DER DICHTER ALS VERBRECHER

Auszüge aus einem Graphic Essay in progress über Georg Büchners Schicksalsjahr 1834, in dem er zum Staatsverbrecher erklärt wurde und ins Exil fliehen musste.

„Eben komme ich von draußen herein. Ein einziger, forthallender Ton aus tausend Lerchenkehlen schlägt durch die brütende Sommerluft, ein schweres Gewölk wandelt über die Erde, der tiefbrausende Wind klingt wie sein melodischer Schritt. Die Frühlingsluft löste mich aus meinem Starrkrampf. Ich erschrak vor mir selbst. Das Gefühl des Gestorbenseins war immer über mir. Alle Menschen machten mir das hippokratische Gesicht, die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs, und wenn dann die ganze Maschinerie zu leiern anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige Orgellied trillern hörte und die Wälzchen und Stiftchen im Orgelkasten hüpfen und drehen sah, – ich verfluchte das Konzert, den Kasten, die Melodie und – ach, wir armen schreienden Musikanten, das Stöhnen auf unsrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolkenritzen dringend und weiter, weiter klingend, wie ein melodischer Hauch in himmlischen Ohren stirbt?“

Das Messer stach in die Brust. Durch Haut und Fett und Fleisch und Muskeln schnitt die Klinge bis auf die Knochen. Ein Spalt klaffte auf, Hände griffen hinein und öffneten ihn über dem Herzen.

„So, meine Haaren!“ Der Professor wandte sich vom Seziertisch ab und dem Publikum zu, während der Prosektor weiter schnitt und die Leiche in fachgerechte Einzelteile zerlegte. „Een Individuum in seen bestn Mannesjahrn licht vor uns. Wer wern sehen, was Se daraus larnen warden.“

24. Mai 1834. „Anatomisches Theater“ der Landesuniversität Ludoviciana des Großherzogtums Hessen. Werktags zwischen elf und zwölf Uhr war Pflichtvorlesung in Anatomie für Medizinstudenten.

Sie übten sich darin, den Leib als Apparatur zu begreifen, in Gedärmen die Gestänge und Räderwerke oder in den Organen die Gebläse zu erkennen: die Drehorgel aus Fleisch und Gebein, auf der die Natur das Lied des Lebens abspielt.

Das Großherzogtum von Hessen und bei Rhein, durch Bonapartes Gnaden geschaffen und auf dem Wiener Kongress neu zugeschnitten, erstreckte sich über ein Viertel des gleichnamigen Landes der gegenwärtigen Bundesrepublik.

Nummer neun nach Stimmrecht auf der Liste von 39 Staaten des Deutschen Bundes, voran Österreich und Preußen, die nur mit Teilen verbündet waren, gefolgt von Königreichen wie Hannover und Sachsen, über Großherzog- und Fürstentümer, die längst vergessen sind, bis zu den Freien Städten Lübeck an der Trave, Hamburg an der Elbe, Bremen an der Weser und Frankfurt am Main.

Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt, umgeben vom Kurfürstentum Hessen, Herzogtum Nassau, Großherzogtum Baden und dem pfälzischen Teil des Königreichs Bayern, ist eine historische Marginalie. Außerhalb von Darmstadt und Gießen erinnert man sich der Großherzöge namens Ludwig, Vater und Sohn, vornehmlich eines Studenten der Ludoviciana wegen.

Die ersten anatomischen Theater entstanden im 16. Jahrhundert in Italien und waren den Amphitheatern nachgebildet. Hier wie dort wurde mit Fleisch gespielt, mit Messern geschnitten oder mit Schwertern, Speeren und Lanzen gestochen.

Der Seziertisch befand sich in der Mitte des Auges, von dem aus sich die Spirale der Stehplätze hinter einem Geländer nach oben wand; unter der Decke baumelte ein Gerippe. In dem „leidlich großen Zimmer“ der Ludoviciana umdrängten die Studenten formlos den Leichnam.

Zwei staubige Stuben enthielten, was nach dem Sezieren und Präparieren übrig blieb: abgekochte Skelette. Die Gebeine hingen hintereinander in Schränken, an Haken entlang der Wände oder auf Gestellen; die Knochen lagen säuberlich in Schubladen oder unterschiedslos geschichtet in Kisten.

Sektionen hatten ihren einstigen Schauwert eingebüßt. In den ursprünglichen anatomischen Theatern delektierten sich die Reichen und Vornehmen an der kunstgerechten Zerlegung der Körper. Die Inszenierung der Macht der Medizin über die Natur machten sich die menschlichen Machthaber zu eigen.

Seit jeher belieferte die Naturwissenschaft auch die Jahrmärkte mit Attraktionen. Zuletzt lockten physikalische und chemische Darbietungen die gebildeten und begüterten Stände in die Akademien, und in den Salons veranstalteten Experimentatoren wie Scharlatane laute und bunte Spiele mit den Naturgesetzen, knallten mit Gasen und färbten Flüssigkeiten.

Sagenhaft wurden die Schaustellungen des Signor Galvani, dessen Apparatur an den ohnedies aufgetischten Froschschenkeln den tierischen Magnetismus demonstrierte. Indem er die Muskeln in Kontakt mit zwei verschiedenen Metallen brachte, ließ der Physiker die Beinchen seiner Puppe zucken und zappeln.

„Ich komme eben aus dem Leichendunst und von der Schädelstätte, wo ich mich täglich wieder einige Stunden selbst kreuzige.“

Anatomieprofessor Johann Bernhard Wilbrand wurde hinter seinem Rücken und über seinen Tod hinaus von seinen Schülern verspottet. Sie imitierten seinen ausländischen Dialekt und die gestelzten Gesten des hageren Mannes.

Wie der Professor erklärte, dass „der Mensk“ zwar noch über die Muskeln verfüge, um die Ohren zu bewegen, sie jedoch, anders als „die Äffken“, nicht mehr einsetzen könne. Wozu er seinen Sohn vortreten und mit den Ohren wackeln ließ.

„So, meine Haaren, wer kommt vor und zeicht mir de Lage von Opticus und Patheticus, von Abducens und Trigeminus? Wer weeß überhaupt, wovon ich rede?“

Verbrecher und Vagabunden, unbekannte Ertrunkene und Menschen, die sich selbstentleibt und damit in christlichem wie juristischen Sinn Selbstmord verübt hatten, wer beim Duell verloren hatte, wer im Zuchthaus gestorben war oder für dessen Begräbnis niemand aufkam – die Armen, Ausgesonderten, Abgeschobenen, Nutzlosen und Überflüssigen standen für eine Sektion zu Studien- und Schauzwecken zur Verfügung. Wenigstens im Tode konnte der Abschaum der Gesellschaft sich nützlich machen.

Ausnahmsweise war das Objekt auf dem Seziertisch nicht namenlos. Der Leinwebergeselle Johann Dieß hatte am 15. August 1830 in der Nähe von Darmstadt seine Geliebte Elisabeth Reuter erstochen. Er war am Vortag im Zuchthaus gestorben und zur Tatzeit 37 Jahre alt.

Jetzt hatte Georg Büchner den Verbrecher unter dem Messer. Alles bringt einander um einander.

Wenn Dieß vom Seziertisch aufstünde, über die Bühne des Darmstädter Hoftheaters wandelte und seine Geschichte erzählte.

Wie die Anatomen aus den Leichen der Ausgesonderten lernten, Erkenntnisse aus Abfall gewannen. Was die Besucher des Hoftheaters von dem Mann aus ihren Kerkern erfahren könnten.

Dieß erstach seine Geliebte. Wurde auf Zurechnungsfähigkeit untersucht und verurteilt.

Inzwischen studierte Büchner in Straßburg und lernte Minna lieben.

Büchners Autopsie in bewegten Bildern auf YouTube:

Siehe auch

Büchners Kopf. Der Dichter als Verbrecher

→ Teil 1
→ Teil 2