagmar Kohlmann wiederholt sich bei Patricia Wright. Aber es wird nur zitiert und ist unbedeutend für die Tötungshandlung. Nach Marcels eigener Darstellung war sein Beitrag zum zweiten Mord geringer als der von Bianka beim ersten Mal.

Lemke hätte sich demnach allmählich von der Mithilfe emanzipiert – um beim dritten Mal allein zuzuschlagen. Beim zweiten Mal gelingt auch die zuerst misslungene Vergewaltigung. Und der Mord an Patricia fällt weitaus blutiger und enthemmter aus. Erst beim dritten Mal tötet Lemke mit der Waffe, die er stets bei sich trägt, und mordet wie der Mann, der zu sein er sich ausmalt, als der er für Fotos posiert.

Für die Gutachter sind die Opfer zufällig. Das könnte auf demselben Mangel an Kenntnissen beruhen, der sie bei der Erstellung ihrer Expertise insgesamt behindert. Lemke hat seine Taten nicht oder widersprüchlich begründet, und die Psychiater haben nicht hinter seine Fassade blicken können.

Offen ist, ob Lemke einem Plan folgte oder nicht. In den polizeilichen Vernehmungen berief er sich darauf, der germanische Göttervater Odin habe ihm Mordbefehle erteilt. Lemke las in der Edda die Götterdichtungen und Heldengesänge der Germanen, glaubte an Neu-Thule und beging das Jul-Fest. »Ich glaube nicht an das Kreuz, sondern an das Hakenkreuz […] Ich glaube nicht an Gott, sondern an die Natur mit den vier Jahreszeiten, meine eigene Stärke, die Bäume, Auen, Quellen, Berge, an Asgard und an Odin.«

»Nazi-Gefasel« sei das und »vorgeschoben«, wurden Lemkes Einlassungen einhellig kommentiert. Dagegen meinte ein Anwalt der Nebenklage, der »politische Hintergrund im Kopf des Angeklagten sei doch der Schlüssel, wenn man die Taten überhaupt verstehen wolle«, und er bemängelte die diesbezügliche Ignoranz des Gerichts. Eine Reporterin widersprach ihm ausdrücklich: »Was er den Hintergrund nannte, ist jedoch der Vordergrund, die Tarnung, die Maske, hinter der sich eine gescheiterte Kindheit und Jugend verbergen«.

Private Motive entwerten die politische Überzeugung nicht, vielmehr steigern sie deren Brisanz. Zahllose Berufspolitiker täuschen die Wähler über ihre wahren Motive mit höchst achtbar klingenden Formeln, bis diese sich als Humbug herausstellen.

Den »Irrglauben« an Odin teilt Lemke nicht nur mit anderen Neonazis. Ein Prozessbeobachter der Antifa merkte an: »Esoterische Dummheiten, nicht nur ›völkische‹, sind heutzutage in ganz anderen Bevölkerungskreisen zu finden, wo sich die Leute massiv wehren würden, wenn sie als nicht ›ganz dicht‹ bezeichnet würden.«

Mit Rudolf Steiners Anthroposophie werden Schulen für Gutbetuchte betrieben, und auch wer nicht daran glaubt, dass den Gotteskrieger 72 Jungfrauen im Paradies erwarten, wird damit umgehen müssen, dass diese Überzeugung Hochhäuser sprengen kann.

Die Gründungslegende der Mormonen um Joseph Smith ist lachhaft; ein Gläubiger stand 2012 als Kandidat der Republikaner auf der Schwelle zum White House in Washington. In den USA wie in Europa richten sich Ungezählte nach den Vorschriften des Science-fiction-Autors L. Ron Hubbard. Mit achselzuckendem »Blödsinn« lassen sich die Auswirkungen religiöser Anschauungen nicht aus der Welt schaffen.

»Credo quia absurdum«, sagt der Katholizismus: Ich glaube es, weil es abwegig ist. Mögen die Götter auch aussehen wie im Marvel-Comic aus den 1970ern. So viel seit 9/11 über den Islam als gewalttätiger Religion geredet wird, so unterschätzt ist die neuheidnisch unterfütterte politische Religion des Neonazismus.

Während vor dem Landgericht Essen Thomas Lemke der Prozess gemacht wurde, verübte Kay Diesner »im Auftrag von Odin und Thor« einen Anschlag auf einen Buchhändler in der Landesgeschäftsstelle der PDS in Berlin. Vier Tage später, am 23. Februar 1997, erschoss er auf der Flucht einen Polizisten und verletzte einen zweiten schwer. Mit Lemke verband Diesner auch die HNG, an dessen Mitteilungsblatt er Leserbriefe schrieb.

Anfangs hatte die Staatsanwaltschaft die braunen Verbindungen Lemkes bestätigt. Später, als immer mehr davon zu Tage traten und in den Medien verbreitet wurden, wollte sie nichts mehr davon wissen. Lemke »versuchte mit rechtsradikalen Kreisen in Kontakt zu kommen, seine Versuche wurden aber abgewiesen«, log die Anklagebehörde auf einer Pressekonferenz: »Ab 1993 – nach seiner Haftentlassung – habe Lemke keine Kontakte mehr bekommen. Die Neonazis wollten keine Kontakte zu ihm, sie nannten ihn ›Wirrkopf‹. Seine Mittäter seien unkritische Freunde gewesen.«

Die Kontakte, die Lemke vor seinem Haftantritt hatte, pflegte er mithilfe der HNG weiter und erweiterte sie um die zur NSDAP-AO. Er feierte Hochzeit im Kameradenkreis mit dem Trauzeugen von der FAP. Die Presse spielte bei der Verschleierung mit und schrieb von einem »selbsternannten Neonazi«. Welche Instanz könnte seinen Status beglaubigen? Genügt nicht sein Bekenntnis?

Ob und inwieweit Lemkes Mittäter »unkritisch« waren, dafür hatte die Staatsanwaltschaft nicht mehr vorzubringen als das, wonach sie sich nicht erkundigte. Mittäter Marcel gehörte zu jener Szene, zu der Lemke angeblich keinen Zugang mehr fand; Lemke war es vielmehr, der ihm Eintritt verschaffte.

Dass weder Marcel noch Bianka den Ermittlern ihre neonazistischen Überzeugungen aufdrängten, muss nicht wundern. Diese interessierten sich anscheinend so wenig dafür wie das Gericht bei seinen Befragungen von Zeugen aus dem braunen Milieu. Ein Hinweis darauf, dass Lemke mit Patricia Wright näher bekannt war, als er zugab und Marcel wissen konnte, kam ausgerechnet durch die mürrische Aussage eines Neonazis im Zeugenstand.

Das Gericht hakte nicht nach, wie es um diese Bekanntschaft bestellt sei und wie der Zeuge davon wissen konnte. »Bekanntschaft« des Neonazis mit einer Linken? Dass Patricia jemals einen Anti-Nazi-Button trug, dass sie eine Linke gewesen sei, beruht allein auf Lemkes Angaben.

Man fragte auch nicht, wieso Bianka für Lemke Waffen legal in Österreich beschaffte. Verblendet war sie gewiss, soweit es ihr Liebesverhältnis zu Lemke betraf. Aber davon abgesehen? Lemkes Waffengeschäfte waren ausdrücklich nicht Gegenstand des Prozesses. Aus ihnen hätte sich ein anderes Bild der zur Mordhelferin Genötigten ergeben können.

Ihre Kontaktanzeige, durch die sie Lemke kennen lernte, stand in den HNG-Nachrichten. Die Braune Bande selbst hatte keinen Grund, sich nachdrücklich zum Kameraden Lemke zu bekennen. Ihr konnte es nur recht sein, wenn die Behörden sich blind stellten.

Jedenfalls saßen die Kameraden im Publikum, als dem »Wirrkopf«, den sie angeblich gar nicht kannten, der Prozess gemacht wurde. NPD, FAP, Wiking-Jugend, Nationale Front, Deutsche Alternative, NSDAP-AO, Deutsche Liste – wenige Neonazis verfügen über so zahlreiche Kontakte wie dieser, der gar keine gehabt haben sollte.

Auf verquere Weise reichten sich diejenigen, die meinten, Lemke habe sich als Brauner verkleidet, und die Bande selbst die Hand: »Verfassungsschutz beschäftigt Mörder«, titelte ein Beitrag im rechtsradikalen Thule-Netz und behauptete, auf »Einwirken des Verfassungsschutzes wurde die Vollstreckung des Haftbefehls gegen den Mord-Verdächtigen um zwei Monate hinausgezögert, weil der Verfassungsschutz den Mann noch für seine Zwecke gebrauchen wollte, und in diesen zwei Monaten verübte der Verdächtige noch zwei oder drei weitere Morde. Als er dann doch verhaftet wurde, sprach man von einem ›Mörder aus der rechtsradikalen Szene‹. Tatsächlich hatten alle ›Rechtsradikalen‹ den Mann abgewiesen.«

Nach Lemkes Verhaftung wurde bekannt, dass sich Interpol Washington im November 1995 an die deutschen Behörden gewandt hatte, um einen versuchten Sprengstoffanschlag auf seine Frau aufzuklären. Sharon hatte auch seine Adresse angegeben: das Zimmer von Bianka im Haus ihrer Eltern. Eine heiße Spur zu dem mit Haftbefehl Gesuchten, auch nachdem das Paar ausgezogen und sich ein Haus weiter eingemietet hatte.

Am 18. März 1997 wurde das Urteil verkündet: lebenslänglich für dreifachen Mord, Vergewaltigung und versuchte Vergewaltigung. Die besondere Schwere der Schuld wurde festgestellt. Nach Verbüßung der Strafe sollte Lemke in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht und in Sicherungsverwahrung genommen werden. Bianka W. wurde mit sechs, Marcel M. mit fünf Jahren bestraft.

»Hiermit haben die Juden ihren Willen bekommen«, rief Lemke bei der Urteilsverkündung unter dem Beifall seiner für die Behörden unsichtbaren Gesinnungsgenossen im Publikum.

Quellen und Literatur

Hertener Aktionsbündnis gegen Neofaschismus (Hg.): Neonazistrukturen im Kreis Recklinghausen, 1996; Thomas Lemke, 1996; Der Prozess am Landgericht Essen gegen T. L., 2002 | S. Harbort: Mörderisches Profil, München 2004 | A. Röpke/A. Speit (Hg.): Neonazis in Nadelstreifen, Berlin 2008

Siehe auch: → NS-Oberfläche

ÜBERSICHT Braune Bande. Neonazis in Niederdeutschland

Kriminalgeschichten