Beobachtungen eines Fußgängers
Fahrradstadt Hamburg? Dass ich nicht lache. Nach wie vor ist das Automobil das Maß aller Dinge. Daran hat sich nichts geändert, seit ich vor 30 Jahren zuletzt als Exot auf dem Rad in der Stadt unterwegs war. Im Zeichen des Klimawandels wird zwar das Radfahren propagiert. Praktisch bedeutet die Zunahme des Zweiradverkehrs jedoch nur, dass Radler sich in Gefahr bringen, wenn sie in direkte Konfrontation mit dem Autoverkehr geraten und daher die Fußgänger be- und verdrängen.
Den Verteilungskampf erlebe ich täglich vor meiner Haustür auf der Hoheluftchaussee. Die Autos haben so viel Platz wie eh und je. Der Fahrradverkehr ist auf schmale Streifen angewiesen, die früher Gehwege waren. Die Straße ist von Läden und Restaurants gesäumt, die bis zum späten Abend für Passantenverkehr sorgen. Wenn Tische und Stühle oder Werbe-Schilder vor der Tür stehen, reicht der Platz nicht mehr aus, damit zwei Passanten aneinander vorbei kommen. Mithin müssen sie auf den voll besetzten Radweg ausweichen.
„Ohne Verhaltensänderung kein Erfolg“: die Losung des Bund für Umwelt- und Naturschutz BUND für den Umgang mit dem Klimawandel zielt auf den Kulturwandel, ohne den sich die diversen Herausforderungen, nicht nur in Hinblick auf Mobilität, schwerlich bewältigen lassen werden. Die klimaneutralste Form der Fortbewegung ist die ursprüngliche und älteste. Doch so sozial akzeptiert Wandern und Joggen sind, gilt es als exotische Abirrung, sich zu Fuß irgendwohin zu begeben.
Wird die Veränderung der Verkehrsströme in den Städten erörtert, verläuft die Hauptfront zwischen Automobilisten und Radlern. Die Perspektive von Fußgängern wird konsequent missachtet, als seien die Beräderten nicht auch zumindest teilweise Passanten. Dabei geht die rasante Zunahme des Zweiradverkehrs vor allem zu deren Lasten.
Wo keine Radwege vorhanden sind, werden die Gehwege genutzt. Diese werden von den Radlern umstandslos als ihre Strecken reklamiert, auf denen sie sich den Platz frei klingeln. Neue Fahrspuren entstehen überwiegend dadurch, dass der Raum für Fußgänger eingeschränkt wird. Vom Autoverkehr trennt den Gehweg ein Bordstein, der gefährliche Begegnungen verhindert. Die Radspur ist hingegen nur eine Markierung am Boden, die oft nicht als Begrenzung sondern als Vorschlag verstanden wird. Zum Überholen weichen Radfahrer, deren Eile den Autofahrern in nichts nachsteht, selbstverständlich auf den Gehweg aus.


Wenn auf beiden Seiten einer Straße Radwege existieren, gilt ein Rechtsfahrgebot, das gern übersehen wird. Weil die Radspuren meist gerade breit genug für ein Vehikel sind, nutzt der Gegenverkehr den Gehsteig. Die hektische Rücksichtslosigkeit des Autoverkehrs bestimmt längst auch das Verhalten auf zwei Rädern. Eine ständige Klage von Bikern ist, dass Autos keinen ausreichenden Abstand zu ihnen halten, wenn sie die Straße nutzen. Sie selbst verfahren so mit den Passanten.
Eine alltägliche Erfahrung von Fußgängern ist, dass zwar die Autos am Zebrastreifen halten, Radfahrer aber weiter fahren oder er ihnen selbst als Überweg dient. Inzwischen werden vermehrt Lastenräder eingesetzt, für die vorhandene Spuren von vornherein zu schmal sind.
Es ist überfällig, den Stadtraum für den Verkehr neu zu verteilen. Das ist nur möglich, indem den Autos Platz entzogen wird. Ein Mittel, das ohne Baumaßnahmen auskommt, sind Fahrspurmarkierungen auf der Straße. In Stuttgart und München gibt es solche Pop-Up-Radwege bereits. Doch gerade als in Hamburg der erste eingeweiht wurde, untersagte ein Verwaltungsgericht in Berlin die Einrichtung.
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In einer Pressemitteilung des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club ADFC vom 27. November 2020 wird die Sanierung des Radwegs an der Hoheluftchaussee kritisiert.
„Die Hoheluftchaussee ist eine ideale Straße für eine Pop-Up-Bikelane auf der Fahrbahn“, erklärt Bernd Reipschläger vom ADFC. „Dann gäbe es dort eine Spur für den Bus, eine Spur für Autos und eine Spur fürs Rad!“. Und die Fußgänger*innen bekämen endlich den in dieser Einkaufsstraße benötigten Platz.
Stattdessen werde der Radweg an vielen Stellen zulasten des ohnehin schon viel zu schmalen Gehwegs um 20 bis 25 Zentimeter verbreitert. Das Regelmaß für Hamburger Radwege von 2,0 bzw. 2,25 Meter werde dennoch nur auf einem 70 Meter langen Abschnitt erreicht, ansonsten sei der frisch sanierte Radweg lediglich zwischen 1 und 1,50 Meter breit. „Viel zu wenig Platz für die bis zu 8000 Radfahrenden, die täglich auf der Hoheluftchaussee unterwegs sind“, sagt Reipschläger. Einzig die Abgrenzung des Radwegs mit taktilen Leitelementen zum Gehweg hin sei grundsätzlich begrüßenswert.
Reipschlägers Fazit: „Diese Sanierung ist überflüssig und reine Geldverschwendung. Was nützt ein 20 Zentimeter breiterer Radweg, der immer noch nicht die Mindestmaße erreicht, wenn dauernd Fußgänger*innen wegen des viel zu schmalen Gehwegs einander ausweichend drauf längs laufen.“
Der ADFC fordert daher einen sofortigen Baustopp. Die Kosten eines Pop-up-Radwegs auf der Fahrbahn seien wesentlich günstiger als diese völlig unzureichende Alibi-Sanierung. „Es hilft der Mobilitätswende nicht, wenn sich in der Hoheluftchaussee Radfahrer*innen und Fußgänger*innen auf schmalen Wegen drängeln und gegenseitig umlaufen, aber die Autofahrer*innen weiterhin bis zu 80 Prozent Platz der bis zu 38 Meter breiten Straße benutzen können.“
Zentrale Einkaufsstraßen Hamburgs wie die Hoheluftchaussee seien immer noch für Radfahrer*innen höchst unattraktiv, weil der Autoverkehr dort den Straßenraum deutlich dominiere. Auch an vielen anderen mehrspurigen Hauptverkehrsstraßen teilen sich Radfahrer*innen und Fußgänger*innen oftmals nur einen schmalen Weg.

Hamburger Abendblatt, Hamburger Morgenpost und NDR sind dem Chef des Bezirksamts Eimsbüttel auf den Leim gegangen und haben seinen „Verkehrsversuch“ an der U-Bahnstation Hoheluftbrücke mit bunten Bildern lächelnder Menschen propagiert. Drei Phasen von je einer Woche Dauer sind vorgesehen. Phase eins ist heute, am 22. Februar 2021, drei Tage nach dem Start, bereits gescheitert: die gelben Markierungen auf dem Boden sind schon nicht mehr lesbar.
„Fairness-Zone“ stand da, wo Radwege den Gehweg kreuzen und Fußgänger ständig in Gefahr sind, von rasenden Radfahrern angefahren zu werden. In der nächsten Phasen sollen Trennlinien zwischen Rad- und Fußweg gezogen werden. Das wird absehbar nur dazu führen, dass sich die Fußgänger gegenüber den Radwegen wie zu den Autospuren verhalten und warten müssen, bis die Radler sie gnädigerweise passieren lassen.

Gespannt bin ich, wie sich Phase drei, die Installation von Schutzgittern, gestalten soll, ohne die bisherige Radwegeführung zu verändern. Zu den aktuellen Konflikten kommt es schließlich nur deshalb, weil irgendwann Sesselfurzer ohne Kenntnis der Realität auf dem Reißbrett Radwege gezeichnet haben, an deren Verlauf sich niemand halten kann, weil sie nur auf dem Papier plausibel sind. Wenn Radfahrer rechtwinklig abbiegen könnten wie die Wege es bisweilen vorsehen, würden sie es vielleicht auch tun. Stattdessen fahren sie Bögen, bei denen sie die vorgeschriebenen Spuren verlassen müssen und notgedrungen auf den Gehweg geraten.
An einer Stelle vor der U-Bahnstation kreuzt ein Radweg den Gehweg und mündet in einen anderen Radweg. Hier müsste entschieden werden, wessen Wege geschützt werden: die der Radfahrer oder die der Fußgänger, denn ein Schutzgitter müsste entweder die einen oder die anderen aussperren und am Fortkommen hindern. Nach Abschluss dieses Versuchs will man im Bezirksamt dann auswerten und beraten.


Vielleicht wäre man besser beraten gewesen, die Lage vor Ort zu studieren und dann Maßnahmen zu ergreifen. Aber der gegenwärtige Zirkus verschafft Medienaufmerksamkeit, und darauf allein kommt es offenbar an. Denn man kann sich darauf verlassen, dass die Medien nur nachplappern, statt kritisch zu hinterfragen. Dass der Versuch insgesamt ein Windei ist, hätten die genannten Medien schon wissen können, als sie noch bunte Bilder mit lächelnden Menschen dazu verbreiteten. Aber obwohl die Pressefreiheit im Grundgesetz garantiert ist, finden immer mehr Journalisten-Darsteller es zu mühselig, sie auch wahrzunehmen. Ihr Gehalt erhalten sie ja auch, wenn sie nur die Sprechpuppe der Politik spielen.
Unterdessen rollt der Autoverkehr wie gehabt und ungestört und rollt und rollt. Ohne ihn einzuschränken sind alle Maßnahmen zur Veränderung der Verkehrsinfraktur wie die gelben „Fairness“-Markierungen, die nach drei Tagen verblasst sind: in den Wind gepisst.
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Von wegen Fairness. Die nächste Stufe des Feldversuchs zeigt an, wohin die Reise geht. Mit Absperrungen werden für die Radfahrer Rennstrecken geschaffen, auf denen sie noch weniger Rücksicht auf Fußgänger nehmen müssen, und für diese wird der Platz verringert.



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Meine Betrachtungen über die Leiden des Fußgängers in der Großstadt unter besonderer Berücksichtigung der „Fairness-Zone“ an der Hoheluftbrücke in der Zeitschrift der Wohnungsbaugenossenschaft Lehrerbau bei uns 2/2021:


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Juli 2021: Inzwischen erinnert sich niemand mehr an die „Fairness-Zone“, und die Lage ist unverändert: Radfahrer rasen besinnungslos und gefährden sich gegenseitig und die Fußgänger sowieso. Die Fahrspuren werden von den Radlern ignoriert, und die Fußgänger haben keine andere Wahl, als diese ungeordnet zu überqueren. Allein die Automobilisten waren nie zur Fairness aufgefordert worden und können diese nach wie vor nicht beachten. Die Medien, die über den Modellversuch berichtet haben, interessieren sich auch nicht mehr, und das Bezirksamt wird sich hüten, sie darauf aufmerksam zu machen und den einmaligen Selbstdarstellungswerbeeffekt zu schmälern.

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→ Neues Deutschland 21. 12. 2021: „Weil die Konkurrenz zwischen Rad- und Fußverkehr an der U-Bahn-Station Hoheluftbrücke besonders augenfällig ist, wurde dort Anfang des Jahres mit Markierungen und Absperrgittern experimentiert. Die Erinnerung an die proklamierte ‚Fairness-Zone‘ ist inzwischen verblasst, und der entsprechende Schriftzug auf dem Boden war schon nach wenigen Tagen nicht mehr zu sehen. Die Folge: Rad- und Fußverkehr kreuzen sich nach wie vor anarchisch. Nach Angaben des zuständigen Bezirksamts wird es ‚Gespräche mit der Fachbehörde‘ geben, und nicht näher benannte ‚Erkenntnisse‘ sollen ‚in andere Planungen einfließen‘. Außer Spesen also nichts gewesen.“
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Es ist Februar 2022, und das Problem Radverkehr hat sich für Autofahrer wie Fußgänger erheblich verringert: bei Nässe und Kälte sind nurmehr die Hartgesottenen auf zwei Rädern unterwegs. Ich selbst habe mein Rad zuletzt im November 2021 bestiegen. Für mich sind Bus und Bahn eine Alternative. Die Mehrzahl der anderen Radler ist auf das Auto umgestiegen, das sie selbstverständlich nicht abgeschafft haben.

Eine Meldung auf → Radio Hamburg vom 4. Mai 2022 zerstört das Image von Radfahrern als den besseren Menschen und ramponiert ein weiteres Mal den Ruf des Verkehrssenators, der sich dabei überschlägt, sich für seine Radverkehrspolitik selbst zu loben.
„Auf Hamburgs Straßen gab es 2021 insgesamt 3.704 Unfälle mit Radfahrern. […] Erschreckend bei den Zahlen: Größtenteils sind die Radfahrer selbst an den Unfällen schuld. Bei 2.384 Unfällen waren die Radfahrer die Unfallverursacher, also bei 64 Prozent der Unfälle. Das heißt, dass in zwei von drei Fällen die Radfahrer die Schuld für den Unfall tragen und lediglich in 36 Prozent der Unfallfälle selbst das Opfer. Hauptschuldig sind laut der Polizeistatistik demnach 1.943 Radfahrer gewesen, mitschuldig immerhin noch 421 Radler. Insgesamt wurden knapp 10.000 Ordnungswidrigkeiten eingeleitet. […] 258 Mal haben die Radfahrer demnach sogar Fußgänger umgefahren. 147 Menschen wurden dabei leicht verletzt, sieben schwer und eine Person verstarb sogar. An der Situation ändern oder grundlegend verbessern, wird sich wohl erstmal nicht. Der Ausbau des Radwegenetzes kommt weiterhin eher schleppend voran, sodass auf den Straßen und Gehwegen weiterhin gefährliche Situationen an der Tagesordnung sind. Auch verstärkte Kontrollen soll es erst einmal nicht geben. Damit bleibt die Situation wohl für alle Verkehrsteilnehmer an vielen Stellen in der Stadt brandgefährlich.“
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Im November 2022 wird das Ergebnis einer bundesweiten Mobilitätsumfrage vom Bahn-Lobbyverband „Allianz pro Schiene“, dem Naturschutzverband BUND und dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat vorgestellt: Hamburg rangiert auf dem allerletzten Platz. Lediglich 34 Prozent der 2000 Befragten ab 14 Jahren fanden, dass ihnen in der „Fahrradstadt“ hinreichend sichere Radwege zur Verfügung stünden. Bremen kam auf 80 Prozent, Niedersachsen auf 57 und Berlin auf 40 Prozent. 36 Prozent fühlen sich unsicherer als vor fünf Jahren.
Kein Wunder: abgesehen von Schaufensterunternehmungen wie in den Medien abgefeierten hundert Meter langen Radwegen ist das Maß aller Verkehrsdinge nach wie vor der individuelle Automobilverkehr. Einzelne Personen in immer größerer werdenden Fahrzeugen haben Vorrang vor allem anderen. Busse stecken im Stau, weil sie keine eigenen Spuren haben; Radfahrer fahren kreuz und quer zwischen Straße, Radweg und Gehsteig hin und her, weil ihr Fortkommen stets dem Autoverkehr nachgeordnet ist. Und Autofahrer scheren sich nicht um andere Verkehrsteilnehmer, weil sie sich für die Herren der Straße halten. Und so kommen Radfahrer und Fußgänger unter die Räder, während ein dauergrinsender Verkehrssenator allein damit beschäftigt ist, sein Unvermögen mithilfe der Medien, in denen Autofahrer den Ton angeben, zu kaschieren.
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Siehe auch
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