Das Tempo der „Meinungsbildung“ im Web sieht Nachdenken noch weniger vor als es sonst geschieht. Für mich facebook-Neuling war es atemberaubend, wie ansatzlos ein Teil der Gesellschaft blindwütig über den anderen herfiel, als hätten diese die Tat begangen, angestiftet oder wenigstens billigend in Kauf genommen.

Man begriff sich nicht im Traum als Teil desselben sozialen Netzwerks. Das mit dem Monopol war am Abend des 19. streckenweise ein Schlachtfeld.

In New York hatte eine Terror-Organisation „unsere“ Lebensweise attackiert. Und zumindest im ersten Moment erreichten sie, dass „wir“ zu schätzen wussten, was „wir“ hatten. Seither ist allseits die Bereitschaft gestiegen, das aufzugeben, was die Terroristen angreifen.

Ich meine nicht Weihnachtsmärkte, deren Fehlen mich nicht bekümmern würde. Ich denke an die Freiheit, die bei den Bürgern nie so hoch im Kurs stand wie sie sollte. An den Frieden im Inland.

Mit wachsender Lust wird danach geschrien, nicht nur einzelne Gebäude, sondern das ganze gesellschaftliche Gefüge einstürzen zu lassen. Und in der Form, im besinnungslosen Brüllen, ist man bereits mittendrin.

Festtag für Friedensfeinde

Mit der „Terrorbekämpfung“ wurden das Rechtssystem unterhöhlt und die Stimmungen erzeugt, die sich in den Kommentarspalten austoben. Es geht es nicht einmal mehr vordergründig um einzelne Gesetze und Maßnahmen und deren sinnvolle Anwendung. Der Bruchpunkt mit der AfD, die ihre Umfragewerte im Aufwind des Anschlags auf 15 Prozent hochschrauben konnte, ist der Rechtsstaat an sich.

Der 19. war ein Festtag für alle, die von Frieden und Freiheit nichts halten, nichts davon verstehen und nicht damit zu leben bereit sind.

Erst durch sie kommt der Terrorist zu seinem Ziel. Sie schüren die Angst, die er verbreiten möchte. Sie reden sich in eine Rage, die der verwandt ist, die ihn morden ließ. Ihm fielen 12 Menschenleben zum Opfer; sie visieren Millionen an, die sie unter ihr Kuratel stellen möchten.

Verschobene Maßstäbe

Politiker der AfD wählen in Talkshows Worte, die sich ein NPD-Funktionär verkneift, weil er sofort den Staatsanwalt am Hals hätte, ulkte ich vor einer Weile mit einem Polizisten, den Delikte dieser Art dienstlich angehen.

Bald darauf wurde ein NPD-Abgeordneter aus den Reihen der politischen Klasse angezeigt und in der Zeitung seine Verurteilung gefordert, weil er von „Asylbetrügern“ gesprochen hatte. Wie auch der CSU-Vorsitzende – stellte die Staatsanwaltschaft fest, als sie es ablehnte, ein Verfahren anzustrengen und gegen Politik und Medien für die Meinungsfreiheit eintrat.

Die Erosion, über die ich mir keine Illusionen gemacht habe, ist weiter fortgeschritten, als ich ohne Einblick in die Sozialen Netzwerke erkennen konnte. „Asylbetrüger“ ist arg genug; was ich am Abend des 19. las, wiederhole ich nicht einmal in Anführungszeichen.

Hasskultur

Neonazis gehörten zu den ersten, die das Internet für sich entdeckten. Mordaufforderungen konnte man auch 2001 im relativ frischen deutschen Web finden, aber anonym und in geschlossenen Foren, weil zu der Zeit eine Strafverfolgung einzelner Äußerungen noch möglich schien.

Bald darauf war das Thema abgehakt. Sites bei wem auch immer zu melden ist ein Wettlauf zwischen Hase und Igel. Die Zensur durch google führt lediglich dazu, die Quellen der neonazistischen Inhalte, die weiter angezeigt werden, zu verschütten. Die Site selbst erscheint nicht in der Suchliste, ihre Angaben aber sind bei google books zu lesen.

Die Hassprediger, die sich vor 15 Jahren noch vermummten und denen mit Aktionen wie „Gesicht zeigen“ entgegnet wurde, halten heute ihr Gesicht in jede verfügbare Kamera und sind Lieblingsgäste der Talkshows. Sie flüstern nicht in überschaubaren Kreisen, sondern grölen herum, wo immer sie können.

Auf einer Neonazi-Demo, die ich mir im September anschaute, war nicht ein Satz von der Art zu hören, die am 19. die Kommentarspalten fluteten. Man biss sich auf die Zunge, weil die Polizei da. Die kann und sollte nicht überall sein und zuhören können. Sie hätte heute unvergleichlich mehr zu tun als vor 15 Jahren.

Noch hocken sie in Filterblasen und Echokammern und können sich darin hemmungsloser geben als auf der Straße. Wie lange kann es „noch“ heißen?

Schemen der Geschichte

Vergleiche mit dem NS-Regime werden tabuisiert, und wenn sie zur politischen Argumentation eingesetzt werden, fallen sie meist auch widerlich aus.

Das Dritte Reich ist dennoch eine Blaupause dafür, wie sich ein totalitärer Staat bilden und entwickeln kann. Die Vergleichsmöglichkeiten nicht zu nutzen ist im Land der Nachfahren eine verhängnisvollere Verdrängung als in Frankreich, Polen oder der Türkei.

15 bis 25 Prozent werden in den seit den 1980ern angestellten Studien für den Teil der Bevölkerung veranschlagt, der, je nach Betonung, rechtsextrem oder -radikal genannt wird und schlicht nationalsozialistischen Ideen anhängt. Erstmals seit den Höhenflügen der NPD in den 1960ern wird die Quelle von einer Partei allein ausgeschöpft.

Im Visier der namhaften Fanatiker stehen vorerst Flüchtlinge und Muslime. Ihre Anhänger gehen längst auf alle los, die ihre Haltung bedingungslosen Hasses nicht teilen.

Die Jünger des unsäglichen Carl Schmitt, die gar nicht so neuen Neuen Rechten, deren Organ MUT schon Helmut Kohl abonniert hatte, könnten auf facebook das „Freund-Feind-Schema“ studieren, dem sich ihrer Lehre nach alles unterordnet.

Selbstbildnisse

„Gutmenschen“ heißen ihre Feinde. Als „Guhtmenschen“, charakterisierte Bodo Morshäuser einst jene, die meinten, es genüge, durch Lichterketten der Gewaltwelle von 1991 bis 1993 entgegen zu treten – während der Bundestag den Forderungen des Mobs entgegen kam und mit der Verschärfung des Asylparagrafen einen der wenigen Eingriffe ins Grundgesetz vornahm.

Die Heuchelei, die Morshäuser aufs Korn nahm, leistete auch bei der „Willkommenskultur“ 2015 ihren Beitrag. Inzwischen muss man als „Gutmensch“ auf Schlimmeres als Spott gefasst sein.

Die Verachtung für die Lichterkettenglieder betraf die Gefahrlosigkeit ihres Widerstands gegen Neonazis, denen sie sonst tunlichst aus dem Weg gingen und möglichst nicht wahrnahmen. Damals gab es Angriffe auf Flüchtlinge – heute außerdem auf jene, die ihnen beistehen.

Ich war keiner der von Morshäuser Karikierten, bin aber unbedingt ein „Gutmensch“ im Sinne der nach ihrer eigenen Logik bösen Menschen. Was die „Guhtmenschen“ verkannten, war dieser Wille zum Bösen. „Es ist geil, ein Arschloch zu sein“, protzte ein mir gut bekannter Neonazi. „Ich bin viel schlimmer, als alle anderen behaupten.“

Erst Flüchtlinge, dann Muslime. Juden und „Zecken“ sowieso und dann Homosexuelle. Früher oder später kommen „wir“ alle dran.

Fortsetzung folgt

Das Attentat von Berlin macht mir nicht das geringste Bisschen mehr Angst, als ich am Nachmittag des 19. haben musste. Besorgniserregend ist die Unverschämtheit der Hassfratzen, in die ich am späten Abend blickte.

Dem Menschenfeind vom Breitscheidplatz haben sich stehenden Fußes Kohorten zugesellt, die seinen Blutdurst teilen.

Soviel sollten gerade die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt haben, dass die Hetzer nicht von selbst wieder aufhören und sich schließlich jeden vornehmen, der nicht in ihren Chor einstimmen will. Bis am Ende die Gefolgschaft selbst in den Untergang getrieben wird.

Wer der AfD und ihren Konsorten im Namen der Sicherheit erst Recht und dann Macht übergibt, wird vor gar nichts mehr sicher sein.

Meine „muslimischen“ Freunde, deren Religion mir – wie überhaupt jede – herzlich egal ist, muss ich nicht mit gönnerhaften Solidaritätsbekundungen belästigen. Dazu kann sich nur berufen fühlen, wer meint, er stünde auf der sicheren Seite.

Mein facebook-Account könnte sich bewähren, indem ich dadurch höre, wie nah die Einschläge liegen. Fürs Erste habe ich etwas mir überhaupt nicht Selbstverständliches getan und bin unter einem meiner vielen Namen einer Gruppe beigetreten.