Die Verfeindung der Gesellschaft spielt Neonazis in die Karten

Die Auftritte von AfD-Gründer Bernd Lucke an der Hamburger Universität im Oktober 2019

Vor 20 Jahren fing es an. Plötzlich wurden »Nazis« gesichtet. Offiziell heißen sie bis heute Rechtsextreme oder Rechtsradikale. Sie dagegen Nazis zu nennen, verwies immerhin auf die geistige Erbschaft, für die sie mehr oder weniger deutlich selbst erklärt einstanden. Falsch war die Bezeichnung dennoch und eine Verharmlosung der im Namen des Nationalsozialismus verübten Verbrechen.

Welche Verbrechen auch aus den Reihen der Neonazis begangen werden, handelt es sich nicht um solche, wie sie bis 1945 begangen wurden. Und weit überwiegend sind ihre Verfehlungen lediglich »Meinungsverbrechen«. Den Unterschied zwischen tatsächlich verübten und vielleicht erträumten Verbrechen zu verwischen, führt schnurstracks in den Orwellschen Überwachungsstaat, in dem Gedankenverbrechen verfolgt werden.

Für die, die über »Nazis« schimpften, waren diese meist nur Objekte. Sie verwendeten keinen Gedanken daran, wie diese die Bezeichnung als Subjekte aufnehmen würden. »Ich bin kein Faschist, ich bin ein Nationalsozialist«, rief einmal einer in einen Saal und brachte eine weitere Verirrung ins Spiel.

Im persönlichen Umgang beschwerten sich Neonazis bei mir, dass sie als Nazis verleumdet würden und fühlten sich »wie die Juden« verfolgt. Dass Leute, die sich die Verfolgung Missliebiger auf die Fahnen geschrieben haben, dieses Vorgehen gegenüber sich selbst beklagen, ist umso grotesker, als inzwischen klar geworden ist, wie wenig Neonazis in Deutschland verfolgt wurden, selbst wenn sie Straftaten verübt hatten, was allein ihre Verfolgung rechtfertigen würde.

Dass sie hingegen dann und wann für Meinungsverbrechen wie die Leugnung des Holocaust zur Verantwortung gezogen und mit hohen Haftstrafen bedacht wurden, hat, wie inzwischen ebenfalls überdeutlich geworden sein sollte, nichts geholfen. Stattdessen erscheint es, als habe die Verfolgung den Reiz des Verbotenen erhöht. »Das muss man doch mal sagen dürfen« ist der Leitspruch, mit dem nationalsozialistische Anschauungen in Umlauf gebracht werden. Zur Erinnerung: sogar ein Literaturnobelpreisträger (Günter Grass) betitelte seine antisemitischen Anmerkungen mit Was gesagt werden muss.

Wenn damals NPD-Funktionäre und -Anhänger wie heute die der AfD empört von sich weisen, als »Nazis« bezeichnet zu werden, haben sie mein Verständnis, wenn auch nicht für ihre Empörung. Sie sind nicht ihre Vorfahren, sie haben keines der Staatsverbrechen begangen, für die gegenwärtig in Hamburg ein 95-jähriger ehemaliger Wachmann des Lagers Stutthof vor Gericht steht im vielleicht letzten NS-Prozess überhaupt.

Vor 20 Jahren lebten noch viele echte Nazis. Männer vor allem, die gemordet hatten, entweder direkt mit dem Karabiner an der Schulter oder indem sie beim Massenmordbetrieb in einem Lager Hand anlegten. Die Verwechslung mit ihren Nachfahren hätte noch früher korrigiert werden können. Aber daran bestand unter denen, die sich einerseits für ihre »Vergangenheitsbewältigung« lobten und andererseits das, was sie Rechtsextremismus nannten, verschwiegen, verleugneten oder verharmlosten, kein Interesse.

Und so schrien die einen »Nazis« und die anderen redeten von »Rechten«, während diese im Windschatten der Verblendungen immer mächtiger wurden. Bereits vor ihrem Coming-Out während der Flüchtlingskrise 2015 hatte die AfD sich zu einer Neonazi-Partei gewandelt, wurde aber und wird weiterhin nicht als solche bezeichnet, sondern führt einen zum Teil erfolgreichen Abwehrkampf gegen die Identifikation mit dem Erbe, das sie immer ausgesprochener antritt.

Verblendung arbeitet ihr dabei wie gehabt zu. Zuletzt am 16. Oktober 2019 in einem Hörsaal im Hauptgebäude der Universität Hamburg, als der Mitbegründer der AfD als Dozent eine Vorlesung halten wollte. Er wurde durch Rufe zum Schweigen gebracht: »Nazi-Schwein«.

Bis zu seiner Ablösung als Bundessprecher durch Frauke Petry im Sommer 2015 war die AfD gewiss keine Neonazi-Partei. Bei den einschlägigen Äußerungen, die bis dahin bereits von Björn Höcke bekannt geworden waren, handelte es sich um Tonbandmitschnitte von Reden und Sätze aus unter Pseudonym verfassten Schriften. Erst nach Bernd Luckes Austritt aus der Partei etablierte sich der »völkische Flügel«.

Lucke selbst hat sich inzwischen für die Beobachtung seiner Ex-Partei durch den Verfassungsschutz ausgesprochen und deren Fremdenfeindlichkeit kritisiert. Selbst »Neonazi-Schwein« beträfe ihn nicht.

Es kam nicht wirklich darauf an, was gerufen wurde, nur auf das Niederbrüllen. Das erledigten die Studierenden und andere junge Leute. Auch die »Omas gegen Rechts« waren da und spannten Schirme auf statt zu schreien. So sieht der generationsübergreifende Antifaschismus also aus. Ein Einzelner, der sich als leichtes wie medienwirksames Opfer anbietet, und ein Mob, der ihm das Wort abschneidet.

Bernd Lucke kennt vermutlich Carl Schmitt und hätte sich, seinem stoischen Verhalten während der zweistündigen Veranstaltung nach, auf eine Diskussion darüber eingelassen. Doch das wäre etwas gewesen, was sich nicht als Meme auf facebook posten lässt, mit dem im antifaschistischen Sektor meiner Filterblase die Aktion begeistert begrüßt wird.

In Ernst Klees Personenlexikon des Dritten Reichs ist Schmitts Eintrag einer der längsten. Massenmörder können nach ihrem Ableben kein Unheil mehr anrichten, die Denker schon. Nach einer Internierung bis 1947 wirkte Schmitt als »einflussreicher Strippenzieher« bis zu seinem Tod 1985.

Sein Axiom: »Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich politische Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.« Sie reicht bis zur »Ausscheidung oder Vernichtung« der Abweichung. 1934 rechtfertigte Schmitt in Der Führer schützt das Recht die mörderische Ausschaltung von Hitlers Widersachern aus der Sturm-Abteilung durch die Schutzstaffel der NSDAP.

Schmitts Erben in der so genannten »Neuen Rechten« reiben sich die Hände, weil die Forcierung der Lagerbildung die Überlegenheit ihrer Theorie bestätigt und ihre Feinde ihnen in der Praxis folgen. (→ Digitale Lager / → Höcke, Hitler und die Lagerbildung)

An einem Ort der freien Lehre und Forschung jemandem das Wort abzuschneiden ginge allenfalls an, wenn dieser eben der Freiheit des Worts Fesseln anlegen will. Die Politiker Alexander Gauland und Bernd Höcke waren nicht zum Gastvortrag da, nur der Universitätsdozent Lucke. Und wäre er einer, der sich gegen Redefreiheit ausspräche, würde man ihn darin nur bestärken, indem man sie selbst aufgäbe.

Im Oktober 2004 beschwor in Stade ein Flugblatt unter dem Titel »Vorsicht, Menschenjagd!« die »Pogromhetze gegen Andersdenkende« und den »subtilen Terror« gegen »Nationaldemokraten«: »Wie weit ist es dann noch bis zur ›Schutzhaft für Nazis‹? Und zum Zertrümmern der Fensterscheiben von ›Nazis‹ in einer Bundeskristallnacht?«

Anlass war ein Vortrag von mir. Wie die NPD-Mitglieder, die vor dem Saal standen, sehr wohl wussten, enthielt ich mich der Beschimpfungen, die sie von anderen gewohnt waren. Und ich nannte sie nicht »Nazis«. Aber ich war nicht der Veranstalter. Meinetwegen hätten sie in den Saal kommen und sich anhören können, was ich über sie zu sagen hatte.

»Irgendwann werden Ruprecht und Konsorten sich jedoch wünschen, nationalistische Jugendliche würden nur Musik machen!« Die Variation auf eine Liedzeile der als Terror-Propagandisten verbotenen Band Landser (»Eines Tages werden sie sich wünschen, wir würden nur Musik machen«) hat mich nicht eingeschüchtert. Bevor Neonazis mich mundtot hätten machen können, hatten die Veranstalter des Abends es versucht. Nachdem mein Vortrag einen Polizeieinsatz provoziert hatte, gab man mir zu verstehen, mit mir nichts mehr zu tun haben zu wollen. (→ Die NS-Oberfläche)

Im Publikum könnten heutige »Omas gegen Rechts« gewesen sein, aber ich bezweifle es. Diese Gruppierung steht für die Beliebigkeit der Lagerbildung und wie wenig sie mit ausgereiften Überzeugungen zu tun hat. Es handelt sich um gut situierte Leute, die sich bis zu ihrem Ruhestand nicht sonderlich um gesellschaftliche Entwicklungen gekümmert haben, weil sie mit ihrem Fortkommen innerhalb der bestehenden Verhältnisse beschäftigt waren. Durch die Sozialen Netzwerke sind sie nun mit Welten in Berührung gekommen, über die sie die von ihnen bevorzugten Zeitungen nicht oder verzerrt informiert haben.

»Eine Oma konnte sich noch an ihre Kindheit im dritten Reich erinnern und will nun aktiv gegen die AfD kämpfen. Das war schon sehr beeindruckend«, heißt es auf der Website zur Gründung der Stader Ortsgruppe. Was daran beeindruckend sein soll, entzieht sich mir. Vielmehr fragt sich, warum die Oma den Neonazismus so viele Jahrzehnte lang unbekämpft ließ.

Vor einigen Monaten begegnete ich den »Omas gegen Rechts« auf dem Pferdemarkt in Stade. Sie protestierten gegen einen Wahlkampfstand der AfD, indem sie mit Schildern durch die Innere Stadt zogen. Sie fühlten sich gut dabei. Das war die Hauptsache.

Tatsächlich wurde ihre Aktion mitten im samstäglichen Marktgeschehen gestattet, und die Polizei fuhr nicht mit Einsatzfahrzeugen auf. Die »Omas« und andere ähnliche Gruppierungen sehen sich selbst als eine Art Antifa. Sie haben nie an gleicher Stelle gegen einen NPD-Stand demonstriert und die ihretwegen aufgebotene Polizei erlebt und nichts davon in der Lokalzeitung lesen können. Damals waren sie noch nicht im Ruhestand und brauchten kein Hobby.

Meine Begegnung mit den »Omas« war flüchtig, und das war auch besser so. Überzeugungen gibt es im Dutzend billiger, und die der »Omas« sind gerade im Sonderangebot. Antifaschismus! Greifen Sie zu! Sie stehen auf der richtigen Seite, Sie gehören zu den Guten!

Über Ihre Feinde wissen Sie gerade so viel, was Sie Ihren bevorzugten Medien und facebook-Gruppen entnehmen können. Neuerdings. Kommt es Ihnen nicht seltsam vor, dass Sie heute von zurückliegenden Ereignissen lesen, die Sie nicht mitbekommen haben, als Sie mit anderem beschäftigt waren? Denken Sie je darüber nach, wie Ihre eigene Verblendung die der Gesellschaft spiegelt?

Die »Omas gegen Rechts« waren nicht im Hörsaal der Hamburger Uni, weil sie sich um die Freiheit von Lehre und Forschung besorgen, wie man es immerhin für anwesende Studierende unterstellen könnte. Sie waren auf einen Event aus, bei dem sie nichts riskieren.

Ihrer Erfahrung nach ist die Polizei auf ihrer Seite. Sie sind ja keine Linksextremisten, sondern nur Antifa. Zahllose Memes betonen diese Unterscheidung: Wer gegen Nazis ist, muss nicht links sein. Wer links ist und gegen Nazis, muss allerdings weiterhin mit besonderer Beobachtung durch die Polizei rechnen.

Das geht schon alles zu weit und zu sehr ans Eingemachte. So kompliziert möchten die »Omas« ihre Gesellschaft nicht haben. Hier die Guten, da die Bösen, und fertig. Widerstand ja gerne, aber bitte in bürgerlichen behäbigen Bahnen.

Bürgerlich ging es freilich nicht zu im Hamburger Hörsaal. Und erneut wird es komplizierter, als die »Omas« verkraften können. Alle gegen einen: das hätte auch schief gehen können. Was aber, wenn die Gewaltlage nicht so eindeutig ist? Wenn es tatsächlich zu einer Auseinandersetzung kommt, verbal wenigstens?

Es wird nicht dazu kommen, weil die »Omas« und andere bürgerliche »Antifaschisten« gemeinhin in der wirklichen wie der virtuellen Welt unter sich bleiben und keine Gelegenheit haben oder ergreifen, um die Unterschiede zu ergründen zwischen sich und denen, die als Antifa außerhalb geschützter Zonen unterwegs sind, oder ihre Ähnlichkeiten mit den Neonazis, die sich als bürgerlich begreifen.

Die »Omas« finden ein bisschen Aufruhr geil, wenn es gegen Nazis geht. Das ist schick und tut auch nicht weh. Dazu ein bisschen Klimakosmetik, und das Gewissen wird immer reiner. Wehe aber, wenn die von ihrer bürgerlichen Gesellschaft tatsächlich Ausgesonderten rebellieren. Den Protest sollte die Polizei dann schleunigst beenden.

Die AfD ist nicht annähernd so geächtet wie die NPD es einst war. Schuld daran ist unter anderem die Verblendung derer, aus denen sich heute die »Omas« rekrutieren. Falls sie Neonazis bis dahin überhaupt wahrgenommen hatten, handelte es sich für sie um junge Männer mit Glatzen und Springerstiefeln, getreu dem Bild, das Medien und Politik zeichneten. Generation um Generation junger Männer und zunehmend Frauen, die eine Weile im Bild auftauchen und wieder verschwinden.

Es waren nie nur junge Männer, und sie sind nicht verschwunden. Sie sind auch nicht so plötzlich in bürgerlichem Gewand erschienen wie es den »Omas« vorkommt. Auch an den Universitäten nicht. Was sich auch die Studierenden in Hamburg fragen lassen müssen ist, weshalb sie nicht früher gegen Lucke protestiert haben, wenn dieser ein »Nazi-Schwein« sei. War das nicht zu merken, bevor er sich als AfD-Chef beurlauben ließ?

Künstliche Aufregung zur Selbstbefriedigung also. Dass Bernd Lucke nicht einmal als Feind taugt, stellt nur umso deutlicher heraus, dass es um nichts anderes geht, als um Feindbildung und wie willkürlich diese ausfallen kann. In diesem Fall ist die Konfrontation glimpflich verlaufen. Würden die »Omas« noch stolz ihre Fotos von den eigenen Transparenten posten, wenn Lucke körperlich stärker angegriffen worden wäre, als es ohnehin geschehen ist? Und hätten sie sich beeilt, sich davon zu distanzieren und vorgegeben, sie hätten damit gar nichts zu tun?

Sie würden damit ein Gebiet betreten, dass ihnen fremd ist. Jeder Teilnehmer einer antifaschistischen Demonstration muss damit rechnen, von den Behörden in Mithaftung genommen zu werden, wenn es zu Gewalttaten kommt. Wie den Fotos der Veranstaltung zu entnehmen ist, saßen die »Omas« in Logen über dem Getümmel. Sie selbst riskierten nicht viel, falls es im Theater brenzlig werden würde.

Ich bin kein Opa, aber in einem Alter, in dem ich es sein könnte. Ich habe zahllose Stunden in jenem Hörsaal verbracht und hätte mich dort geradezu heimisch gefühlt. Ich wäre natürlich nicht hingegangen, weil es nichts zu protestieren gab. Auch nicht aus Neugier, weil bereits die Ankündigung von Luckes Auftritt den Aufstand absehbar machte und meine pure Anwesenheit diesen unterstützt hätte.

Angenommen aber, es hätte etwas zu protestieren gegeben, hätte ich kein Altersprivileg geltend gemacht. Ich hätte nicht die Jüngeren ins Feld geschickt und vom Hügel aus zugeschaut. Ich wäre weg geblieben oder hätte das Risiko getragen.

Logenplätze gibt es in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen nicht. In ihren Filterblasen mögen die »Omas gegen Rechts« und andere Gruppierungen sich aufgehoben und behütet fühlen. In der Realität weht ein schärferer Wind. Die »Omas« sind stets nur dort anzutreffen, wo nichts anbrennen kann. Erst wenn in ihren Reihen Angehörige der Unterschicht oder Bürger mit Migrationshintergrund mitwirken, wären sie ernst zu nehmen. »Antifa« als »Lions Club« kann kein »Kampf gegen Rechts« sein.

Man müsse an der »Entfeindung der Gesellschaft« arbeiten, befand der auf Rechtsextremismus spezialisierte Politologe Wolfgang Gessenharter bereits vor einem Vierteljahrhundert. Mit der Lagerbildung geht es dagegen auf den Spuren von Carl Schmitt ab ins Vierte Reich.

Tagelang wogt der Streit über die Störung von Luckes Vorlesung hin und her. Die Meinungsfreiheit ist durch die Aktion weder gefährdet noch verteidigt worden. Was immer gegen Lucke als Politiker ins Feld geführt werden kann, betrifft seine Lehrveranstaltung zur Ökonomie nicht. Welche Positionen er darin vertritt, tat erst im Nachhinein zur Sache und war Protestierenden wie den »Omas gegen Rechts« gewiss egal.

Lucke war bereits Geschichte. Die Hamburger Aktion hat ihm ein unverdientes Forum verschafft und lenkt ab von denen, die es anders als er darauf anlegen, die Meinungsfreiheit zu kassieren und ihre Hetze ungestört alle Tage von sich geben. In einem taz-Kommentar wird der Protest gegen Lucke mit der Notwendigkeit gerechtfertigt, gegen Neonazis in Anbetracht von Attentaten wie dem jüngsten in Halle vorzugehen. Luckes Mitverantwortung für die AfD ist nicht zu leugnen, aber ihn als geistigen Brandstifter zu behandeln verharmlost jene, die erst nach seinem Partei-Austritt richtig damit angefangen haben, Feuer zu legen.

Dass er die Geister, die er rief, nicht los wurde und schließlich von ihnen vertrieben wurde: das teilt Lucke mit der Gesellschaft an sich. Ihn zum Schuldigen zu erklären, zum Sündenbock, übersieht die Verantwortung all derer, die einen ebenso gewichtigen Beitrag zum Durchmarsch der AfD geleistet haben: in Parteien, Medien und anderswo.

Unterdessen wird berichtet, dass ein Journalist auf der Frankfurter Buchmesse von der Polizei an der Arbeit gehindert worden sei, weil Götz Kubitschek sich über ihn beschwerte. Der Vorfall ist bezeichnender für die Gefährdungen der Meinungsfreiheit als die Lucke-Story.

Statt in der Vergangenheit des Hochschuldozenten zu wühlen, um ihn irgendwie als »Nazi-Schwein« dastehen zu lassen, sollten viele der Journalisten, die sich neuerdings über Angriffe auf Kollegen beschweren, in Selbstkritik üben. Reporter, die über Neonazis berichten, mussten stets nicht nur mit Angriffen der Beobachteten rechnen, sondern auch mit Behinderungen durch die Polizei. Indes kamen diese in der Presse fast nie vor, weil die Berichterstattung über Neonazis und was mit ihnen vorging die längste Zeit Fachmagazinen mit geringer Auflage überlassen blieb.

Berichte über Polizeieinsätze werden ohnedies meistenteils allein anhand der Angaben der Behörde selbst erstellt und schließen Kritik an deren Arbeit von vornherein aus. Die Redakteure, bei denen Neonazismus heute Konjunktur hat, haben noch vor wenigen Jahren nichts vom rechten Rand hören wollen und kennen das, worüber sie schreiben, vornehmlich nicht aus erster Hand, sondern aus Medienprodukten, die von Leuten mit ähnlichen Scheuklappen erzeugt werden. (→ Zog Sux und das Rowdytum)

Wer über Neonazis schrieb, wurde von diesen wie von den Behörden und der Politik als Linksextremist verdächtigt. Die Neonazis selbst begriffen Berichterstatter als politische Gegner. Wenn sie einen Journalisten tätlich angriffen, konnte es sein, dass das Gericht darin keinen Angriff auf die Pressefreiheit erkannte, sondern den Neonazis darin folgte, dass sie mit dem Reporter eine politische Auseinandersetzung ausgetragen hätten.

Der Großteil der Störer von Luckes Vorlesung waren offenbar Studierende, Leute in ihren Zwanzigern, die gegenwärtig für ihr Verhalten auf breite Zustimmung bei denselben Älteren hoffen können, deren jahrzehntelange Ignoranz des Neonazismus wie der Ablehnung von Protesten dagegen mitgeholfen hat, »Neue Rechte« in die Parlamente zu bringen. (→ Die NS-Oberfläche) Allen Störern unter 40 Jahren kann das »Nazi-Schwein« nachgesehen werden. Älteren steht in der überwiegenden Mehrheit kein lautstarker Protest zu, bevor sie nicht in sich gegangen sind und ihre persönlichen Versäumnisse in der Vergangenheit aufgearbeitet haben.

»Gegen Rechts« ist angesagt, und es wird weiter Events wie in Hamburg geben. Die Schieflagen der Lucke-Story könnten ein Anlass sein, sich über das, was mit »Rechts« gemeint sein soll, genauer zu verständigen, statt nach neuen Gelegenheiten Ausschau zu halten, um Medienereignisse zu produzieren.

Lautstarker Protest vor Kameras kann nicht die Einsprüche und Widersprüche ersetzen, die täglich erhoben werden könnten und nicht nur gegen lizenzierte Ziele wie die AfD, ihr Vor- und Umfeld. In seiner Selbstgefälligkeit verweist der Lucke-Event auf nichts als sich selbst.

Inzwischen hat der Dozent sein erstes Seminar störungsfrei absolviert. Freie Rede heißt nicht, dass immer Kameras mitlaufen müssen. Bei einer öffentlichen Präsentation auf der Buchmesse muss Kubitschek das hinnehmen, Lucke im Hörsaal nicht. Die Publikationswut in den Sozialen Netzwerken, die Privat und Öffentlich neu justiert haben, schafft sich Berechtigungen, wo keine sind.

Die »Omas gegen Rechts« hatten im Hörsaal nichts zu suchen. Dass Universitätsverwaltung und Polizei durch Nicht-Eingreifen zur Deeskalation beigetragen haben, hat den Nachteil, dass die Grenzverletzung nicht klar wurde. Ohne geschützte Räume ist eine wirklich freie Rede unmöglich. Eine Rede, die über spontane Postings und hingeworfene Einfälle im Internet hinausgeht. Die nicht nur Jux und Tollerei ist, sondern mit qualvoller Arbeit verbunden sein kann und vielleicht muss, wenn sie mehr als Geschwätz sein soll.

Nur weil jeder mit dem Handy alles aufnehmen und posten kann, ist nicht alles öffentlich. Indes wirken längst alle daran mit, die Grenzen zu verwischen. Die Polizei, die Fotos von Tatverdächtigen wie Leichen weltweit verbreitet, ebenso wie die Gaffer, die Unfälle oder Terrorattentate filmen.

So verwerflich die Taten waren, hätten Standfotos von U-Bahn-Schubsern zur Fahndung genügt und keine Notwendigkeit bestanden, ganze Sequenzen von Überwachungskameras in Umlauf zu bringen. Es sei denn, um für den verstärkten Einsatz von Kameras im öffentlichen Raum zu werben, weil die User sich Befriedigung für ihre Schaulust davon erhoffen.

Der öffentliche Raum ist virtuell überall. Es genügt eine kritische Masse, um in einen privaten oder durch Konventionen geschützten Raum wie die Universität, ein Gerichtsgebäude, ein Rathaus, ein Museum einzudringen. Es sei denn, man ersetzt die Übereinkünfte und Gepflogenheiten durch handfeste Sperren und Kontrollen, wie sie seit etwa eineinhalb Jahrzehnten an deutschen Gerichten zunehmend zum Einsatz kommen.

Ich war Student an der Universität Hamburg und habe in den vergleichsweise bewegteren 1980ern diesen und jenen Protest erlebt, der um den Campus stattfand oder von dort ausging. Auch gab es lautstarke Auseinandersetzungen in Hörsälen. Aber ich kann mich nicht erinnern und hätte mich darüber ebenso erregt wie heute, wenn irgendwer ohne Bezug zur Universität als Abordnung erschienen und Schilder mit dem eigenen Namen hoch gehalten hätte.

Es wäre nicht vorgekommen, weil keine Kameras da gewesen wären. Weil Mitteilungen über Veranstaltungen kaum über die Kreise hinaus reichten, die sie betrafen. Inzwischen werden selbst Termine der Landgerichte frei zugänglich im Internet veröffentlicht. So demokratisch-transparent das einerseits ist, so riskant scheint es vor dem Hintergrund dessen, was sich im Hamburger Hörsaal zugetragen hat.

Beim Gericht werden Abordnungen an der Tür abgefangen, aber immerhin hat sich etabliert, dort zu demonstrieren. Die Protestierenden machen sich meist nicht die Mühe, den Prozess zu verfolgen, weil sie ohnehin schon Bescheid wissen. Sie posten sich selbst und ihre Schilder auf facebook; wer wissen will, was verhandelt wurde, muss es suchen und findet oft nur wiederum Berichte über den Protest.

Der Prozess hat immerhin dank der Justizwachtmeister störungsfrei stattfinden können; aber das interessiert schon nicht mehr. Luckes Vorlesung ist geplatzt, und allein darauf kommt es an. Worüber genau wollte er noch mal reden?

Vor facebook und twitter hätte kein Hahn danach gekräht, dass er seinen Beruf weiter ausübt. Und wäre er nicht Wissenschaftler sondern Geschäftsmann hätte sich keine leichte Möglichkeit ergeben, ihm öffentlichkeitswirksam in die Parade zu fahren. Die »Omas gegen Rechts« wären zu Hause geblieben.

Auf ihrer Website erwecken sie den falschen Eindruck, mehr als einmal an einem Samstag in der Stader Innenstadt erschienen zu sein. »Die AFD erfreute sich nicht an den OMAS, was wollen wir mehr?« Die Fotostrecke, die sie veröffentlichen, zeigt, dass sie dem AfD-Stand nicht nahe gekommen sind, und von Reaktionen der Partei auf den Protest ist nichts bekannt. Lucke haben sie immerhin gesehen und wurden dabei gesehen. Mehr wollten sie nicht.

Meldung von der Nazi-Abwehr-Front am 22. Oktober 2019: Die Universität will Sicherheitsmaßnahmen für die nächste Vorlesung von Bernd Lucke treffen. Fürs Protokoll: die AfD oder sonstige Neonazis haben zwar den Anstoß gegeben, aber die, die sich als ihre Gegner bezeichnen, hauen willig in dieselbe Kerbe und tun ihr Bestes, um freies Reden zu diskreditieren und durch Gebrüll zu ersetzen.

Zugleich erreicht mich auf facebook eine erneute Aufforderung aus linken Kreisen, nicht mit Rechten zu reden. Nazi-Schwein und Judensau sollen es dabei belassen, einander anzuschreien. Und nun auch an einer Universität unter Polizeischutz. Wie sinnvoll kann es noch sein, mit diesen Linken zu reden?

Mit dem Ruf »Kein Recht auf Nazi-Propaganda!« stürmten mehrere Menschen am 23. Oktober 2019 erneut den Hörsaal, in dem Bernd Lucke, nein, keine Nazi-Propaganda verbreiten, sondern Ökonomie lehren wollte. Die vorgeblichen Verfechter der Meinungsfreiheit haben sich damit erneut als Anhänger dessen zu erkennen geben, was sie zu bekämpfen vorgeben. In den Medien werden sie in AfD-Manier als »Mitglieder der ›Antifaschistischen Aktion‹ (Antifa)« bezeichnet. Die Demonstranten können also für sich verbuchen, den Legenden ihrer Gegner Nahrung und Verbreitung verschafft zu haben. (→ Die Antifa-Verschwörung)

Rassismus ist eine Wirklichkeit, von der die Bürger nichts hören wollen. Am selben 23. Oktober wurde Bernd Lucke im Hort der freien Rede in Deutschland, in einer Talk-Show, mit Äußerungen konfrontiert, die angeblich seine Fremdenfeindlichkeit belegen sollten.

»Dann bilden sie eine Art sozialen Bodensatz – einen Bodensatz, der lebenslang in unseren Sozialsystemen verharrt.« So redete er 2013 über Migranten. Der Journalist Georg Restle dazu: »Ich unterstelle Ihnen, dass Sie sehr genau wissen, was Sie sagen, wenn Sie Menschen als sozialen Bodensatz in einer Demokratie bezeichnen. Da wissen Sie, welche Begriffe Sie verwenden.«

Was für Begriffe? Bodensatz? Luckes Satz ist so weit eine korrekte Beschreibung des sozialen Status eines Großteils, wenn nicht der Mehrheit derer, die vor 2013 als Migranten ins Land gekommen waren. (Gibt es dazu überhaupt verlässliche Daten? Erforschen Soziologen das überhaupt?) Zur Erinnerung: die 2015 ausgerufene »Willkommenskultur« gab es so wenig wie die seitherigen Bemühungen um Flüchtlinge, bei denen nicht gesichert ist, inwieweit sie vor allem aus eitler Selbstbespiegelung bestehen. (Wird das evaluiert oder ist man dabei nicht vielmehr allein auf politische Bekundungen und die eigene Gutgläubigkeit angewiesen?)

Lucke ist nicht verantwortlich für die jahrzehntelange Fremdenfeindlichkeit in CDU/CSU, FDP und SPD. Die Grünen haben in dem Punkt ein reines Gewissen, bei der Linkspartei sieht es gemischt aus. Fremdenfeindlichkeit war institutionell verankert. Schon vergessen? Es waren weder NPD oder AfD, die 1993 eine Änderung des Asylparagrafen im Grundgesetz vornahmen, in der vergeblichen Hoffnung, dass weniger Flüchtlinge ins Land kommen. Und noch früher forderten CDU/CSU dasselbe wie NPD und AfD: Heimreise für Gastarbeiter. Alles nicht mehr wahr: Lucke ist Schuld.

So wenig er für die Ansichten von Höcke und Gauland verantwortlich ist, so wenig haben sich seine Überlegungen 2013 von denen unterschieden, die später vom CSU-Chef angestellt wurden. Welche historische Mitverantwortung Lucke auch immer für die AfD zu tragen hat, ihm eine Beschreibung der tatsächlichen Verhältnisse vorzuwerfen, ist infam. Damit offenbart sich den Kern des Politik- und Medienzirkus um »Rechtsextremismus«: die AfD profitiert von den Versäumnissen der anderen und wird stellvertretend für deren geistigen Bodensatz gegeißelt. So protestieren die »Omas gegen Rechts« gegen Lucke und beschimpfen Haltungen, an denen sie lebenslang nicht nur keinen Anstoß genommen, sondern ihnen schweigend zugestimmt haben.

Statt Luckes Worte für die Taten der politischen Klasse verantwortlich zu machen und die Rassismus-Keule zu schwingen, wäre eine Debatte über das Integrationsversagen der Gesellschaft insgesamt überfällig. Aber das ist zu kompliziert für eine Talk-Show, in der lediglich ein Kasper auf ein Krokodil einprügelt.

Bemerkenswert, wie anders als der Ex-AfDler Lucke Hardcore-Neonazis behandelt werden, nachdem sie sich das Etikett »Aussteiger« verpasst haben. Sie werden in Talk-Shows mit Verständnis überschüttet und von allzu vielen Leuten am Bildschirm wie Helden betrachtet. Neonazis werden dafür in den Himmel gelobt, dass sie keine mehr sind. Ihnen wird alle Schuld vergeben und niemand stellt ihre Bekehrung je in Frage.

Für Lucke gibt es keine Rücksicht. Weil er der Mehrheitsmeinung des Publikums sehr viel näher steht als die NPD-Aussteiger und das Gut-Böse-Schema bei ihm versagt, für dessen Illustration die öffentlich Konvertierten so hervorragend geeignet sind? Also wird Lucke schwärzer angemalt als er ist, damit seine Verteufler keine Ähnlichkeit mit sich mehr erkennen und sich nicht an die eigene Nase fassen müssen.

Die meisten Migranten, die ich kenne, sind »sozialer Bodensatz«, und keine Partei verleiht ihnen im demokratischen Diskurs eine Stimme. Die Migranten, mit denen ein Georg Restle Umgang hat, sind die Handvoll bundesweit, die in Politik und Medien eigene Stimmen haben. In der kleinen Stadt, in der ich lebe, gibt es solche Stimmen nicht. Diese Feststellung ist also schon Neonazismus, Herr Restle?

Wie wäre es damit, dass Sie wenigstens einmal Ihr Raumschiff verlassen und statt mit Universitätsdozenten vor Kameras zu palavern die Realität des Bodensatzes erkunden, den Sie nicht so benannt haben möchten? Ein demokratischer Diskurs, in dem stets nur gegenseitig die eigene moralische Überlegenheit bekräftigt wird, ist keiner. Zur real existierenden Demokratie gehört auch ihr alltägliches Versagen.

Den Hinweis darauf als neonazistisch zu verdächtigen ist gewiss nicht demokratisch. So wie die TV-Journalisten vor Verständnis für NPD-Aussteiger überfließen, kann ich der AfD mein Verständnis nicht völlig versagen, wenn sie den Umgang mit ihr für diffamierend hält. So sehr die Partei in ihrem Flüchtlingshass überzieht, spricht sie auch eine Wirklichkeit an, die von Politik und Medien nur zu gern geleugnet wird, weil sie an das eigene Versagen gemahnt.

Ohne Selbstkritik und mit Klischees statt mit Kenntnissen ausgestattet, allein mit moralischen Imperativen ist der »Kampf gegen Rechts« schon verloren.

Letzte Meldung von der Meinungsfreiheitsabwehrfront: Am 30. Oktober 2019 hielt Bernd Lucke seine Vorlesung unter massivem Polizeischutz zur Abwehr »linker Chaoten« (BILD), die anscheinend fernblieben. Das Risiko war ihnen der Lucke nicht wert.

Wie schon die Male vorher wurde der Zugang zum Hörsaal von einem privaten Sicherheitsdienst kontrolliert. Wenn Universitäten zum neuen Markt für die Security-Branche geworden sein werden, weil die Agora, der Campus oder wie das mal hieß, nurmehr hinter Gittern frei sein soll, werden die Geschichtsschreiber sich bei denen bedanken, die gegen »Nazis« angetreten zu sein behauptet haben.

Siehe auch

Selbst Schuld: die »Omas gegen Rechts«