Der Dichter als Verbrecher
ZEITTAFEL. Georg Büchner: Leben und Werk
Theatrum anatomicum – Anschauungsmaterial – Wissenschaftsgeschichte – Brautbriefe – Nagel und Zagel – Verschwörung – Verfängliche Papiere – Ach, Peche – Verzeichnete Schriften – Verlesung von Verbrechen – Professors Äffken – Widerstand und Tradition – Bildgeschichten – Originaltreue – Erscheinungsbilder – Schiefe Waage
2. Aufzug: Die Autopsie
Erkenntnis aus Abfall – Ein Individuum – Messerstecher – Wirtschaftsleben – Volkserhebung – Mordgeschichten – Zellentraum – Psychopathologie – Präparation – Papparbeiten – Drehorgel – Fehltritte – Charivari – Metternich und Sand – Sand und Kotzebue – Sturmläufe – Knochen zählen – Frankenstein – In Goldstadt – Lazarus
Erkenntnis aus Abfall
So wenig er das Gerede des Professors beachtete, so genau verfolgte Büchner die Handgriffe des Prosektors und studierte die Einzelteile, die der Bauchhöhle entnommen wurden. Jeder Leib war anders, und so geläufig ihm die Ordnung der Organe war, gab es bei jeder Autopsie etwas Besonderes zu erkennen, trat das abstrakt Vertraute und Gewusste in neuer einzigartiger Gestalt auf.
Die erste Reihe, in der er sonst gestanden hätte, um besser sehen zu können, war von Honoratioren besetzt. Weder wissenschaftliches Erkenntnisinteresse noch Sensationsgier hatte die Gäste hergeführt. Aus Pflicht wohnten Justizamtmänner dem letzten Akt eines Dramas bei.
Das Messer, das der Prosektor in die Brust versenkte, war eine eigentümliche Spiegelung. Der Messerstich in eine Brust hatte den Leichnam auf den Seziertisch gebracht. Jener Stich war der Höhepunkt des Dramas gewesen.
Der Stich in die Brust durch den Prosektor war zwar keine Strafe für den Stich, den der Tote versetzt hatte, aber eine Folge davon. Unter den Augen von Abgesandten der Obrigkeit wurde einem Verbrecher der Bauch geöffnet und der Kopf abgeschnitten. Organe und Eingeweide wurden entnommen, Gewebeteile für die Betrachtung unter dem Mikroskop präpariert. Die Schädeldecke wurde abgehoben und das Gehirn in ein Glas gesteckt.
Verbrecher und Vagabunden; unbekannte Ertrunkene und Menschen, die sich selbst entleibt und damit in christlichem wie juristischem Sinn Selbstmord verübt hatten; wer beim Duell verloren hatte; wer im Zuchthaus gestorben war oder für dessen Begräbnis niemand aufkam – die Armen, die Ausgesonderten und Ausgegrenzten, Abgeschobenen, Nutzlosen und Überflüssigen standen für eine Sektion zu Studien- und Schauzwecken zur Verfügung.
Bewahrte der Bürger sich als soziales Subjekt so weit wie möglich über den Tod hinaus, ließ sich feierlich beisetzen und wies mit einem grabsteinernen Finger die Nachwelt auf sich hin, wurde das Gesindel spätestens mit seinem Ableben zum Gegenstand. Wenigstens konnte der Abschaum der Gesellschaft sich im Tode nützlich machen.
Er sollte es auch im Leben. Unzufrieden damit, was ihnen entging, solange sie nur tote Körper aufschneiden konnten, wollten manche Mediziner mit Menschen anstellen, was ihnen mit Tieren geläufig war. Moralischen Einwänden gegen Vivisektionen von Verbrechern hatte Denis Diderot widersprochen. Der Enzyklopädist und geistige Ahnherr der Französischen Revolution sah die Vernunft auf seiner Seite, insofern die seinerzeitigen Hinrichtungspraktiken ohnehin das Zerstückeln bei lebendigem Leib vorsahen, das Zerschmettern der Knochen und das Herauswinden der Gedärme. Eine Verschwendung von Menschenmaterial, fand Diderot und schlug nicht mehr vor, als die Exekution in den Anatomie-Lehrsaal zu verlegen und die Arbeit der Henker den Professoren zu übergeben.
Den althergebrachten Strafzeremonien hatte die Guillotine den Garaus gemacht. Ein demokratischer Fortschritt. Der Tod durch fremde Hand kam für alle gleich, ob König oder Bettler, Jakobiner oder Girondist, maschinell präzise und schnell, täglich zigfach. Und das Revolutionstribunal gestattete den Wissenschaftlern, wenigstens mit den Köpfen Versuche anzustellen, zu beobachten, ob sie noch blinzelten oder auf Ansprache reagierten, welche Effekte mit Stromstößen erzielt werden könnten.
In deutschen Landen wurde nicht mehr gepfählt und gevierteilt, aber gern noch gerädert. Vornehmlich trennte der Henker den Kopf mit Schwert oder Beil ab, während der Verurteilte auf einem Stuhl saß oder vor einem Richtblock kniete, je nach regionaler Vorliebe, auf einem Hügel außerhalb der Ortschaft neben einem Rabenstein oder auf einem eigens errichteten Schafott mitten in der Stadt. Hernach wurden die Straftäter von der Richtstätte in den Lehrsaal verfrachtet und zu Nutz und Frommen der Studenten zerstückelt.
Vivisektionen waren zwar nicht erlaubt, aber Ernährungsexperimente. Die Ludoviciana tat sich besonders hervor. Professor Justus von Liebig verfütterte Erbsen an Soldaten und untersuchte ihren Harn. Er spekulierte den Körper als chemischen Prozess aus Sauerstoff und Stärke, woraus Energie entstünde, die Kohlendioxid und Wasser freisetzte, während die Muskeln Stickstoff verarbeiteten. Wie Nahrung und Sauerstoff Kraft erzeugten, wollte Professor von Liebig messen an Blut, Schweiß, Tränen und Urin. »Kraft und Stoff«, Grundbegriffe der Epoche, wie sie auch Büchners jüngster Bruder formulierte.
Überdauert hat der Name des Gelehrten Liebig als Geschäftsmann. In deutschen Landen war die chemische Industrie einer der ersten und wichtigen Motoren des wirtschaftlichen Aufschwungs und blieb es über zwei Weltkriege lang, in denen sie von der Vernichtung profitierte, bis in die Gegenwart. Büchners ältester Bruder erwarb sein Vermögen in einem ihrer friedlichen Zweige.
Als die Ranches in Südamerika mehr Rinder aufzogen, als vermarktet werden konnten, und horrende Mengen Fleisch als Abfall vernichtet wurden, sorgte »Liebigs Fleischextrakt« ab 1854 für einen neuen Absatzmarkt und machte den Professor reich und berühmt. Doch nicht die Armen, denen Liebig das Produkt seiner Erfindungskraft als Nahrungsergänzungsmittel zugedacht hatte, konsumierten den Absud, sondern er wurde über Apotheken an bürgerliche Kundschaft verkauft, die sich auch einen Braten leisten konnten.
Die Armen, die kaum einmal an Festtagen Fleisch aßen, waren alle außer Adel, Bürgerschaft und Großbauern. Fleisch war seit Jahrhunderten Luxus. Man hielt Ziegen und magere Kühe. In vielen Gegenden war bis in jene Tage dem gemeinen Volk die Jagd verboten, gehörte das Wild dem Grundherrn. Damit die Herren zum Vergnügen reichlich Wild vorfanden, musste der Bauer erdulden, dass Rehe und Wildschweine sich von seinen Äckern ernährten. Sich zu wehren war untersagt, und erst Recht der Besitz von Waffen, um wilde Tiere zu erlegen, wenn die Obrigkeit nicht hinsah.
War das Elend am größten, in den härtesten Wintern, wenn die Wölfe nichts mehr zu fressen fanden und die Gehöfte umlungerten, hatten die Bauern nur Mistforken und Prügel zur Verteidigung. Als die Revolution erst in Gedanken existierte, bestritt der bandenmäßige Wilddiebstahl tätlich die Vorrechte des Adels. Die massenhafte Auflehnung gegen das Jagdprivileg, aus Not wie aus Prinzip, war der stärkste Vorschein des Umsturzes.
Das gemeine Volk wohnte zu 80 Prozent auf dem Lande. Zumal in Deutschland wird seit dem letzten Krieg und der anschließenden Zeit der Schwarzmarktwirtschaft den Bauern ein Reichtum an Nahrungsmitteln zugeschrieben. Bauern hätten immer gut zu essen, glaubt man.
Zu Liebigs Zeiten war das Gegenteil der Fall. Seine wissenschaftliche Idee der Fleischlösung betraf nicht von ungefähr die Haltbarkeit von Lebensmitteln. Auch die reichsten Bauern verfügten über das meiste Obst und Gemüse nur während der betreffenden Erntezeit. Möglichkeiten der Konservierung waren zwar theoretisch bekannt, aber lange noch nicht verbreitet.
Wer über kein Fleisch verfügte, musste sich über das Einpökeln keine Gedanken machen. Gleichwohl trug die Erhöhung der Salzsteuer in Hessen zu Aufständen bei. Nicht der Verknappung eines Konservierungsmittels wegen wurde protestiert, sondern weil die Armen ihre Hauptspeise kräftig würzten, damit sie nicht nur sättigte, sondern Geschmack bekam. Zur Not, heißt es, rieben sie die Kartoffel an einem von der Decke hängenden Salzhering.
Vorwiegend kam das Essen aus einem Topf. Suppen oder Breie, aus Mehl oder Schrot. Erbsen, Bohnen oder Linsen ließen sich immerhin trocknen. Auch Rüben und Kohl konnten durch das Eingraben nach der Ernte eine Zeitlang bevorratet werden.
Nichts hielt länger als die Kartoffel. Unabhängiger vom Wetter und leichter zu ernten als Getreide war sie Haupt- und Grundnahrungsmittel und das einzige, das blieb, wenn Dürren, Fröste oder Hagel alles andere verdarben. Brot war umso rarer, wo es am Holz für das Backfeuer fehlte.
Nicht nur in Hessen waren die Kartoffelesser das Volk. Ländlich lebte man auch in den Städten, die außer Wien, Berlin und Hamburg höchstens ein paar tausend Einwohner hatten. Jeder Hausbesitzer unterhielt auch einen Obst- und Gemüsegarten, und wer geräumiger als zur Miete wohnen konnte, pachtete Beete außerhalb der Stadtmauern.
Die Landwirtschaft wurde durch Überlegungen des Professors von Liebig revolutioniert. Zwar wusste man um den Zusammenhang zwischen Düngung und Fruchtbarkeit des Bodens, konnte ihn aber nicht erklären. Das tat Liebig 1840 in seinen Studien über »Die organische Chemie in ihrer Anwendung auf Agrikulturchemie und Physiologie«. Er identifizierte nicht nur die Stoffe, die Pflanzen zum Wachsen dem Boden entziehen, sondern verstand sich auch darauf, sie herzustellen. Kunstdünger machte die Landwirtschaft industrialisierbar.
Ein Individuum
Aus der genauen Betrachtung des Niedrigsten, des Abfalls, das Prinzip des Lebens verstehen, aus den Überresten des Umlaufs diesen selbst erkennen, im Bruchstück das Ganze gespiegelt sehen – der Gedanke leuchtete Büchner ein, ganz anders als chemisch und doch ähnlich. Ein unsichtbarer, nicht messbarer, nicht aufschneidbarer Kreislauf, in dem sich das Dasein drehte.
Zufuhr, Umsetzung, Abfuhr. Ein großes Rad, in dem alles umeinander schwang und jeder Punkt von der Mitte gleich weit entfernt war. Aus »Tod, Staub, Asche« und Staub, Sand, Dreck Erkenntnisse gewinnen. Sie taten soeben nichts anderes. Schnitten einen Verbrecher stellvertretend für den Menschen an sich auf.
Ergäbe sich ein anderes Bild, wenn auf den Seziertischen mehr Bürger lägen? Welches feinere Wissen von den Krankheiten ließe sich erlangen, wenn nicht stets nur die Ärmsten und Geschundensten aufgeschnitten würden, sondern ebenso wohl genährte Bürger, deren Nerven ganz anderen Anspannungen ausgesetzt waren? An der fundamentalen Gleichheit bestand kein Zweifel. Und auch die, die sich berechtigt glaubten, am Leichnam des Verbrechers ihre Zergliederungskunst zu üben, bestritten nicht, dass er insoweit ein Mensch war wie sie.

Der Unterschied, den sie machten, der Schnitt zwischen ihnen und ihm verlief nicht in der Natur. Sie dachten ihn sich. Aber er war so unscharf wie der zwischen dem »Mensken«, der mit den Ohren wackeln konnte, und dem »Äffken«.
Über das Sektionsobjekt erfuhren die Studenten nicht mehr, als was sie der Lektion entnehmen konnten. Keine Namen, kein Alter, kein Stand. Die Todesursache mussten sie selbst ermitteln, sofern sie nicht offenkundig war wie bei den vom Wasser aufgedunsenen Ertrunkenen. Wie bei Erhängten, deren Leichenflecke an Füßen und Beinen und die Strangulationsmale am Hals nicht lange rätseln ließen. Wie bei Hingerichteten, die bereits zerteilt auf den Tisch kamen.
Unter den Krankheiten, in deren Erkenntnis die Studenten eingewiesen wurden, kam Leberzirrhose auffällig häufig vor. Seit Morgagnis »De sedibus et causis morborum« von 1751 wusste man, dass Krankheiten in bestimmten Organen siedeln; Baillies »Morbid Anatomy« brachte 1793 den Schrumpfungsprozess erstmals mit Alkohol in Verbindung. Wein und Bier sprachen alle Schichten zu, aber die Ärmsten tranken den billigsten Branntwein und tranken ihn Tag für Tag. Leberzirrhose war ein zureichendes Indiz für die Klasse, der die Sektionsobjekte entstammten.
Neugier auf Stand oder Beruf des Objekts hätte der Professor den Studenten als ungehörig verwiesen. Auf dem Tisch lagen Fleisch und Knochen, ein Haufen Innereien. Da war kein Wesen mit Geschichte zu sehen. Für einen Automaten der Medizin stand die Zeit still. Ausnahmsweise war das Sektionsobjekt diesmal ein Individuum, hatte Namen und Vergangenheit.
Die Präsenz von Beamten aus der Residenz und ihr Anliegen hatten sich vorab verbreitet. Die herrschende Klasse, der alle Anwesenden angehörten, war in Hessen sehr überschaubar. Bis auf einige adlige Herrschaften in ihren Schlössern, hielt sich, wer etwas zu melden hatte oder haben würde, in der Haupt- oder der Universitätsstadt auf. Der eine oder andere Gast im anatomischen Theater war bei Verwandten oder Bekannten eingekehrt, bei denen auch ein Studiosus logierte.
600 der 7200 Einwohner Gießens waren Studenten. Jede Abseite im »Studentendorf« war an Universitätsangehörige vermietet. Je weniger großherzoglich genehmigt in der Zeitung stehen durfte, desto mehr wurde getratscht. Umso ausführlicher wurden alle Vorkommnisse ohne politischen Belang beredet. In der Stadt ohne Theater, in der nur selten Konzerte gegeben und die Lesegesellschaften behördlich beargwöhnt wurden, schwärmten die Bürger zu gegenseitigen Besuchen aus, um in einigermaßen vertraulichem Kreis Dramen und Komödien des engsten Alltags zu verbreiten.
Das Kaffeekränzchen war die Börse der Damen, und die Herren pflegten Wein und Bier nicht zu Hause zu konsumieren, sondern dazu eine Wirtschaft aufzusuchen. Neuankömmlinge mussten Pflichtbesuche noch bei den entferntesten Verwandten absolvieren. Briefe zu übermitteln, Nachrichten, Grüße, Botschaften und Bestellungen, Geschäfte zu vermitteln wurden von Familie und Freunden dem aufgetragen, der sich auf eine Reise begab.
In einem Brief an einen befreundeten Verwandten in Straßburg, der gehörigen Abstand zu hessischen Sitten und Gebräuchen hatte, konnte Büchner über das Antritts-Genüssel und Abschieds-Genüssel spotten, das nach An- und vor Abreisen beim Gießener Familienanhang anstand, mit dem er sonst nicht umging: Meine verwandtschaftlichen Regungen sind damit beseitigt.
Wie die Dungkaktee gehört Genüssel zu seinen Rätselworten. Er hat es nicht erfunden; die Brüder Grimm haben es wohl nur in ihr »Deutsches Wörterbuch« aufgenommen, weil sie es bei Goethe lasen. Es könnte von »nuscheln« abgeleitet sein und »verdrießlich, kritlich [!] sprechen« meinen. Für den Frankfurter Goethe wie für die aus dem Darmstädtischen stammenden Schreiber und Adressaten des Briefes war es heimische Mundart.
Das Genüssel enthielt auch einen kulturellen Ausläufer des umfassenden Kontrollprogramms für die Bewohner des Kleinstaats. Nach Hausväter Art wollte der Großherzog in effigie stets wissen, wo seine Untertanen sich aufhielten, was sie trieben und sprachen. Eine Welt der Geheimkabinette, ein Land wie eine Zwiebel, nichts als Schalen, oder wie ineinandergesteckte Schachteln, in der größten sind nichts als Schachteln und in der kleinsten ist gar nichts.
Am Stadttor musste man sich an- und abmelden, Genehmigungspapiere vorlegen und sich eine Aufenthaltserlaubnis ausfertigen lassen. Bevor der Gast sein Quartier erreichte, hatte ein Eckensteher seine Ankunft dem Nächstbesten vermeldet.
Erledigte und ausgeurteilte Straftaten wurden den Untertanen zwar nicht zur Beurteilung aufgedrängt, wenn die Hinrichtung unterblieb. Aber dass Gerechtigkeit gewaltet hatte und ein gemeiner Mörder gestorben war, dass Herrschaften aus der Residenz seiner Zerstückelung beiwohnten, ließ sich schon halblaut sagen.
Messerstecher
Johann Dieß hieß das Objekt auf dem Seziertisch. Vor knapp vier Jahren hatte der Leinwebergeselle seine Geliebte Elisabeth Reuter erstochen. Ein gewöhnliches Verbrechen, das man bald vergessen und verdrängt hätte. Das vom Gericht binnen kurzem und ohne jedes Aufsehen abgehakt worden wäre. Doch der Verteidiger hatte ein Gutachten über die Zurechnungsfähigkeit des Täters eingefordert. Und der Prozess zog sich hin.
Obwohl pro forma im Geheimen geführt, in Aktenstücken, die zwischen den Kanzleien hin und her geschickt wurden, gingen Gerüchte über das Verfahren um. Indiskretionen eines Gerichtsdieners, Anmerkungen eines Beteiligten im Familien- und Freundeskreis – gar so laut durfte freilich über den Fall Dieß in Hessen nicht geredet wie über zwei gleichartige Morde, die in anderen deutschen Landen verhandelt worden waren. Über die Schuldfähigkeit jener Täter wurde in Zeitschriften gestritten, während man über die Darmstädter Causa nichts Verlässliches erfuhr. Erst zwei Jahre nach der Sektion wurden »Actenstücke und Verhandlungen« in der »Zeitschrift für die Staatsarzneikunde« veröffentlicht, als Büchner bereits an seinem letzten Werk arbeitete.
Auch die beiden anderen, Daniel Schmolling 1817 in Berlin und Johann Christian Woyzeck 1821 in Leipzig, hatten ihre Geliebte erstochen. Wie Dieß waren sie um die 40, heruntergekommen, arbeitslos, Ausgestoßene. Die Debatte, ob sie für ihre Tat voll verantwortlich waren oder ein Anfall von Wahnsinn ihren freien Willen ausgeschaltet hatte und sie straflos stellte, währte ein Jahrzehnt und kam zu keinem Ende. Eine Schuldunfähigkeit war bei Dieß so wenig wie in den beiden anderen diagnostiziert worden. Ganz sicher aber war man sich nicht. Schmolling wurde von seinem König zu lebenslangem Zuchthaus begnadigt, Dieß zu 18 Jahren verurteilt; Woyzeck allerdings wurde hingerichtet.
Rund um den Tatort in der Nachbarschaft der Residenz hatte Dieß jedenfalls Furore gemacht. In jenem Sommer suchten Gymnasiasten aus Schaulust die Stelle auf, an der die Frau erstochen worden war. Wandern war eine Weltanschauung. Die Jugendbewegung drängte es aus den Gefängnissen der Städte in die offene Landschaft.
Die jungen Männer, denen es immerhin erlaubt war, durch die nächste Umgebung zu streifen, sofern sie am Tor einen plausiblen Vorwand geltend machen konnten, hängten ihre Sehnsucht in den Wind. Sie liefen den Wolken nach und schwelgten unter dem Mond. Lasen »Romeo und Julia« unter Buchen und stellen sich Therese Peche vor. An der Blutstätte nahmen die Oberschüler ein schauriges Zwischenmahl ein.
In jenem Sommer dachte Büchner über Heldentod und Freitod nach und studierte die Geschichte von Freiheitskämpfen. »Bon jour, citoyen« war sein Gruß, wenn er die Freunde aus dem Shakespeare-Zirkel im Buchenhain traf. Im Juli kam es in Frankreich zu einer erneuten Revolution.
»La Liberté guidant le peuple« nannte Eugène Delacroix sein Gemälde, das zum Emblem der Geschehnisse wurde. So angenehm schauerlich sollte es gewesen sein, befanden die gut betuchten Bürger, die glücklich überstanden, was andere an den Barrikaden ausgetragen hatten, als sie im Pariser Salon von 1831 an der Leinwand vorbei defilierten, auf der eine Frau mit Jakobinermütze und entblößter Brust, die Trikolore und ein Gewehr in Händen, an ihrer Seite einen Pistolen schwenkenden Gassenjungen, dem bewaffneten Haufen aus Arbeitern und dem Maler selbst im Zylinder mit Gewehr vorausstürmt. Der Weg, den die Freiheit dem Volk weist, führt über Leichen.
Mit 17, bisher weder Künstler noch Politiker, hatte Büchner am 29. September 1830 Gelegenheit, das Wort zu ergreifen. In einem »Redeactus« präsentierte sein Gymnasium das rhetorische Können der Schülerschaft. Eine Leistungsschau der »mündlichen Wohlredenheit«, der Fertigkeiten in Deklamation, Gestikulation und Aktion, zur Unterhaltung von Angehörigen des Magistrats, von Lehrern und Eltern aufgeführt, bei der Büchner zum zweiten Mal auftrat.
Im Vorjahr hatte er über den Helden-Tod der vierhundert Pforzheimer vorgetragen, diesmal war die Verteidigung des Kato von Utika das Sujet, an dem er ein Gedankengebilde nach den Grundsätzen der Beredsamkeit zurichtete, das vollständige stilistische Instrumentarium anwandte und in gefälliger Weise althergebrachte Formeln variierte. »Der Beifall ist groß«, der ihm gespendet wurde, stellte ein Historiker fest.
Als Büchner vor das Auditorium trat, war die Julirevolution schon Geschichte – soweit sie das Volk betraf. Zwar war der absolutistische Karl X. verjagt worden. Seine Stelle übernahm jedoch keine barbusige La Liberté, sondern ein »Bürgerkönig«. Louis-Philippe, in den Zeitungen als »Birne« karikiert, als Spießer im Gehrock mit Regenschirm: das Urbild des repräsentativen Monarchen, der nichts zu sagen, aber alles zu unterschreiben hat.
Die Finanzaristokratie hatte den abgewirtschafteten Erbadel abgelöst und zog fürderhin die Fäden in der konstitutionellen Republik. Das vornehmste Ziel der Bankiers und Beamten, zu denen sich die ersten Großindustriellen gesellten, war die Mehrung des eigenen Wohlstands und der Absicherung ihrer Klasse. Der dritte Stand der Bürger hatte sich vorgedrängt und den Adel an der Spitze abzulösen begonnen. Für den vierten Stand, die Mehrheit, die Masse des Volks, änderte der Sturmlauf der Freiheit nur die Namen ihrer Ausbeuter. Die Tyrannei blieb sich gleich. Und der Bürgerkönig kaufte Delacroix die Liberté ab.
Einleitung, Erzählung, Beweisführung, Widerlegung der Gegner, Schluss – so lauteten die klassischen fünf Takte der Gerichtsrede, die Büchner hielt. Dass in der Gegenwart eine Tyrannei sei wie zu Cäsars Zeiten, soll er darin insinuiert haben. Und mehr noch haben die Exegeten herausgelesen. In verschleierter Form, tief verborgen in den vorschriftsmäßig gewunden Sätzen, habe Büchner in der Schulveranstaltung einiges von dem gesagt, was sich anderweitig von ihm lesen lässt und ihm unterstellt werden kann.
Cato, nachdem er das Volk vergeblich zu Aufstand gegen den Tyrannen aufgerufen hat, stach sich selbst den Dolch in die Brust – statt in Unfreiheit zu leben. Ein Mann, der es wagt einzugreifen in den Gang der Weltgeschichte. Wie Büchner es sich für sich selbst vorgestellt haben könnte.
Solche Männer waren es, rief er in die Aula, welche, wenn die ganze Welt feige ihren Nacken dem mächtig über sie hinrollenden Zeitrade beugte, kühn in die Speichen desselben griffen, und es entweder in seinem Umschwunge mit gewaltiger Hand zurückschnellten, oder von seinem Gewichte zermalmt einen rühmlichen Tod fanden, d. h. sich mit dem Reste des Lebens Unsterblichkeit erkauften.
Großer Beifall. War den Magistratsbeamten, solchen wie seinem Vater, die Botschaft aus der Zeit, die Büchner angeblich zu vermitteln versuchte, unter den gedrechselten Phrasen entgangen? Später, als er auf kriminelle Weise das Wort ergriff, hielt er sich nicht mit Verkleidungen und Verstellungen auf.
Ein in den Gesetzen der Rhetorik nicht nur wenig bewanderter Leser, sondern einer, der nie eine Redekunstveranstaltung als gesellschaftlichem Anlass erlebt hat, wird kaum durchschauen können, wo durch den Schleier eine revolutionäre Haltung hätte durchscheinen können. In seinem Schicksalsjahr schrieb Büchner an die Familie, also gleichermaßen wie für ein Publikum: ich schämte mich, ein Knecht mit Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staatsdiener-Aristokratismus zu Gefallen. Man mag Catos Devise »lieber den Dolch in die Brust als in Unfreiheit leben« mitlesen.
Von dem Brief sind nur zwei Sätze überliefert. Alles Weitere, etwaige Bekenntnisse in diesem Zusammenhang, die sein soeben abgeschlossenes Manuskript betrafen, seine ungeschminkte Rede an das Volk, enthielt die Familie der Nachwelt vor. Ich war im Äußeren ruhig, doch war ich in tiefe Schwermut verfallen; dabei engten mich die politischen Verhältnisse ein, ich schämte mich, ein Knecht mit Knechten zu sein, einem vermoderten Fürstengeschlecht und einem kriechenden Staatsdiener-Aristokratismus zu Gefallen. Ich komme nach Gießen in die niedrigste Verhältnisse, Kummer und Widerwillen machen mich krank.
Die Schülerhymne auf den Weltmann war hinlänglich abstrakt, um Cato so gut wie Cäsar oder Napoleon zu betreffen. Bonaparte, den sein Vater bewunderte. Umso mehr für seine Rückkehr aus der ersten Verbannung für 100 Tage, die einer Selbstaufopferung nahe kam. Der Rektor wäre dem Jüngling ins Wort gefallen, bevor er einen noch so tief in Ironie verborgenen Aufruf zum Aufruhr geduldet hätte.
Das Sujet, Catos Dolchstich, war alles andere als originell und gehörte zum Kanon. Wie das vorjährige Thema aus dem Dreißigjährigen Krieg, über die Selbstaufopferung der Bürger von Pforzheim, die nach Büchners Zeit als Legende erwiesen wurde. Sie bedachte er mit denselben Formeln wie Cato. Eine Wiederaufführung des bewährten Orgellieds mit anderen Namen in den Sätzen.
Große schwere Worte über die Freiheit zu römischen Zeiten in den Saal zu werfen, war alles andere als anstößig als vielmehr angesagt. Dass man sich selbst täglich für ein höheres Wohl aufopfere, mochte sich mehr als einer im Publikum dazu eingebildet und sich durch Catos Pathos so angesprochen haben gefühlt wie der Redner sich selbst gemeint haben könnte.
Die Beschwörung von Erhabenheit rührte an große Gefühle, solange sie dauerte. Antike Idealgestalten im Ringen mit ihrem Schicksal standen als Nippes auf den Borden in den Stuben der Zuhörer. Statt in der Aula des Gymnasiums Büchners Rede zu lauschen, hätten sie im abendlichen Kerzenschein Schwabs Götter- und Heldensagen gelesen.
Das Schülertheater enthob sie dem Alltag, solange es dauerte und sofern es ansprechend vorgetragen wurde. Die Emphase, mit der Büchner die Sätze vortrug, gehörte zum Spiel. Man glaubte wohl bald zu sehen, wie er sich in effigie den Dolch ins Herz bohrte als billige er Catos Handeln nicht nur in Worten vollständig.
Für die Ehre sterben, das erschien auch seinem Vater richtig. Der damals 44-Jährige wusste wohl, dass sein Junge kein begnadeter Schauspieler war, sondern es ernst meinte. Diese Leidenschaft im rechten Kanal würde einen prächtigen Menschenretter abgeben und die Familientradition krönen.
Wirtschaftsleben
»Der Beifall ist groß«. Hätte er in dem vollem Ernst gesprochen, den die gütige Nachwelt dem Genie zuschreibt, war es dem Publikum vollständig entgangen. »Bezüglich des tieferen Inhalts dieser Rede« waren die Zuhörer »gleichgültig«, bedauerte seine Schwester Louise in ihren Aufzeichnungen. Sie war neun, und wenn sie überhaupt dabei war, dürfte sie etwaige Anzüglichkeiten kaum verstanden haben.
Schämen hätte ihr Bruder sich sollen, als Knecht mit Knechten, den Applaus abwehren, wo er Empörung hätte ernten wollen, mürrisch den Saal verlassen, um nachher die Vorhaltungen des Vaters anzuhören. Was der Redner ernst gemeint haben könnte, blieb hinter der rhetorischen Maske verborgen und kam allenfalls als emotionaler Mehrwert der Darbietung zugute.
Vier Jahre später, in der anderen sorgfältig kalkulierten Rede, für die er statt bürgerlichen Beifalls oder Buhrufen, die Verachtung seines Vaters und den Zorn des Gymnasialdirektors oder Laufbahneinschnitten durch den Unmut eines anwesenden Ratsherrn Gefängnis erwarten konnte, hieß es ohne Umschweife: denkt an Södel! Mit Cato konnte er seinen potenziellen Lesern nicht kommen. Griechische Antike, römische Kaiser waren ihnen böhmische Dörfer.
Södel war ein Dorf, das ihnen für ein Blutbad stand, das sich zwei Abende nach Büchners Cato-Vorspiel ereignete. Während er letzte Hand an sein Manuskript legte und die Julirevolution reflektierte, während er sich als Cato vor dem Spiegel übte, der das Volk vergeblich zum Widerstand aufforderte – war das Volk im Großherzogtum ohne sonderliche Aufrufe in Aufruhr geraten und stand buchstäblich vor der Tür. Während Büchner sich daheim auf seinen Auftritt einstimmte, bereitete sich im Schloss der Großherzog auf alle Eventualitäten vor: zu fliehen oder das Militär aufmarschieren zu lassen.
Der Kluft zwischen den beiden Landesteilen, die durch einen schmalen Korridor Ausland bei der Freien Reichsstadt Frankfurt getrennt wurden, entsprach ein Wohlstandsgefälle. Leistete sich die Residenzstadt für ihre 20.000 Einwohner ein protziges Theater mit 2000 Plätzen, ergötzten sich die Vornehmen abends an Terese Peche oder der Redekunst erstklassiger Jünglinge, wälzte man sich in den Gegenden Vogelsberg und Biedenkopf, den rückständigsten der deutschen Lande, hungernd durch die Nacht.
Der karge Boden gab schon in guten Zeiten wenig her. Immerzu war man nur eine Missernte von der Katastrophe entfernt. Statt Lebensmittelbeihilfe verordnete Darmstadt eine Steuererhöhung, die die Not noch verschärfte. Außer dem fernen Großherzog regierte zwischen Alsfeld und Büdingen der jeweilige Feudalherr und plagte mit Sonderrechten. Wenn nicht an himmelschreiender Hungersnot starben die Menschen an Auspressung und Auszehrung früher als anderswo.
Bauernbefreiung stand auf dem Papier, war aber an die »Ablösung« der althergebrachten Pflichten gebunden. Wer sich nicht durch Landabtretung oder Geld freisetzen konnte, arbeitete statt als Leibeigener weiterhin auf dem Gut des Herrn, um die Befreiung abzugelten. Land war nicht unbegrenzt teilbar, Geld schon; Wucherer streckten die Ablösesummen vor. In einigen Regionen entwickelte sich ein Bankwesen, das erstmals massenweise Geldgeschäfte des gemeinen Volks abwickelte.
Für die Besitzlosen, Knechte und Tagelöhner, Mägde und Erntehelferinnen, änderte sich nichts zum Besseren. Abrupte Lösungen der Kette ließen ins Elend abstürzen. Im Sinne der Gewerbefreiheit war der Zunftzwang für Handwerker aufgehoben worden. Alle bisherigen Rechte und Pflichten waren hinfällig und das soziale Netzwerk zerschnitten, das zahllosen Gesellen das notdürftigste Überleben gesichert hatte. Über ihre Lehrjahre auf der Walz hinaus strichen Scharen verarmter Handwerker wie Tagelöhner auf verzweifelter Suche nach einem Auskommen durch die Lande.
Allenthalben waren die Wirtschaftsstrukturen im Umbruch. Ab 1835 würde die Eisenbahn die nächste und endgültige Phase der Industrialisierung einleiten. Das Großherzogtum war weit abgehängt und davon entfernt, das zerschundene und zerschlagene Alte zu ersetzen. Unlängst erst war der einzige Zweig des Manufakturwesens, der sich bis dahin entwickelt hatte, zugrunde gegangen und mit ihm die ganze Region, die von der Textilherstellung lebte. Die aberwitzigen Zollverhältnisse in deutschen Landen, bei denen ein Kleinstaat den anderen schröpfte und behinderte, zerstörten die Branche. Die Flussläufe waren als Wirtschaftswege in Hessen nachrangig, und der desolate Zustand der Straßen beschränkte einigermaßen erfolgreichen Handel auf wenige Stellen wie Gießen, dem die Nähe zu den bedeutenden Handelsplätzen Frankfurt und Kassel nutzte.
Je übler es den Armen ging, desto mehr wurden sie von den Behörden gepeinigt. Zuletzt war bei der »Stempelpapier-Taxe« der Knebel enger geschnürt worden. Jeder Umgang mit den Behörden, ob gesucht oder von diesen verordnet, wurde mit Gebühren belegt. Unerschwinglich für die Menschen in Vogelsberg und Biedenkopf, die kaum eine Kartoffel und selten Münzen in der Hand hatten.
Forderten sie gar etwas, reklamierten sie ein verbrieftes Recht, bauten die Behörden weitere Hürden. Die Aufwendungen der Schuldeneintreiber, der Zwangsvollstrecker und Gerichtsvollzieher, überstiegen leicht die ausstehende Schuld, die ein ohnehin Minderbemittelter geltend machen konnte. In der Empörung über die Gebühren und behördlichen Behinderungen ihrer Geschäfte waren die Bürger mit den Bauern sogar einig. Aber eine Steuererhöhung brachte kaum einen Kaufmann sofort an den Bettelstab.
Die Justiz ist in Deutschland seit Jahrhunderten die Hure der deutschen Fürsten, kommentierte Büchner in seiner hochverräterischen Rede ganz ohne katonische Umwege die Zustände an jenem Abend, als er davon nicht offen reden konnte oder wollte. Nicht konnte, weil ihm die Erkenntnisse fehlten.
Von Vogelsberg oder Biedenkopf mochte er wohl gehört haben, aber nichts belegt, dass er mehr oder auch nur annähernd so viel darüber wusste oder wissen konnte wie ein nachgeborener Historiker etwa in Erfahrung bringen kann – bis Büchner nach Gießen kam. Dort begegnete er einem Biedenkopfer. Von dem er vielleicht nicht zum allerersten Mal aus erster Hand, aber in ausführlichster Form von den Verhältnissen unter den wahrhaft Armen seines Vaterlands gehört haben würde.
Die Nachrichten, die Büchner am Abend des Redeactus haben konnte, waren bruchstückhaft. Verlässliches Wissen zu erlangen war auch später aufwändig, wenn nicht unmöglich. Was hätte schon als verlässliche Quelle gelten können? Gerüchte eines Gendarmen oder Gerichtsdieners? Äußerungen eines Hofrats, die von einem Anwesenden verbreitet oder von einer Bediensteten belauscht wurden? Ein Bericht in einer verbotenen Zeitung? Wer würde – außer dem Justizministerium – Nachforschungen betreiben oder davon hören?
Vieles, auch wenn es in aller Öffentlichkeit verhandelt wird, bleibt den Zeitgenossen unklar an Stellen, über die kein Historiker ein Wort verlieren würde. Anderes kann erst historisch geklärt werden, weil niemand außer etwa einer beteiligten Behörde einen annähernden Überblick über die Geschehnisse gewonnen haben kann.
Die Bedeutung von Nachrichtenwegen und -mitteln ist relativ. Auch wo eine Kamera dabei ist, ist nicht die ganze Wirklichkeit. Wer nur Bilder sieht und Worte hört oder liest, ist dennoch nicht da. Selbst wer da ist, kann nicht alles gesehen haben und sieht mitunter weniger als der, der nicht da war und nur Bilder kennt.
Man weiß nicht, wo Büchners späterer Gewährsmann sich aufhielt in jenen Tagen. Wovon er Augenzeuge wurde, was er selbst auf seinen allerdings mehrfach belegten Wanderungen durch seine Heimat weiterhin in Erfahrung brachte und seinerseits anderen vermittelte. Nach allem, was er Anfang 1834 wissen konnte, begnügte Büchner sich mit einem lapidaren denkt an Södel!, um seinen Lesern alles gesagt zu haben. Eure Brüder, eure Kinder waren dort Brüder- und Vatermörder, setzte er noch hinzu, um den Absatz über die finanziellen Aufwendungen des Staats für das Militär abzurunden.
Volkserhebung
Der Aufstand, der in Büdingen, diesseits der Grenze des Großherzogtums zum Kurfürstentum Hessen ausbrach, soll die größte ländliche Revolte seit Jahrhunderten gewesen sein, seit den Bauernkriegen. Dahingestellt, wie wahr eine solche Aussage sein kann, nach allem, was man wissen kann, handelte es sich jedenfalls um ein extrem seltenes Ereignis.
Ein Volksaufstand ohne identifizierbare Führer. Kein einzelner Name, keiner von denen, die von ihrem Tun schriftlich Zeugnis ablegen, verbindet sich damit. Kein Luther oder Melanchthon, kein Büchner. Nur Büchners wegen scheint Büdingen nicht ganz vergessen.
Der war anderweitig beschäftigt und durch seine Jugend entschuldigt. Mancher seiner späteren Mitverschwörer, der Stellung beziehen konnte und musste, stand auf der Gegenseite, rüstete zur Gegenwehr oder rief nach dem Militär. Vielen derer, die ihre Namen verewigten, war unheimlich, was die Namenlosen aufrührten.
Die Büdinger stammten aus den Reihen derer, die in der gemeinen Geschichtsschreibung nur als Masse auftreten. Mehr als ihren Namen in einem Kirchenbuch, in einer Auflistung des Gesindes zu Steuerzwecken, findet sich meist nur im Fall ihrer Verwicklung in Strafverfahren, wobei persönliche Verhältnisse, Charakterbilder, Verhaltensweisen und eigene Worte in Betracht kommen.
Über eine Ehefrau und frühere Magd erfährt man am meisten, wenn sie ihren Gatten ermordet; und einiges vom Soldatenstand durch den Sohn, der als Liebhaber seiner Stiefmutter dabei mitmacht. Wenn ein Leinwebergeselle als historische Person auftritt, dann seltener, weil aus ihm ein Revolutionär wurde, sondern weil er seine Geliebte erstach.
Wie die Büdinger Revolte losbrach, könnte Büchner von seinem Gewährsmann in Gießen im Einzelnen erfahren, könnte die Szene für sich rekonstruiert haben. Etwas davon könnte versteckt sein in dem, was er in seinen Bilanzen schrieb, in den Volksszenen seines ersten Theaterstücks: Gebt mir ein Messer, Römer! … Ein Messer für die Leute, die das Fleisch unserer Weiber und Töchter kaufen! … Totgeschlagen, wer lesen und schreiben kann! Totgeschlagen, wer auswärts geht! … Es gibt hier keine Herren! An die Laterne! Die da liegen in der Erden …
Der Aufstand kam ohne viel Worte aus. Ohne Ankündigung in Schriften, vielleicht ohne sonderliche Hetzreden. Ohne einen Volkstribun. Eine Zusammenballung von Unmut. Irgendwo im Wald. Der Aufruhr entzündete sich an den Forstrechten des Grafen von Ysenburg-Büdingen.
Seinen Untertanen reichte es. Hatte er, wie es ihm zustand, einen Holzdiebstahl vor seinen eigenen Richterstuhl gebracht und zur Abschreckung ausnehmend hart bestraft? Wandernde Handwerker oder solche wie Büchners Gewährsmann schwärmten von der Revolution im fernen Paris; ein Schulmeister ließ sich Zeitungen kommen und las daraus vor …
Ein Haufen bildete sich, der auf seinem Marsch wuchs, wahrscheinlich ohne sonderliche Reden. Drei Sätze an die Umstehenden genügten, über den auslösenden Tatbestand, mit dem der Graf das Maß überschritten hatte, und der Ruf »zum Schloss«. Der Herrensitz wurde eingenommen. Man begnügte sich damit, den Graf zu nötigen, Papiere auszufertigen. Danach war er offenbar weitgehend unbeschädigt.
Sie wollten noch länger einen Spaß damit haben, dass der Herr nach ihrer Pfeife tanzte – ganz vorne beim Triumphzug. Der Bann brach. 5000 bis 6000 Personen, so genau man es wissen kann, verbreiteten sich in Abteilungen von hunderten über das Land. Bewaffnet zunächst mit Prügeln, Heu- und Mistgabeln, erbeuteten sie Säbel und Pistolen. Dass die Waffen anders als zur Drohung eingesetzt wurden, ist nicht überliefert.
Der Aufruhr erfasste alle, es war ein Sturmlauf so gut wie ein Volksfest. Musikkapellen begleiteten die Züge, Richtung Wetterau und nach dem Vogelsberg, nach Gießen. Kein Blutvergießen bis dahin. Nur der Andrang entschlossener Menge auf die plötzlich vollkommen vereinzelten Statthalter der Macht.
»Soll jemals die Revolution auf eine durchgreifende Art ausgeführt werden«, spekulierte Büchner einmal, in den Worten eines Mitverschwörers, »so kann und darf das bloß durch die große Masse des Volks geschehen, durch deren Überzahl und Gewicht die Soldaten gleichsam erdrückt werden müssen.« Für den Auftakt des Aufstands galt dieses Szenario.
Die Herrschaften waren von ihren Untertanen verlassen, und was später Polizei geheißen wird, existierte praktisch nicht. Die Obrigkeit vor Ort repräsentierte in größeren Gemeinden ein Beamter, der vornehmlich als Steuereintreiber unterwegs war. Die über das Land verstreuten Posten der Gendarmerie waren ihrerseits vornehmlich als Zollkassierer beschäftigt.
Über Hessen-Darmstadt wird Genaueres nicht mehr zu erfahren sein. Gemessen an dem, was man aus anderen, entwickelteren Regionen wissen kann, waren die Ketten der Bürokratie zwar allumfassend, aber nur in effigie straff gespannt. Welten lagen zwischen der Residenz, einem Handelszentrum wie Gießen oder einer Ortschaft, die immerhin einen Amtssitz beherbergte, und einem verlorenen Dorf in einem Hungergebiet, wo die Beamtenstellen zur Strafe oder zur Bewährung besetzt wurden.
Das Machtmittel der Herrschaft bestand weniger in handgreiflichen Mitteln als im Beharrungsvermögen der Untertanen. Die Tradition, das Brauchtum bildeten eine engere Kette als förmliche Gesetzesvorschriften und Zwangsmaßnahmen. Mit dem Althergebrachten und Unbildung wurden die Massen nachhaltiger manipuliert als mit Gewalt.
Der erste kritische Punkt war leicht überschritten. Ein Graf, dessen wehrfähigste Männer seine Förster waren; ein Vogt, der vielleicht gerade mal einen Gehilfen hatte – sie wegzudrängen beseitigte die sichtbare Staatsmacht. Entsprechend rasch verbreitete sich der Aufstand.
Auf Militärposten und -patrouillen stießen die Aufständischen lange nicht. In über 50 Ortschaften wurden die Amtsstuben und amtlich genutzten Privatwohnungen der Beamten geplündert. Die Papiere wurden verbrannt. Als Niedergeschriebenes erlebten die in der Mehrzahl analphabetischen Aufständischen die Entrechtung in erster Linie, als Tintentransport in ein unbekanntes Reich.
Und das Mobiliar wurde zertrümmert, die Schreibtische und die Stühle, auf denen man gequält wurde oder auf denen man gerade nicht Platz nehmen durfte mit seinen dreckigen Klamotten, während man ein Anliegen vorzubringen wollte. Zollposten, die nicht auf Überfälle durch Hunderte, Männer wie Frauen, Kinder und Greise, eingerichtet waren, wurden niedergebrannt.
Die Wucherer, derer man habhaft wurde, bekamen wohl mehr ab als andere. Körperverletzung wahrscheinlich, auch gefährliche Körperverletzung, mit Messer- und Heugabelstichen. Von Verletzten oder Toten wurde nichts überliefert.
Auch der Graf von Isenburg-Wächtersbach verzichtete mehr oder weniger formlos am 26. September schriftlich auf Frondienste, Abgaben und Strafgelder. Wie Bürgermeister und Pfarrer musste er zur Strafe an der Spitze mitmarschieren. Die Masse waren Bauern und Gewerbetreibende, Handwerker und Kleinhändler. Zuweilen schlossen sich die Inhaber öffentlicher Ehrenämter, Bürgermeister, Gemeinderäte und Kirchenvorsteher an. In Gießen und Butzbach aktivierten sie die Bürger- und Landwehren zum Schutz von Ruhe und Ordnung gegen den Ein- oder Durchmarsch.
Während der Aufstand Schloss Isenburg-Wächtersbach einnahm, erfolgte ein Überfall auf den Zollposten in Wölfersheim. Dort unterhielten die Leinenverleger ihre Depots für den Hauptmarkt in Frankfurt. Die Kaufmannschaft vertrat in der Region die Grafschaft. Von Södel soll der Angriff ausgegangen sein, eine Viertelstunde Wegs vor Wölfersheim, seitab der Strecke zwischen Gießen und Butzbach, die Büchner im Sommer 1834 einige Male lief. In Södel hatte der Funke des Aufstands also zwar gezündet, aber Feuer brach nicht von dort aus, sondern schlug am Abend des 30. September über den Weiler herein.
Ein »Haufen Banditen«, schrieb der Dorfpfarrer, fiel wie ein Ungeheuer aus der Nacht über das Dorf her, fürchterlich brüllend: »es lebe die Freiheit«. Das vielhundertköpfige Monstrum raubte den Pfarrer und den Bürgermeister aus und verbrannte ihre Amtspapiere. Die Privatpapiere blieben unangetastet, und auch körperliche Schädigungen konnte der Pfarrer nicht beklagen. Er tagte mit den Oberen der Ortswehr, und sie schickten nach Friedberg um militärischen Schutz.
Leichte Reiterei, Cheveaulegers genannt, »größtenteils betrunken«, rückte an. Vor dem Dorf erwartete sie die gerüstete Ortswehr. Der Großherzog hatte das Kriegsrecht verhängt, seit dem Vortag galt das Standrecht für bewaffnete Aufständische. In Södel war man ahnungslos, sonst hätte man Säbel und Gewehr abgelegt und das Missverständnis vermieden.
Bevor die wehrhaften Einwohner eine Erklärung hätten geben können, wurden sie von den Soldaten überritten. Die Militärs merkten nicht, dass sie Fliehende jagten, die ihre Waffen weg warfen statt zu gebrauchen. Sie malträtierten und massakrierten blindlings mit Säbelhieben und Schüssen, wer auf der Straße war. Sie säuberten das Dorf.
Die Stationierung von Truppen in den vom Aufruhr befallenen Dörfern genügte, um die friedlichen Massen zu zerstreuen. Einige Verstümmelungen und Vergewaltigungen von Södel wurden auch im Großherzogtum als Verbrechen förmlichst geahndet. 23 Soldaten wurden angeklagt, elf wegen »Verletzung mit Todesfolge« verurteilt.
Im Morddienst verschieben sich die Maßstäbe. Sie taten zu viel des eigentlich Guten. Ein paar Jahre Haft für die, die man vorsorglich sowieso aus der Armee ausschließen würde; ein paar Monate für die, die noch zu gebrauchen waren.
Mordgeschichten
Im August, zwischen Julirevolution und Södel, brachte Dieß seine Geliebte um. La Liberté auf den Barrikaden, die namenlosen Forstarbeiter von Büdingen, der Leinwebergeselle auf dem Seziertisch – sie setzten ein Zeichen, setzten ihr Zeichen in die Welt.
Für Dieß war sein Messerstich so weltbewegend wie der seine für Cato. Nur entzifferte niemand das Zeichen des Mörders als universelle Geste. Keine klassische Tradition, kein Römertum, keine Ehrgewinn fürs Vaterland, nichts Weltbewegendes – nur das, was zahllose Menschen alle Tage tun, bis es nicht mehr geht.
Das Gewöhnliche als Besonderes, eine Ansprache über Dieß auf dem »Redaktus« – fantastische Idee. Büchner bräuchte ein Tarn-Manuskript, um den Direktor zu täuschen, der die Rede abnehmen musste. Wie viele Sätze könnte er sprechen, bis man ihn vom Podium zerrte? So viel wie eine Zeitungsmeldung höchstens. Ein einziger kurzer Ausruf, und es war vorbei.
Büchner kannte andere Kriminalaffären, könnte gut vertraut mit ihnen gewesen sein. Kannte mehr davon, als ihm die Gelehrten zubilligen, die seine Beschäftigung mit der Materie unbedingt erst dann ansetzen wollen, als er sich entschloss, ein bestimmtes Manuskript zu beginnen und sich dazu Bücher beschaffte. Als schlösse dieser überlieferte und mehr oder weniger beweisbare Schreibansatz einen anderen aus.
Als könne Büchner nicht Überlegungen angestellt haben, die nicht zu den zufällig erhaltenen Tintenspuren passen, ihnen aber auch nicht widersprechen. Als könne er die Quellen, die er nachweislich ab einem bestimmten Zeitpunkt in Hinsicht auf ein bestimmtes erhaltenes Manuskript benutzte, nicht längst gekannt haben. Immerhin hatte er weniger Mühe, sie sich unter entschiedenen schlechteren Bedingungen zu verschaffen als seine Ausleger im nächsten Jahrhundert.
Für sein erstes Theaterstück müssen die Gelehrten es einsehen. Büchner schrieb selbst von der Beschäftigung mit dem Sujet, lange bevor er in den Ausleihlisten der Darmstädter Hofbibliothek Spuren hinterließ, die inzwischen wieder verloren sind. Im Fall seines Verbrecherstücks jedoch soll Büchner die Bücher, die er zur Hand hatte, erst genau dann gelesen haben, als er es aufschrieb. Erst nachdem er sein eigenes Verbrechen begangen, soll sein Interesse an solchen gemeinen Geschichten entstanden sein. Und in keinem Zusammenhang damit. Eine andere Zeit, eine andere Epoche der Biografie … zwei Jahre später. Wie die Familie vor dem ersten wie dem letzten Werk zurückschreckte, weichen viele Gelehrte anstößigen Zusammenhängen aus.
Der Vater war vielfach mit medizinischen Grenz- und Kriminalfällen als Gutachter befasst. Er untersuchte eine Frau, die sich durch das Verschlucken von Stecknadeln umbringen wollte, einen Fall von Selbstkastration, Ehegattenmord, Kindsmord, Totschlag. Über einen Fall hatte er 1825 in der »Zeitschrift für die Staatsarzneikunde« publiziert. Ein Soldat hatte seinen Vorgesetzten mit einem Säbel angegriffen – »entweder in der Schlaftrunkenheit oder in einem Anfall von vorübergehenden Wahnsinn«, wie der Medizinalrat befand.
Er spekulierte, dass die »Anfüllung des Magens mit grober Nahrung« und die daher rührenden wirren Träume den Gemütszustand des Probanden verursacht haben könnten. Ein Echo davon im Kriminalstück des Sohnes, worin ein Soldat, dessen Physiologie durch die experimentelle Ernährung mit Erbsen angegriffen ist, im Konflikt mit einem Offizier steht.
Trotz der lange zurückliegenden Wegweisung durch das »Magazin für Erfahrungsseelenkunde« von Karl Philipp Moritz war die Psychologie sechs Jahrzehnte vor Sigmund Freuds »Traumdeutung« als Wissenschaft ein missratener Ableger der Medizin. Geistesstörung wurde mit mehr oder weniger bestimmten körperlichen Erscheinungsformen verbunden. Absonderliche Verhaltensweisen wurden bemerkt und belacht, aber nicht wissenschaftlich bedacht.
Die Psychopathologie eines Professor Wilbrand mochte sein begabter Student wohl entwerfen können, aber nur außerhalb des Kanons ihrer gemeinsamen Wissenschaft. In ungefähren Fetzen und Bruchstücken wahrer Sätze, die auf Wirklichkeiten durchscheinen, die man sich vorstellen muss. Statt einer Abhandlung Szenen eines Theaterstücks.
Wahnsinn war, was verwahrt werden musste. 1825 wurde in einer »Irrenanstalt«, einer deutschen, erstmals über die Möglichkeit von Heilung nachgedacht. Doch auch dort wurden Zwangsstuhl und Zwangsjacke alltäglich und selbstverständlich eingesetzt. Kriminalpsychologie, wie Kriminalistik, war eine neue Denkrichtung, mitbegründet 1828 von dem Ansbacher Gerichtspräsidenten Anselm Feuerbach mit einer Sammlung »Merkwürdiger Verbrechen«.
Der Kritiker der alten Ermittlungstechniken und Vordenker neuer Strafverfahren hatte in seinem Wirkungskreis die Folter endgültig abgeschafft. In Darmstadt wurden weiterhin »Ungehorsamsstrafen« verordnet, um Geständnisse zu erzwingen. Überlegungen zu Reformen entwickelte in Berlin der Zirkel um den Untersuchungsrichter Hoffmann. Callot-Hoffmann war mit mehr als einer prominenten Kriminalaffäre befasst, so dem Fall des Messerstechers von der Hasenheide, Daniel Schmolling.
Versuche, Morde mit Wahnsinnsanfällen zu erklären und damit aus dem Gesellschaftlichen auszuscheiden, waren zuschanden geworden, bevor Dieß seine Tat verübte. Mit einer Hinrichtung als Massenspektakel endete ein dreijähriges Verfahren in Bremen gegen eine Frau, die reihenweise Menschen umgebracht hatte. Zwischen 1828 und 1831 sandten Neuigkeiten über die Serienmörderin »ihre Schauder über das ganze gebildete Europa, ja nach China und Amerika«, auch bis nach Darmstadt.
Vergeblich hatte ihr Verteidiger ein psychologisches Gutachten beantragt. Das Gericht wollte nicht genau wissen, was in Gesche Margarethe Gottfrieds Kopf vorging, als sie ihre Eltern, ihre Kinder, ihre Ehemänner und Geliebten, Bekannte und Bedienstete mit einem Ungeziefervertilgungsmittel umbrachte. Man untersuchte nicht, warum die Mordserie solange unerkannt bleiben konnte. Warum den besten Ärzten der Stadt die Vergiftungssymptome entgingen. Warum niemand argwöhnisch wurde, dass alle Personen in Gesches Nähe starben: 15 Morde und wenigstens 19 Vergiftungen in 15 Jahren.
Der Verteidiger tat, was er konnte. Er schrieb auf, was seine Mandantin auf die Fragen antwortete, die kein Untersuchungsbeamter stellte. Statt ihr Geständnisse und Schuldbeweise zu entlocken, ließ er sie sich selbst erklären. Sie wusste, was sie tat, und wusste doch nichts darüber. Sie sah kein Unrecht in ihrem Tun, sie kannte nur ihr Recht. Die größte in den Akten verzeichnete Bestürzung während ihrer Haft galt nicht dem Sterben ihrer Eltern, Kinder, Geliebten.
Manchmal war es ihr peinlich, dann wieder machte sie kalt und knapp die erforderlichen Angaben – aber es rührte sie nicht. Falsche Tränen, geheuchelte Bekenntnisse allenfalls. Nur einmal geriet sie außer sich, als sie an einen fingierten Diebstahl erinnert wurde, der sie zum Meineid gegen ein Dienstmädchen verleitet hatte. Die Verleumdung erschütterte sie mehr als die Erinnerung an die Morde.
Es überkam sie, als sie im Flur des Gefängnisses einer Frau begegnete, die sie für jene von ihr am geringsten Geschädigte hielt. Es war die falsche Frau, der das schöne Scheusal seine echteste Gefühlsregung bezeigte.
Gegensätze charakterisieren die Zeit, die mal Biedermeier, mal Vormärz genannt werden kann, je nachdem, ob man die Beschaulichkeit betont oder den Keim des Umsturzes. Die Epoche schwankt zwischen Romantik und Revolution, Pracht und Elend, himmelhochjauchzend und tief betrübt, Schein und Wirklichkeit, Presse und Zensur, Gemütlichkeit und Gewalt. Gesche Gottfried war ein Spiegelbild en miniature, eine verkleinerte Verkörperung, Phänotyp und Puppe ihrer Zeit, in der alle Gegensätze verschachtelt waren.
Wahnsinnsanfälle konnte bei ihrem Verbrechen nicht in Anschlag gebracht werden; man müsste schon eine Kette davon annehmen. Sie beging ihre Morde nicht in gewalttätigen Ausbrüchen von Krankheit, der zur Verwahrung aufriefen. Die gutbürgerliche Frau verabreichte beiläufig Arsendosen in Getränken und Speisen.
In der Kirche wurde die Mörderin als Dulderin gepriesen und als Vorbild für Schicksalswürde. Ob ihrer Freigiebigkeit stand sie im Rufe eines »Engels der Armen«. Mit »etwas geben« chiffrierte sie ihre Taten in den Verhören: Gift für Freunde und Familie, Geld für die Armen zum Ausgleich vor Gott und vor allem im Ansehen der Menschen. Keine Ausgesonderte, sondern eine Dame aus der Mitte der ersten Gesellschaft beging eines der umfangreichsten Privatverbrechen, von denen man je gehört hatte. Eine Borgia in der Bremer Bürgerschaft.
Besonders eine Szene wurde tausendfach kolportiert unter ihren Zeitgenossen. Sie beruht auf Wahrheiten. Ein Paravent äußerlicher Wohlanständigkeit genügte, um das Böse zu kaschieren. Ein Blick hinter den Schirm brachte eine Kunigunde, die Giftmischerin in Kleists »Käthchen von Heilbronn«, zum Vorschein, die ihre Schönheit einer Ganzkörperlarve verdankt.
Als Gesche zum ersten Mal im Gefängnis ausgekleidet wurde, wurde auf dem Freimarkt, dem jährlichen Volksfest, zu Moritatentafeln und Drehorgel kolportiert, musste man sie aus 13 Korsetts schälen, die dem 43-jährigen klapperdürren Leib wohlgerundete Formen verliehen hatten, dazu »übertünchte Wangen, elfenbeinernes Gebiss, falscher Busen«.
Gesches schlimmstes Verbrechen war ihre Heuchelei. Dass sie die Bürgerschaft genarrt hatte. Ebenso litt sie am meisten am Meineid, dem scheinbarsten ihrer Verbrechen. Gleich nachdem ihr Kopf gefallen war, wurde sie seziert. Besondere Befunde wurden nicht bekannt.
Zellentraum
Johann Dieß kam als Zuchthäusler auf den Seziertisch; er war am Tag vorher gestorben. Büchner könnte bei den Diagnosen auf Anzeichen achten, welchen Einfluss die Haft auf die Todesursache gehabt haben könnte. Die Haftanstalten des Großherzogtums waren Rattenlöcher. Sie vollzogen eine verlangsamte Todesstrafe. Wer die Einkerkerung überlebte, starb oft bald darauf. Als habe der Körper gerade so lange durchgehalten, bis die Freiheit wiedererlangt war.
Mögliche Untersuchungen wurden nicht angestellt. Das hieße, auf etwas achten, über etwas reden und schreiben, wovon die Untertanen nichts wissen sollten. Ein ärztliches Protokoll bei Haftantritt könnte mit den Sektionsbefunden verglichen werden; Professoren könnten in den Gefängnissen die »Verdauung nach Versuchen« untersuchen und ihr besonderes Augenmerk auf den Unterschied zwischen Fleisch- und Pflanzenfraß richten.
Büchner würde sich die Zelle vorgestellt haben. Nach Abschluss des Manuskripts seiner Rede an die Bauern über die Verteilung der Güter, die sie erwirtschafteten und die von den Reichen verbraucht wurden. Nach der Abschrift durch den Gefährten; nachdem der es endgültig aus der Hand gegeben hatte; nachdem er Wort halten musste, was immer daraus wurde. Der Tote aus der Zelle auf dem Seziertisch könnte sein Leidensgenosse werden.
Erst Arresthaus, dann Zuchthaus war die höchstmögliche Strafe, die er für sich veranschlagte. Ein Todesurteil, ein Schafott, was ist das? Man stirbt für seine Sache, schrieb er, nachdem er entkommen, über einen, der erwischt worden war. Aber so im Gefängnis auf eine langsame Weise aufgerieben zu werden! Das ist entsetzlich!
Er würde sich lieber eine Kugel in den Kopf schießen, als sich einen Zahn ziehen zu lassen. Das wäre weniger schmerzhaft. So redete er. Minna mochte ihn wehleidig gescholten haben. Den Kopf konnte man nicht nur verlieren, indem er abgeschlagen wurde, so redete er.
Freiheitsstrafe wäre für ihn, gerade für ihn, die Höchststrafe. Binnen kurzem würde er durchdrehen, wenn er nicht in Bewegung, unterwegs sein konnte. Ein Dasein als Kritzler am Schreibtisch oder Präparierer am Seziertisch war zuweilen von eigener Aufregung. Er aber musste immer weiter, woanders hin, von Sitz und Tisch fort, durch die Landschaft.
Empfindlich war er wohl. Gerade das Gewöhnliche kam ihm zuweilen wie Folter vor. Eine Marter durch das Immergleiche, die Langeweile. Man wurde geboren, durch Erziehung mit einer Kurbel versehen, damit ein Herr auf einem das alte Lied von der Walze spielen konnte. Man könnte diejenigen beneiden, die ihre Kurbel nicht kannten, die überhaupt nichts von einer Kurbel wussten. Im Rücken steckte sie, wohin die eigene Hand schwer gelangte, um sie selbst zu drehen oder auszureißen.
Ihm war, schrieb er Minna, als stecke man im glühenden Bauch des Peryllusstiers. Das Eisengehäuse schuf der griechische Bildhauer für einen Tyrannen, der darin seine Feinde verbrannte. Ihre Schreie zum Fauchen der Flammen simulierten das Gebrüll des Tiers.
Büchner stolperte mit gesenktem Blick durch die Gassen, um die Totenmasken nicht zu sehen, die alle Menschen ihm vorhielten, nicht das Klappergerippe unter der Kleidung. Tote auf Urlaub. Gebilde aus Staub, Sand, Dreck, die in der Zeit aufblitzen.
Wie sie in ihren Spurrillen schleiften und sich drehten wie die Püppchen auf dem Deckel einer Spieluhr. Hinein ins Häuschen und heraus, zum Takt der Walzenstifte. Warum muß ich es gerade wissen?, ließ er eine der Gestalten sagen, unter deren Maske er die Bruchstücke seiner Wirklichkeit betrachtete. Warum kann ich mir nicht wichtig werden und der armen Puppe einen Frack anziehen und einen Regenschirm in die Hand geben, daß sie sehr rechtlich und sehr nützlich und sehr moralisch würde?
Kein süßliches Geklimper gezupfter Saiten vernahm er aus dem Kasten, sondern Stöhnen wie unter der Folter. Die Hände in Eisen gelegt, die Füße an die Wand gekettet. Bis er gesteht. Bis er mitspielt in der Verhörsmaschine, etwas redet, das dem, das er sagen soll, möglichst ähnlich klingt in den Ohren der Kurbeldreher. Mit jeder Verweigerung, ihre Wahrheit zuzugeben, wird die Kette enger und länger geschlossen.
Alles wird mitgeschrieben, jede Demütigung, jedes Aufbegehren dagegen, jedes Anzeichen von Verzweiflung in Tinte gegossen. Wie ihm schließlich mit dem Lederpeitschenknüppel, im Kanzleideutsch Farrenschwanz geheißen, gedroht wird.
Bis die Akten zum Fenster seiner Zelle hereinstürzen und auf ihn fallen. Wie er aufspringt, und mit dem Buch, das er in der Hand hält, und das seine Wärter ihm in Wahrheit nicht gestatten, das Fenster zerstößt, und die Scherben um ihn wirbeln, bis er einen Splitter ergreift und sich damit ritzt, zunächst nur, um mit seinem Blut an die Wand zu schreiben, dann, als seine Beschwörung den Bann nicht bricht, und die Akten weiter auf ihn einhageln, mit der blutigen Scherbe die Adern an den Füßen und an der linken Hand aufzureißen.
Psychopathologie
Professor Wilbrand sagte seine Lektion auf. Die Herren in der ersten Reihe wurden ungeduldig. Das ging sie alles nichts an. Sie grinsten nicht über den wunderlichen Alten, der den zerstückelten Verbrecher vorführte. Wollten sie etwas hören, dass ihnen medizinisch begründete, was den Kriminellen von ihnen unterschied?
Dergleichen war vom Professor nicht zu erwarten. Das ging ihn nichts an. Nicht auszuschließen, dass die Seele einen Sitz im Körper hatte. Mit dem Zuwachs wissenschaftlicher Erkenntnis wanderte ihr mutmaßlicher Ort durch den Leib und kam zuletzt im Gehirn an. Inzwischen stellte die Wissenschaft derlei Fragen nicht mehr. Der Professor suchte nicht nach, was im Körper auf dem Seziertisch den Kriminellen ausmachte.
Noch beliebt aber akademisch schon anrüchig geworden war, aus der Schädelform auf die Gesinnung zu schließen. Wie vormals aus dem Schattenriss des Profils auf den Charakter. Diese Astrologie für beinerne Gestirne hatte Lavater mit ähnlichem Erfolg wie Mesmer und Cagliostro die ihrigen Maschen angewandt. Ein seltsamer Heiliger, etwas weniger verlogen als jene, dafür selbstbetrügerischer. Von wenigen Kritikern wie Lichtenberg abgesehen glaubten Generationen von Gebildeten an die Klassifikationen des Zürcher Pfarrers, der aus der Nasenlinie das Seelenleben lesen zu können glaubte, wie die Zigeunerinnen aus der Hand, und dazu allerlei gute oder böse Ahnung zum Besten gab.
Silhouetten waren die verbreitetste Form des Porträts im Biedermeier, durch technische Reproduzierbarkeit aus den Kabinetten der Gebildeten und Begüterten in den Stuben der Kleinbürger und Großbauern angelangt. Sie passten zu einem Staat der Geheimkabinette. Die Umrisse ließen viel zum Ahnen frei und zeigten gerade kein Inneres her.
Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?, hatte Büchner in einem Brief an Minna rhetorisch gefragt. Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen. Und ließ ihn gleichwohl nicht los. Im Sektionssaal war keine Antwort zu erhalten. Während der Leichnam von Dieß zerlegt wurde, dachte er nicht daran, welche Eigenart eines Organs, die der Professor feststellte, für den Mord verantwortlich wäre.
Und würde eine unabweisbare Abnormität diagnostiziert werden können, erklärte das nichts. Es fehlt nur wenig, daß der Herr Professor in seinem heiligen Eifer über die blinden Heiden eine Sektion des Cato vornähme und bewiese, daß derselbe einige Lot Gehirn zu wenig gehabt hätte, spottete er schon, als der Vater ihn in die Anfangsgründe der Autopsie einwies.
Eine Abweichung vom normalen Bau des Gehirns oder eine Absonderlichkeit des Magens – wäre es damit getan, könnte das Verbrechen längst Alltag sein, und nicht der läge auf dem Seziertisch, der eine Abweichung aufwiese, sondern der, der eine Abweichung von seinem vorläufigen Maßstab für ein Verbrechen hielt. Wäre eine Krankheit am Verbrechen schuldig – woher kam wiederum diese? Wieso befiel sie bestimmte Individuen und andere nicht? Wieso äußerte sich der Befall mal im Mord, mal im Diebstahl, mal in der Ausübung eines Staatsamtes?
Verbrechen waren nicht wie die Pest, wie eine Seuche, die wahllos jeden befiel, kein großer Schnitter, der gleichgültig sichelnd durch die Lande schritt. Jedes Verbrechen entsprang einer Geschichte, die Täter und Opfer mit anderen Menschen, mit ihrer Gesellschaft verband. War es ein Defekt im Getriebe, war es dennoch in diesem und durch dieses, entstanden durch das Abspielen des immergleichen Liedes, als Abnutzung der Walzen.
Kam eine körperliche Krankheit des Mörders in Betracht, hätte auch sie ihn aus besonderen Gründen befallen, die für andere nicht zutrafen, deren Sektionsbefunde ähnlich ausfallen konnten. Mord war keine Missbildung, war nichts Greifbares. Vielleicht nur ein Stocken im Kreislauf, das nie zu beobachten wäre an einem toten Leib.
Die Ansteckung – wäre es eine – erfolgte unter Umständen, die über das Individuum hinauswiesen, das auf dem Seziertisch lag. Die Welt wäre voller Verbrecher, gäbe es keine Wahl, keinen wie auch immer entwickelten oder unterdrückten, mehr oder weniger bewussten Willen. Es sei denn, ein Wahnsinn schaltete diesen ganz aus.
Die Walze drehte sich noch, aber die Kurbel war entzwei. Das alte Lied leierte unwiderruflich und schmerzhaft weiter. Weniger der Gesang selbst war qualvoll, als sein Herausgefoltertwerden zu Nutz und Frommen derer, die am Hebel drehten. Peinigend war nicht das Lied, sondern der Knüppel im Rücken.
Im Darmstädter Hospital setzten sie gegen die Wahnsinnigen allerhand Instrumente ein wie in den mittelalterlichen Folterkammern, wovon man zahllos viel in Schauerromanen las. So die Drehstühle: zylindrische Käfige aus Holz, in ein Gestänge eingepasst, die mittels einer Kurbel in Schwung gebracht wurden und den Irren gehörig durchdrehten, bis er Gleichgewicht und Besinnung verlor. Der Großvater hatte die Abteilung geleitet und der Enkel war wohl über die Einrichtung unterrichtet.
Und war der Mörder also unzurechnungsfähig, hatten ihn dazu seine Lebensumstände gemacht, die seine Krankheit auslösten und ihm keine Abwehrmittel zur Verfügung stellten. Wäre Verbrechen eine Art Krankheit, müsste diese so gut als jede andere diagnostiziert oder gar prognostiziert werden können. Mithin sollte es der Polizei möglich sein, auch Diebstahl und Prostitution aus der Welt zu schaffen.
Als sei die Welt, wie sie war, gestört, solange sie sich nicht der jeweils herrschenden Ordnung anbequemte. So hilflos die Mediziner gegen die meisten Krankheiten waren, so wenig ließ sich eine Gesellschaft, ein Staatskörper kurieren.
Das Alter der Täter, die Ähnlichkeit der Lebensumstände, der Punkt auf ihrer Lebensbahn, an dem sie eine vergleichbare Tat begingen – das wäre kein Zufall, selbst wenn ihre Sektionsbefunde unvergleichbar ausfielen. Undenkbar, Vergleiche anzustellen zwischen den Leichen und Lebensläufen von Dieß, Schmolling, Woyzeck und Gottfried. In vier Staaten mit unterschiedlichsten Rechtsvorschriften, ohne jede Berechtigung außer bloßer Neugier jenseits der wissenschaftlichen Konventionen. Die Sektionsbefunde wären vielleicht nicht einmal der Gerichtsakte beigefügt. Oder das Protokoll enthielt nur so ungefähre Angaben, dass die betreffenden Präparate in den Universitäten ausfindig gemacht und erneut untersucht werden müssten, um verwertbare Beobachtungen zu machen.
Lag der Unterschied des Verbrechens auf metaphysische Weise im Magen, wie sein Vater im Fall des aufsässigen Soldaten medizinisch angenommen hatte? Bestand die Schwelle zwischen Bürger und Verbrecher in der Verdauung, die von der Nahrungsaufnahme, also von den sozialen Verhältnissen abhängig war? Ließe sich der Mensch allein dadurch bessern, indem man ihn anders fütterte?
Wäre der Mensch eine Maschine, käme man auf diese Weise vielleicht ein paar Schritte weit. Soweit der Schwung der Kurbel im Rücken den Automaten antrieb. Erbsen in den Mund gesteckt ergaben soundsoviel Ammoniak. Die passende Ernährung für den erwünschten Geist.
Tierische Funktionen ließen sich mechanisch nachahmen. Die Vaucansonsche Ente schwamm und schlug mit den Flügeln, wendete den Hals, fraß und schiss. Goethe hatte sie 1805 noch sehen können, danach war sie verschollen. 1741 baute Jacques de Vaucanson eine Webmaschine, die durch Lochkarten gesteuert wurde, im 19. Jahrhundert in der Produktion eingesetzt wurde und den im 20. Jahrhundert entstehenden Computer vorbildete, der das Denken nachzuahmen versuchte.
Am Magen hing die Geschichte des Einzelnen wie die der Welt, war Büchners Überzeugung, die er bei Gelegenheit wie eine Botschaft verbreitete. Mästen Sie die Bauern, und die Revolution bekommt die Apoplexie, schrieb er. Schlaganfall konnte jeder diagnostizieren; er sprach als Arzt. Ein Huhn im Topf jedes Bauern macht den gallischen Hahn verenden, ergänzte er als Metaphoriker.
Er schrieb es dem Schriftsteller Karl Gutzkow, von dem er annahm, er glaube fest an andere Triebkräfte als den Magen, an die Kraft von Gedanken und dass Ideen ohne Taten in die Geschichte eingreifen könnten; dass steter Tropfen aus Worten den Stein der Städte aus- oder unterhöhlt, das Gras unter dem Pflaster freilegt; dass Aufklärung verändert. Unsere Zeit ist rein materiell, beschied Büchner den Kunst-Rebellen.
Um die Massen in Bewegung zu bringen, gäbe es nur zwei Hebel, materielles Elend und religiöser Fanatismus. Jede Partei, welche diese Hebel anzusetzen versteht, wird siegen. Unsre Zeit braucht Eisen und Brod – und dann ein Kreuz oder sonst so was. Am Magen hing die Welt; alles Übrige war durch Fahne, Farbe und Symbol aufgeheizte Stimmung. Aber Sie sollen noch erleben, zu was ein Deutscher nicht fähig ist, wenn er Hunger hat.
Nicht von ungefähr konzentrierte sich die Medizin auf den Darm. Von der Verdauung der Lebensmittel hing alles ab. Im körperlichen wie geistigen Sinn. Armut wie Überfluss waren hier gleich verteilt. Wen der Hunger bedrohte, war auch am geringsten gebildet.
Zur Heilung Blut ablassen, den Darminhalt erbrechen, oder ein Einlauf – die drei Hauptmittel der Ärzte. Schloss man Blutvergießen aus, würde eine Verbindung der anderen beiden Rezepte zur Gesundung des kranken Gesellschaftskörpers beitragen können? Ihm das eigene Erbrochene mit einem Klistier verabreichen. Ihm die eigenen Worte und Taten ins Maul zurückstopfen.
Hatte der Vater den Akzent bei seiner Diagnose auf den Magen gelegt, legte der Sohn ihn bei den Träumen, die vom Magen kamen. Wieso vom Magen – wieso nicht von ganz woanders? Volksglaube, der auf keiner wissenschaftlichen Beobachtung gründete. Eine andere Begründung war weithin nicht zu erkennen.
Und wie aus den Träumen Wahnsinn würde – was konnte man davon wissen? Gar nichts außer dem, was man spüren mochte, wie Dichter seit je, ohne dass die Wissenschaft sie ernst genommen hätte. Wusste man doch, wie Schiffsbesatzungen umkamen, wenn ihnen bestimmte Lebensmittel ausgingen. Erst Wahnsinn, dann Siechtum. Eingesperrt auf ihrem Schiff, fielen sie übereinander her.
… Augen von der Brandung verschlungen, begann das erste überlieferte Fragment von Büchners Hand, einer vom Elfjährigen dem Vater zugedachten Erzählung. Der Kapitän ließ nun die Yölle aussetzen, welche er mit 3 Passagieren, 4 Offizieren, 6 Matrosen und mir bestieg. Trotz der furchtbaren Wogen und der Brandung gelang es uns vom Schiffe zu stoßen, welches, da wir uns kaum eine halbe Seemeile davon entfernt hatten von einer ungeheuren Welle zertrümmert wurde und unter einem gräßlichen Schrei, der mir jetzt noch in den Ohren gällt, versanken fast 400 Menschen in den furchtbaren Abgrund.
Auf den kleinen Staatsschiffen im europäischen Meer blieb nur die Freiheit, über Bord zu springen. Nein, »es sei keine Kunst, ein ehrlicher Mann zu sein, wenn man täglich Suppe, Gemüse und Fleisch zu essen habe«, mochte Büchner sich denken und über die Annahme den Kopf schütteln, sie würden an der aufgeschnittenen Leiche entdecken, wie Geist und Sinne korrespondierten, oder indem sie den Lebenden oben etwas in den Mund steckten und nachschauten, was unten herauskam.
Kämen die Träume vom Magen, dann auch die Menschenrechte, als Endziel des revolutionären Traums. Aus dem Magen und dem Mangel, aus der Entbehrung und dem, was das Gehirn daraus machte. Wohin der Entzug wie der Überfluss den Leib bringen konnte.
Wie die Mönche in den katholischen Klöstern, die selten wurden, fasteten; strenger als ihre Bischöfe, die sich nur bestimmte Speisen an bestimmten Tagen untersagten. Fasten für einen reineren Geist, um Gott näher zu kommen. Fasten war nicht Hunger, sondern Entlastung vom Überfluss wie die Klistierspritze, mit der sich der überfressene Bürger entschlacken ließ.
Hunger vergeistigte nicht, brachte nicht näher zu Gott. Zu den Menschen vielleicht, aber anders als diese ertragen könnten. Und vor dem Tod brachte der Hunger den Wahnsinn. Der Hunger nach Brot wie nach Fleisch, der Hunger nach Blut oder Leben, nach Walzenwechseln oder nach Stille und Ruhe vom Lied nach eigenem Behagen.
Präparation
Noch hastiger als gewöhnlich spulte der Professor das Pensum ab und murmelte Befunde unverständlich vor sich hin. Ungeduldig griff er ein, wenn ein Student beim Schneiden zögerlich war oder sich ungeschickt anstellte. Er schnauzte grundlos den Prosektor an.
Es pressierte ihm, und er winkte den Mustersezierer heran. Der sollte eine letzte Demonstration vornehmen und an der rechten Bauchseite einen Abschnitt von Fett befreien, während der Professor seine Erläuterungen abhaspelte oder die Studiosi abfragte.
Der Leichnam war weitgehend ausgeweidet und zerhackt und ähnelte keinem lebenden Wesen mehr. Später würde Büchner reihenweise Fische sezieren. Unter den zum Auseinandernehmen in Frage kommenden Tieren waren die stummen Fische am wenigsten geeignet, das Gewissen zu rühren. Aus den toten Augen einer Maus oder einer Katze schien ein Funke entwichen, der dem Fischauge schon im Leben zu fehlen schien. Man hörte die Mäuse La Fontaines Verse deklamieren und die Katzen wie den Verfasser der »Fantasiestücke in Callots Manier« als Murr schnurren.
So geläufig Büchner das Aufschneiden war, bedrückte ihn der Verbrauch der Körper. Das Sezieren war Schlächterwerk, dem der Einzelne so wenig galt wie im Krieg, wie in der Staatsverfassung. Ein mit Messern gespicktes Schaufelrad wälzte den Strom der Menschen von der Wiege bis ins Grab. Eine Welt voller Gruben zerlegter Leiber, und hinter tausend Leichenbergen keine Welt.
Über Büchner wurde erzählt, er sei aus dem anatomischen Theater, »wo ihn peinliche und ekelhafte Eindrücke zur Verzweiflung brachten, hinaus in die Naturumgebung Gießens« geflohen, um »Werther« und »Hamlet« oder die Romane von Lawrence Sterne und Jean Paul zu lesen. Vormals in Straßburg antwortete er einem Freund auf dessen Brief: Ich komme eben aus dem Leichendunst und von der Schädelstätte, wo ich mich täglich wieder einige Stunden selbst kreuzige, und nach den kalten Brüsten und den toten Herzen, die ich da berühre, erquickte mich wieder das lebendige, warme an das Du mich drücktest über die paar Meilen hinaus, die unsere Kadaver trennen.
Er bannte die Befangenheit, indem er sich auf den Ausschnitt und die Handhabung von Skalpell und Pinzette konzentrierte. Er hantierte mit dem Körper wie mit einer Apparatur, wie der Uhrmacher mit einem defekten Chronometer. Er widmete sich den Einzelteilen, den Nerven, Gefäßen, Muskeln, und betrachtete sie ausschließlich hinsichtlich der Präparationsanleitung.
In der Zerstückelung zerfiel das Menschliche. Die Gestalt verschwand, indem sie in kleine und kleinste Teile zerfiel, die sich in ein Glas stecken oder unter das Mikroskop schieben ließen. Staub, Sand, Dreck. Aus dem bloßen Anblick ergab sich kein Mensch mehr. Man musste ihn sich vorstellen.
Die Koordination von Hand und Hirn in der Naturwissenschaft zog ihn an. In ihr hatte er es nicht mit Hirngespinsten zu tun wie in Geschichte und Philosophie. Wo nie ein sicherer Grund war als der eigene Gedanke. Sofern es gelang, ihn aus der Wirrnis der Gefühle herauszuschneiden.
Der Leib auf dem Tisch war ein unbestreitbares Faktum. Allein genaue Beobachtung war gefragt, um zu Erkenntnissen zu gelangen. Auch dabei konnte man sich zwar das Hirn verwinden. Immerzu aber musste und durfte man sich versenken in das, was sich mit Händen greifen und mit Augen sehen, was sich hören, riechen, schmecken ließ. In der Naturwissenschaft hielt man sich an Tatsachen, ging von ihnen aus und kehrte zu ihnen zurück.
In Geschichte und Philosophie gab es keine Tatsachen. Was eine solche sein könnte, wurde vielmehr unentwegt hin und her gewendet. Ein Schaufelrad im Kopf, das den Gedankenfluss ad nauseam umwälzte, indem es von diesem gedreht wurde. Der Philosoph ging am Rande des Wahnsinns spazieren. Um nicht abzustürzen klammerte er sich an einen Wurzelstrang, der am Klippenrand hervorragte. Aus einer rettenden Idee erklärte er den denkbaren Kosmos.
Ich werfe mich mit aller Gewalt in die Philosophie, schrieb Büchner im Dezember 1833 einem Freund, die Kunstsprache ist abscheulich, ich meine für menschliche Dinge müsse man auch menschliche Ausdrücke finden; doch das stört mich nicht, ich lache über meine Narrheit und meine es gäbe im Grund genommen doch nichts als taube Nüsse zu knacken. Man muss aber unter der Sonne doch auf irgend einem Esel reiten und so sattle ich in Gottes Namen den meinigen; für’s Futter ist mir nicht bang, an Distelköpfen wird’s nicht fehlen, so lang die Buchdruckerkunst nicht verloren geht.
Entschlossen, sich nicht in die Gießener Winkelpolitik und revolutionären Kinderstreiche zu verwickeln, im medizinischen Pensum über das an der Ludoviciana Geforderte durch seine fortgeschritteneren Straßburger Studien hinaus, absolvierte er nicht nur den Pflichtkurs in Logik. Später bereitete er eigene Vorlesungen über Descartes und Spinoza vor.
Schon in Gießen würde er die »Meditationes de prima philosophia« gelesen haben, das Hauptwerk der formalen Logik bis zur Wende des 20. Jahrhunderts. Descartes dürfte mit der Kunstsprache nicht gemeint sein, der seine Gedanken auf wenigen Seiten in klaren und deutlichen Sätzen darlegt. In der Schöpfung von Begriffsjargons tat sich dagegen die zeitgenössische Philosophie hervor, die in enzyklopädischem Anspruch alles und jedes aus einer Idee heraus beschreiben zu müssen glaubte, statt nach dem Wenigen zu suchen und sich darauf zu beschränken, was sich wirklich sicher wissen lässt.
Medizin schien nicht Büchners Esel gewesen zu sein. Er posierte als Goethischer Prometheus: »Bedecke deinen Himmel, Zeus, / Mit Wolkendunst! / Und übe, Knaben gleich, / Der Disteln köpft, / An Eichen dich und Bergeshöhn!« Nicht mit dem Skalpell schien er ans Werk gehen zu wollen, sondern mit der Feder: so lang die Buchdruckerkunst nicht verloren geht.
Papparbeiten
Für das Mittelalter war Aristoteles »der Philosoph« gewesen, der alle Fragen gestellt und beantwortet haben sollte, so dass sich das Nachdenken auf seine Auslegung beschränken konnte und musste. Womit der antike Grieche sich nicht abgegeben hatte, war des Denkens nicht würdig.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Hegel das Maß aller spekulativen Dinge; Schüler wie Marx verlängerten seinen Einfluss bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Obwohl seine Exegeten Büchner unterstellen, er habe unablässig über Büchern gebrütet und als Jugendlicher mehr gelesen als andere in ihrem ganzen Leben, tausend Themen für Doktorarbeiten, gehen sie davon aus, dass er mit Hegel nicht vertraut war.
Büchners vermeintliche Lektüre wurde eher aus den in seinen Schriften versteckten Zitaten rekonstruiert als dass er ausdrücklich Verfassernamen oder Titel notierte, mal eine Erzählung von Tieck, mal Callot-Hoffmann. Ein Schulfreund erinnerte sich an Büchners »unerbittliche Kritik« vor allem, »was in der menschlichen Gesellschaft oder Philosophie und Kunst Alleinberechtigung beanspruchte oder erlistete. – Daher sein vernichtender, manchmal übermütiger Hohn über Taschenspielerkünste Hegelischer Dialektik und Begriffsformulationen, z. B.: ›Alles, was wirklich, ist auch vernünftig, und was vernünftig, auch wirklich.‹«
Wie berühmt Hegel in hochgebildeten Kreisen gewesen sein mochte, war niemand geübt im dialektischen Dreischritt von These – Antithese – Synthese, außer den Studenten, die dem Meister folgen konnten. Die Texte, anhand derer spätere Philosophengenerationen eingewiesen wurden, weil sie verdaulicher waren als die Hauptwerke, die Mitschriften der Vorlesungen nämlich, waren einem Darmstädter Gymnasiasten ohne speziellere Ambitionen schwerlich verfügbar und jedenfalls noch nicht gedruckt. Die »Phänomenologie des Geistes«, Hegels verbreitetes Buch – in höchstens vierstelligen Auflagen –, worin er den Grundriss seiner »Schädelstätte des absoluten Geistes« entwarf, las man nicht unter anderem. Selbst wiederholte Lektüre reichte nicht, um es zu begreifen. Ein Hegel-Studium Büchners müsste mehr Spuren hinterlassen haben, weil es eine langwierige Arbeit gewesen wäre.
Jedenfalls verstehen viele Exegeten, vielleicht nur aus Ehrfurcht vor dem großen Namen, Büchners Abneigung gegen Hegel als jugendlichen Irrtum und nicht als qualifizierte Abschätzung. Als »Taschenspielertricks« wurden Hegels Analysen spätestens von den englischen Positivsten dargestellt und selbst solche, die die Dialektik als Darstellung einer Denkweise würdigen, glauben nicht an ein allumfassendes System der Welterklärung aus einem einzigen Kopf und Gedanken.
Die Hegelsche Metaphysik, seine Lehre von den letzten Dingen, war in Büchners Tagen auch ohne die Buchstaben des Werks im Schwange. Wie viel der Junge gelesen haben mochte, um energische Ansichten abzugeben – gegenüber dem Schulfreund kommentierte er, wie Hegels echte oder vermeintliche Gedanken in den Kreisen aufgefasst wurden, in denen man überhaupt wusste, wovon die Rede war.
Hegel hatte gemeint, den Weltgeist erfasst zu haben und seine Schritte voraussagen zu können: immerzu im Dreischritt wandelte er durch die Geschichte, Satz – Gegensatz – Auflösung. Allemal hatte er den Geist seiner Zeit auf einen Begriff gebracht. Er beschrieb die gegebenen Verhältnisse als notwendig – und stellte zugleich das Instrumentarium zur Verfügung, mit dem Marx sie zu überwinden versuchte.
Zu jedem Jubiläum des Sturms auf die Bastille trank Hegel ein Glas Rotwein auf die Revolution. In seinem Weltgebäude wurde immerzu alles umgewälzt und blieb sich dennoch gleich. Den Rotwein verdankte er seiner Stellung als amtlich anerkannter, vom preußischen König gesalbter Staatsphilosoph. Der Freiheit ein Prost!
Der Deutsche Idealismus glaubte an den Stein der Weisen. Dass es eine zwingende Logik gäbe, um das Gute oder das Böse zu beweisen, den Aufbau des Universums, das Schicksal oder den Charakter der Geschichte. Alles hängt mit allem zusammen, muss mit allem zusammenhängen. Denn was weniger als das Ganze ist, ist unvollständig und kann ohne alles andere nicht sein.
Wie der Anatom aus dem Knochen ersehen können sollte, um welches Lebewesen es sich handelte, sollte der Metaphysiker in jedem Bruchstück der Wirklichkeit die ganze Welt lesen können. Wie in jeder Scherbe eines zersprungenen Hologramms unter einem bestimmten Blickwinkel das ganze Motiv des gewählten Ausschnitts für das gerahmte Bild aufscheint.
In Erkenntnissen über das eigene Gewerbe, das Denken, erwies sich Hegel als nachhaltig. In den Schlussfolgerungen, der Durchführung und sturen Anwendung der Dialektik auf Gebiete wie Ethik oder Ästhetik, wurde er so historisch wie die Sitten seiner Zeit und die Kunstwerke, die er herausstrich. In Bildender Kunst und Literatur war Hegel so bewandert wie man seinerzeit sein konnte. Wer nicht viel reiste – und das tat Hegel so wenig wie die meisten Philosophen –, kannte Gemälde vornehmlich als Kupferstich-Reproduktionen.
Wer über Malerei philosophierte, dachte zuerst an Motive und Gestalten, weniger oder nie an Farben. Das heute als zeitlos Gültige, William Turners Gemälde oder gar erst seine Aquarelle, konnte ein Hegel kaum gesehen haben. Hätte er sie gekannt, wären sie aus seinem System ihrer Gegenstandslosigkeit wegen ausgeschieden worden.
Hegels Wirksamkeit begründete sich weniger auf Schriften als seine Vorlesungen und wie seine eifrigen Studenten umgingen mit dem, was er ihnen entwickelte. Die seine Lehre aufgriffen und verbreiteten, aus ihr eine Partei machten mit rechtem und linken Flügel, ein Schlagwort und eine Fahne.
Ihre Mitschriften des mündlichen Lehrgebäudes ähneln den Kuriositätenkabinetten eines Sammlers. Ausgestattet mit einem Netz oder einer Lupe, mit einer Botanisiertrommel, mit dem Katalog einer Versteigerung oder jedenfalls einer Denkweise, um Realien aufzusammeln, streift der Sammler durch die Welt und jagt nach Stücken für seine Systematik. Satz – Gegensatz – Auflösung.
Geführt von den Worten des Meisters paradierten die Studenten durch die Sammlung und erfuhren, warum die Erhabenheit des Naturschönen oder das Komische auf dem Theater in genau dieser und keiner anderen Form zum höchsten Ausdruck kam. Worauf ein Berg genannt wurde, den der Denker nie gesehen, geschweige denn bestiegen hatte; ein Bühnenlustspiel – Shakespeare, was sonst – das er wohl gelesen, aber vielleicht nie oder nur einmal auf einer Berliner Bühne gesehen hatte.
Die Phänomene waren, wie der Name sagt, Schall und Rauch. Auf sie kam es nur an, soweit sie in die Fächer des Setzkastens passten. Der Dreischritt des Denkens walzte Besonderheiten nieder, er fügte Menschen und Dinge nahtlos dort ein, wo sie hingehören, ins ununterscheidbar gleiche Ganze und Gemeine des Staatsgebildes – jedenfalls des preußischen, das sich zugleich aufgeklärt geben und Kriege führen konnte, als würden die wohlmeinenden Philosophen, die man sich am Hof hielt, dem Gewissen Genüge tun.
Das Gewissen, das sich die Herrschaften, die jene ihrer Söhne, die nicht zum Militärdienst taugten, auf die Universität schickten, aus Hegels Denken machten, glich dem, das die Titelfigur eines Puppentheaters als gewesener König von Polen und Pataphysiker in einem Koffer bei sich hat, »in Gestalt eines großen Mannes im Hemd«.
Vater Ubu hat das Haus eines Polyeder-Sammlers besetzt und will von seinem Gewissen wissen: »tue ich gut daran, Herrn Achras umzubringen, der es gewagt hat, mich in meinem eigenen Haus zu beleidigen?«
»Herr Achras, undsoweiter, ist ein sehr braver Mann, gar nicht angriffslustig, es wäre feige, undsoweiter, einen armen alten Mann zu töten, der sich nicht wehren kann.«
»Wir werden Herrn Achras töten, da es ja ungefährlich ist, und wir werden Sie öfters konsultieren, denn Sie können bessere Ratschläge geben, als wir geahnt haben. In den Koffer!«
Philosophie war so viel Wissenschaft wie die Medizin an der Ludoviciana. Sie behandelte die Welt wie eine Krankheit, der sie die Absonderlichkeiten austreiben musste, damit sie sich bequemte nach idealen Begriffen abzulaufen wie ein gut geöltes Uhrwerk.
Solange es eben ging. Für ein Jahrzehnt, ein paar Jahrhunderte. Außer Religionen hielt nichts länger, keine Wissenschaft, keine Technik; die Glaubensüberzeugungen machten es mal Jahrtausende.
Nur die Kunst konnte in puncto Haltbarkeit mitziehen, grundsätzlich, aber kaum in einzelnen Exemplaren. Bodenmosaike aus Konstantinopel waren so abgelaufen wie die Herrschaften, die über sie hinweg gegangen waren. Nur die Prinzipien des Spiels blieben gleich. Schach war so alt wie einige Religionen.
Als Gedankenkunstspiel war die Philosophie von einer Wahrheitsfindung so weit entfernt wie ein Englischer Garten von der wirklichen Natur. In den Zeiten, in denen man Büsche und Bäume barock verschnörkelte, dachte man klarer als gemeinhin im Biedermeier, außer einigen in den Kreisen, die darin einen Vormärz in Angriff nahmen: Eisen und Brod – und dann ein Kreuz oder sonst so was.
Hegel faltete und schachtelte mit Begriffen wie ein talentiertes Kind, das gewisslich einmal Baumeister oder Mechanikus werden würde, mit seinen Pappen. Verkniff und verklebte sie zu einem Maschinchen, das unfehlbar den ihm zugedachten Zweck erfüllen würde: den Weltgeist einzufangen. Als wären die Begriffe Realitäten und die Pappenstiele eiserne Stangen und Röhren. Als wäre der Hauch, der sie in Bewegung setzte, tatsächlicher Wasserdampf und nicht der Atem eines Kindes mit der Kraft der Einbildung.
Für Systematiker hatte alles seinen vernünftigen Sinn, seinen angestammten Platz. Das Einzelteil funktionierte wie vorausgedacht – oder es flog raus. Ein mit Stiften und Plättchen wohl versehener Orgelkasten, in dem die Walze immerzu das einmal gewählte Lied klimperte.
Drehorgel
Das Skalpell in der Hand, der Stich in den Leib – sie waren ein festerer Grund für eine Existenz als die Feder auf dem Papier. Vergegenwärtigte Büchner sich jedoch die Hindernisse für eine wahrhaft freie Forschung, zögerte er, bei ihr sein Auskommen zu suchen.
Er stand an seiner Grenze. Rascher als befürchtet war er aus dem Tritt gekommen. Angekurbelt vom Vater, war er ins Medizinstudium geschritten. Aber die Entfremdung vom Elternhaus, von den heimischen Verhältnissen, hatte den Zug der Kette geschwächt.
Der Vater hatte einen Studienbeginn im Ausland für sachlich förderlich gehalten. Um im Großherzogtum praktizieren zu dürfen, musste der Sohn sein Studium an der Ludoviciana abschließen. Vorher sollte er in Straßburg seinen Horizont erweitern. Napoleons, Napoléon Bonapartes wegen war der Vater frankophil und teilte dem Sohn diese Liebe mit.
Dass dieser sich in Straßburg Freiheiten nahm, mochte der Vater als vorübergehende Vergünstigung einberechnet haben. Sollte Filius sich in der Fremde die Hörner abstoßen – befriedigt würde er sich hernach in die unabänderlichen Verhältnisse fügen. Der flüchtige Anhauch eines Anderen würde die Versuchung eines späteren Ausbruchs vermindern, bei dem er erfahren wollen könnte, was ihm aus Unkenntnis umso verführerischer erschien.
An Bonaparte zog den Sohn nichts an, vielmehr war die Französische Revolution längst sein Leitstern. Straßburg erweiterte seinen Horizont vor allem um den Nachhall einer Freiheit, von der sein Vater und sonst kaum jemand im Großherzogtum etwas spüren konnte.
War die Revolution in Straßburg auch vorbei, hatte sie zwei Mal stattgefunden und Spuren hinterlassen. Bürgerliche Gesellschaft meinte in Frankreich etwas anderes als in Hessen. Was in Darmstadt durch hereingewehte Samen erst zaghaft spross, war in Straßburg schon erblüht gewesen und gewaltsam gekappt worden.
Aber es hatte Wurzeln geschlagen, die in den kleinen Freiheiten des Alltags ans Licht traten, unterhalb der Schwelle der auch dort allgegenwärtigen Beaufsichtigung. Spitzel schlichen auch durch Straßburg, und man musste achtgeben, was man sagte.
Was Büchner jedoch in Gießen nur unter konspirativen Bedingungen laut sagen konnte, worüber er sich nur verschlüsselt äußern durfte, konnte in Straßburg in größerem Kreis samt Sitzungsprotokoll erörtert werden. Ein paar Fetzen von Sätzen, in denen Büchner seine politischen Anschauungen einmal direkt ausspricht, haben sich auf diese Art erhalten. Er stellte einen Vergleich an zwischen historischen Taten, darunter die des Carl Ludwig Sand. Worin dieser bestand, wurde nicht verzeichnet, aber dass die anderen ihn abwegig fanden.
Er sollte sich also ganz dem Studium widmen, es abschließen, um einen Beruf zu ergreifen. Die Wahl, tote den lebenden Körpern vorzuziehen, hatte er bereits getroffen. Auch darin würde er sich dem Willen des Vaters widersetzen. In der Brautfrage war die Entscheidung ebenfalls längst gefallen, allein zögerte er die Bekanntgabe hinaus.
Dass er kein praktischer Arzt werden würde, musste dem Vater nicht so dringend mitgeteilt werden. Das hatte bis zum Studienabschluss Zeit. Minna drängte auf sein Bekenntnis zur Verlobung; sie sah sich schon als gefallenes Mädchen. Erst würde er diesen Skandal hinter sich bringen, bevor er dem Vater einen weiteren Schlag versetzte. Und noch ein Stück aus der Kette hakte.
Er sezierte lieber, als zu heilen. Und er scheute den zugehörigen Lebenswandel. An seinem Vater erlebte er, wie ihn der Beruf rund um die Uhr umtrieb und aufrieb. Eine Gelehrtenexistenz war entschieden weniger anspruchsvoll – sofern man sie nicht selbst dazu gestaltete. Was man unternahm, wie tief man sich auf die Forschung oder etwas ganz anderes einließ, unterlag dem eigenen Gutdünken, einem Fitzelchen Freiheit, aber bedeutender als im Stand des Vaters.
Man musste eine Wahl treffen, die ein Leben lang vorhalten sollte. Sich einen Platz, einen Titel, ein Amt suchen und verharren. War insoweit die Freiheit schon eingeschränkt, blieb weiterhin nur die Wahl unter den vorhandenen Ketten.
Ich werde doch noch eine Kinderrassel finden, die mir erst aus der Hand fällt, wenn ich Flocken lese und an der Decke zupfe. Das ließ er den Theaterprinzen sagen. Papis Prinz, zu Beruf und Heirat ausgeschrieben wie ein flüchtiger Verbrecher, als der er, von einem Bettelschatten begleitet, vor allen Pflichten flieht, um über Umwege zurückzukehren.
Zum Zeitpunkt der Niederschrift des Märchens von Leonce und Lena, zwei Jahre nach der Gießener Autopsie, schien Büchner gewählt zu haben. Als inzwischen Vertriebener nicht wesentlich unfreier als zuvor, schlug er den wissenschaftlichen Weg ein – ein Spielzeug wie jedes andere, um sich die Zeit bis zum Tod zu vertreiben. Ein Georgel wie das andere.
Als Arzt blieb dem Vater wenig Zeit für Forschung wie Lehre, die er ebenso leidenschaftlich betrieben hätte, wären nicht die unablässigen Ansprüche der Patienten gewesen. Als Arzt, im unaufhörlichen Umgang mit Menschen und ihren wahren und eingebildeten Krankheiten, wäre der Sohn tiefer denn als Wissenschaftler verstrickt in die gesellschaftlichen Verhältnisse, müsste sich Tag um Tag durch Fallstricke für seinen Freigeist lavieren.
Das wäre in Straßburg nur anderweitig prekär als in Darmstadt oder wo sonst in deutschen Landen. Früher oder später wurde er überall genauso anecken wie unter den Studiosi in Gießen.
Fehltritte
Alle Rücksichten, die er nehmen sollte auf den Vater, die Familie, auf Minna, könnten bereits hinfällig geworden sein, während er vor den Augen der Kommilitonen die Zerstückelung von Johann Dießens Leiche fortsetzte, und er würde seine Zweifel und Qualen zurücksehnen, wenn ihm keine Wahl mehr bliebe. Die Verschwörung könnte entdeckt worden sein, ohne dass er es wusste.
Student noch zwei Jahre; die gewisse Aussicht auf ein stürmisches Leben, vielleicht bald auf fremdem Boden! So viel hatte er Minna unlängst geschrieben. Es war die Wahrheit, aber sie verstand sie vielleicht nicht vollständig. Sturm würde aufkommen und ihn auf fremden Boden treiben, zu ihr. Aber nicht als Doktor, sondern noch immer als Student, der flüchten musste, weil er den Mund nicht hatte halten können.
Zum Schluss des Briefes zitierte er »Die Liebe auf dem Lande«. Für sie nur ein Liebesgedicht. Und doch eine versteckte Mitteilung. Irgendwann später würde er ihr erzählen müssen, was er ihr nicht schreiben konnte. Er hätte alles geschrieben, würde er sagen, nur unverfänglich, durch Auslassungen. Die Zeilen für den Code enthielt er Minna vor. Die eigentliche Botschaft.
Der »wohlgenährte Kandidat« war er selbst. Sie hatte ihn oft seine unverdiente Privilegierung beklagen hören und kannte seine Scham, weil es ihm durch Geburt besser ging. Nicht zuletzt deshalb tat er den »Fehltritt«.
Er hatte ein Wohlleben, er könnte es noch verbessern, aber er gestand sich nicht zu, es nur zu genießen, konnte es nicht selbstgefällig annehmen. Der materielle Unterschied, so belangvoll er war, bedeutete ihm nichts, weil er ihn von oben spürte. Er wusste um den Mangel, aber er kannte ihn nicht.
Er fühlte sich jedem Bettler unterlegen und wie um einen Teil seiner Menschlichkeit betrogen, weil er immer der sein würde, der von oben herab Almosen warf. Nicht seinethalben, sondern seiner Abstammung nach. Welches eigene Verdienst er hinzutun mochte, es baute auf dem väterlichen Erbteil auf.
Der Prädestination entkam er weder durch Großmut noch mörderische Arbeit. Ob er dem Vater als Arzt oder Wissenschaftler folgte oder nicht, folgte er ihm grundsätzlich, ging den gebahnten Weg. Was immer er abwerfen, welches Erbe er ausschlagen konnte – er hing an der Kette.
Die Vorzüge der Geburt wogen weniger als die Zwänge, die Annehmlichkeiten weniger als die Anforderungen. Ohne Familientradition, ohne die Vorstellungen des Vaters, ohne Ansprüche der Umwelt, unter anderen Umständen wäre er freier, wie der Tagelöhner oder wandernde Handwerker es waren, ohne Geschichte und Bindungen, ohne einen anderen Stand als eben den vorläufigen, den man einnehmen konnte auf dem Weg.
Freier nicht gegenüber der gegebenen Gesellschaft, aber gegenüber Gott und der Natur. Nackt und frei wie nicht weniger die Bürger, die es lediglich besser verstanden, ihr Ausgeliefertsein mit ehernen Notwendigkeiten der Geschichte, der Moral, der Politik, ihres Ehrgeizes oder ihrer Gier zu bemänteln und für andere wie für sich zu verbergen.
Er würde eine französische Pfarrerstochter heiraten, die seinem Stand in keiner Weise zuträglich war. Er würde aus Liebe heiraten. Was den Darmstädtern gefiel, war nie ein Kriterium für ihn, eher im Gegenteil.
Sobald der Vater von seiner Brautwahl erführe, würde er wissen, dass der Sohn sich keine Gedanken über den Betrieb einer Arztpraxis im Großherzogtum machte, über eine akademische Laufbahn oder eine gehobene Stellung in der Residenzschaft. Die niedrig geborene Ausländerin wäre ein Makel, wie gut auch immer als Arztgattin geeignet.
Um den Vater in Rang und Ansehen zu übertreffen, wie dieser es sich ausmalte, wäre nur die Einheirat in eine der angeseheneren Familien in Frage gekommen. Er selbst hatte es so gehalten. Die Verwandtschaft seiner Frau war an Schaltstellen und Führungspositionen untergekommen. Es konnte nur Aufstieg geben.
Das Niveau halten, gut und schön, und es mochte sogar sein, dass der Sohn das Ererbte verspielte – aber den Abstieg in Betracht zu ziehen, sich als Privatgelehrter zu verhausen mit einer Madame an der Seite, irgendwo in Frankreich, Paris wohl gar …
Mit einem der mütterlichen Verwandten würde der Sohn es sich endlich gehörig verderben und man kann nicht wissen, ob die Familie je die Zusammenhänge erfuhr, die sich in der Rückschau ergeben. Während er am Seziertisch des anatomischen Theaters der Ludoviciana stand, hatte er einen Schritt hinter sich, der ihn aller Nachstellungen des Vaters endgültig entheben könnte. Er hatte das Einzige getan, das ihn aus der Fatalität der Herkunft wie der Geschichte überhaupt – so weit es möglich schien – befreite.
Er konnte nicht mit Vorsatz Bettler werden oder Tagelöhner oder sonst etwas, das seinen Stand verleugnete, und ihm dabei wirklich entkommen. Er blieb ein Bürgersohn, der keiner sein wollte. Weil er es aber war, konnte er nur auf eine wahrhaftige Weise seinem Stand entkommen, indem er ihn gleichzeitig zur Geltung brachte bei dem, womit er ihn dementierte. Indem er aus guten Gründen verstoßen wurde von denen, die ihn so gut wie alle anderen in Ständen wie in Ställen einpferchen wollten.
Sein Verbrechen im Sinne des Gesetzgebers, das darin bestand, eine Wahrheit zu sagen, hatte er bereits begangen und einen ungedeckten Wechsel auf die Zukunft unterschrieben, auf die kein einzelner Vater einen Zugriff nehmen konnte.
Charivari
Büchner legte das Skalpell weg und trat zurück in die Reihen der Kommilitonen, die scheu oder widerwillig Platz machten. Er hatte es sich mit allen verdorben, und das würde sich auch nicht mehr ändern, solange die gesellschaftliche Verfassung blieb, wie sie war. Solange sie ihm nur die Wahl ließ zwischen freiwilligem Verstummen aus Vorsicht oder erzwungenem durch Strafe.
Er machte sich nicht die Mühe, die braven und angepassten Studenten zu verachten und kam mit ihnen in Gleichgültigkeit aus. Hingegen stießen ihn gerade jene Kreise ab, an die ehemalige Klassenkameraden Anschluss gefunden hatten, mit denen er zum Schluss in Darmstadt konspiriert hatte. Wenn man sie in die Schranken wies und aus einer Gastwirtschaft warf, dann weil sie betrunken lärmten und pöbelten, nicht etwelcher rebellischer Reden wegen.
Die ersten Begegnungen hatten Büchner genügt. Man sprach über die Fesseln der Frauen statt über die Freiheit und rührte an keinen einzigen ernsthaften Gedanken über Politik. Sie schwätzen großmäulig wie Pennäler. Dass man sie beargwöhnte, war ihnen nur recht. Hätte nicht das Odium der Revolution ihre Kneipen-Touren umweht, wäre ihnen etwas anderes eingefallen, um einzuschüchtern. Sie hätten dem Philister in einem anderen Modus Bekundungen ihrer Feindschaft aufgedrängt.
Sie trotzten nur, solange die Studentenfreiheit dauerte. Ihre Rebellion gegen Väter und Vaterland war Theater. Sie schlugen sich auf dem Paukboden mit Säbel durchs Gesicht, um sich für einen Kampf zu stählen, in den sie nie eintreten würden. Die harten Männer würden ihre Narben in Amtsstuben tragen und mit dem Ruch der Gewalt ihre Bediensteten kujonieren. Sie würden es anders machen als ihre Väter, ärger vielleicht, aber an denselben Stellen wie diese.
Wie ungefährlich die Burschen waren, bezeugte der Lärm, mit dem sie durch die Gassen zogen. Und immer als Herde, als Verband, als Pulk oder Kompanie. Man ließ sie ziehen. Man ärgerte sich über sie, ließ sie aber ungeschoren. Die Spitzel, die unweigerlich umgingen, hatten außer Umtrunk nichts zu melden.
Büchner hielt sich weit abseits. Er schämte sich für sie, dafür, wie leicht sie sich zufrieden gaben. Sie traten mal dem, mal einem anderen vor die Füße, aber sie blieben weitgehend straflos, solange sie als Masse auftraten.
Sie schwärmten von Carl Ludwig Sands Attentat, aber keiner hätte gewagt, dem Professor ein ernstes Wort der Kritik ins Gesicht zu sagen, vor dessen Fenstern sie im Schutz der Nacht »Katzenmusik« aufführten, wobei sie darauf achteten, dass er ihre Stimmen nicht erkennen konnte. Im Hörsaal trat keiner vor und beklagte sich über das, was sie ihm in absentia am Kneipentisch ankreideten. Es war der Mühe so wenig wert wie das »Charivari«.
Der Professor war so wenig an der Misere Schuld wie Kotzebue. Man könnte den Fürsten enthaupten, und nichts würde sich ändern. Marionetten allenthalben. Trotzdem musste man versuchen, die Fäden durchzuschneiden. Zuerst bei sich selbst.
Die Burschen hielten ihre Katzenmusik für eine Tat, während sie gerade als Lärm geduldet war. Katzenmusik kratzte den Staat nicht. Dagegen genügte ein einziges wahres Wort für die Einlieferung in den Kerker. Die Burschenschaftler würden es nicht finden. Sie suchten nicht einmal danach. Und würden es kaum verstehen, wenn es laut gesagt würde.
Charivari wurde das Getöse in Straßburg genannt, und es war ein Wort, das auf mehr passte als es vordergründig zu besagen schien. »Le Charivari« hieß eine in Paris erscheinende humoristische und satirische Zeitschrift, in der Honoré Daumier den König als Birne karikierte. Der Witz war erlaubt. Wehe dem, der es ernst meinte.
Metternich und Sand
Immer nur Worte waren es, die in die Geschichte eingriffen. Die Einzeltat, wie ein Attentat, war belanglos. Blut musste fließen, aber nicht unbedingt und nicht in Strömen. Ein Toter war schon genug. Der gezielte Anschlag, der Messerstich ins Herz der Armee des Feindes, reichte in alten Zeiten so gut wie heute, um einen politischen Konflikt endgültig zu entscheiden. Aber bevor überhaupt ein Ereignis in einer Welt der Geheimkabinette Folgen zeitigen konnte, wurde geredet.
Fürst von Metternich, der von Wien aus die deutsche Welt außer Preußen regierte, hatte gründlich erwogen, wie er auf August von Kotzebues Ermordung reagierte, und er kontrollierte die Verlautbarungen bis in den hintersten Winkel. Die hernach in Karlsbad gefassten Beschlüsse, mit denen die Obrigkeit der Tat erst den Sinn verlieh und eine lückenlose Überwachung aller als Demagogen zu Verdächtigenden anordnete, standen in keiner sinnlichen Beziehung zu dem Messerstich, mit dem der Student den Schriftsteller am 23. März 1819 in seiner Mannheimer Wohnung niederstreckte.
Wie man die Untersuchung führte, was der Öffentlichkeit mitgeteilt wurde über Ermittlungen und Ergebnisse – darüber entschied die Obrigkeit. Hätte das Polizeiregime Sands eigene Rechtfertigungsschrift und seine Tagebücher unterdrückt – niemand hätte erfahren müssen, mit welchem Anspruch er seine Tat beging. Man hätte allerlei munkeln können, aber erst die Publikation von Sands Bekenntnissen schuf die von Metternich gewünschte Klarheit.
Er ließ alle Welt von dem Zettel wissen, den Sand bei sich trug: »Todesurteil an dem Verräter August von Kotzebue, vollzogen nach den Beschlüssen der Universität Jena«. Das identifizierte die Burschenschaften mit Sand, obwohl er auf niemandes Geheiß hin gehandelt hatte. Der Misskredit bei der Masse des Volks wie bei den aufgeschlossenen Bürgern, in den der Mord die Freiheitsbewegung brachte, spielte dem Staat in die Hand, der die Zügel umso straffer anzog.
Welche Einwände Kotzebues Familie gegen eine Wiener Strategie vorgebracht haben mochte – sie hätte keine Möglichkeit gehabt, damit durchzudringen. Metternich übte seine Herrschaft über alles geschriebene und gedruckte Wort so weitgehend aus, dass die Bürger ihrer Briefe nicht sicher sein konnten. Hätte er entschieden, Sands Wahnsinn, seine nach heutigen Begriffen »psychische Störung«, statt seiner politischen Motive hervorzuheben; hätte Metternich Sands Verbrechen als Beziehungstat in den geheimen Kriminalreport zu verweisen statt in der Zeitung annoncieren zu lassen – es wäre ihm gelungen, Schweigen zu gebieten, ehe sich unabhängige Nachrichten vom Tatort hätten ausbreiten können. Metternich musste die Sands Worte nicht einmal verfälschen, nur zulassen, dass sie bekannt wurden. Er hätte sie nicht besser erfinden können.
Metternich ließ verbreiten, welchen Einfluss Karl Follen, der Vordenker der Gießener Burschenschaft, einer der ältesten und radikalsten, auf Sand gehabt hatte. Er ließ wissen, dass Sand die Gedichte Theodor Körners immerzu in der Tasche trug: »Drück dir den Speer ins treue Herz hinein! Der Freiheit eine Gasse!« Auf Körner und Konsorten ging das Gewand des »Bundes der Schwarzen« oder »Unbedingten« zurück, wie sich die Burschenschaftler in Gießen nennen ließen.
1813 hatten sich Freiwillige aus allen deutschen Landen in Breslau gesammelt, um in die Schlacht gegen Bonaparte zu ziehen. Ein preußischer Major stellte jene Freikorps auf, die Körner als »Lützows wilde verwegene Jagd« besang. Mit von der Partie waren auch Joseph von Eichendorff, der Autor des »Taugenichts«, und Friedrich Ludwig Jahn, der »Turnvater«. Extra Uniformen gab es nicht; die Krieger färbten ihren Alltagsrock in der einzig möglichen einheitlichen Weise, in schwarz, und versahen ihn mit roten Aufschlägen und goldenen Knöpfen, den Farben der Republik und später der Nation.
Die gegen Worte so empfindliche Obrigkeit konnte durch Sätze verletzt werden. Ein Stich oder ein Schuss gegen eine einzelne Person, wie herausragend und bedeutend sie sein mochte, vermochte weniger als gut gezielte Gedanken. Mord war ohne Bedeutung, wenn man über ihn schwieg. Erst die Auslegung verlieh der Tat Sinn.
Im Diplomatenschach war Metternich den Schwarzen turmhoch überlegen. Er wandte die Worte des Attentäters gegen seine Gesinnungsfreunde: Was waren das für Liberale, die das Prinzip der Pressefreiheit durch den Mord an einem Schriftsteller verteidigten! Kein Bürger, der gerne auch mal in einer anderen Zeitung geblättert hätte, war in seinem Kontor sicher vor ihnen.
Sand, der Märtyrer, der Gotteskrieger, fand Nachahmer. Drei Monate nach ihm zückte ein Apotheker den Dolch und ging los auf den Präsidenten der Landesregierung des Herzogtums Nassau. Er kam nicht zum Stich und wurde überwältigt. Bevor seine Verbindungen aufgedeckt werden konnten, bevor er unter der Folter gestand, mit wem er die Tat abgesprochen hatte, nahm er sich in der Zelle selbst das Leben.
Möglich und wahrscheinlich, dass Büchner Einzelheiten kannte, über die Historiker nur spekulieren können. Ein weitläufig mit dem Apotheker Verwandter, der in dessen Vorhaben eingeweiht sein könnte, der aktenmäßig belegt »viel Wesen« von Sand und seinem Heroismus machte, war maßgeblich an Büchners eingreifend gemeintem Wort, seinem Messerstich ins Herz des Drachens, beteiligt.
Der Zweck heiligt die Mittel, besagte eine Parole von Follens Gießener Schwarzen, und sie ernteten, was ihnen die Fanatiker damit eingetragen hatten. Die Stimmung, die sie angeheizt hatten, ohne den Topf darauf zu setzen, schlug ihnen wie eine Stichflamme ins Gesicht, als Metternich Öl darauf goss. Der Umsturz wurde nachhaltig unterbunden. Den Schwarzen blieb nur, in Revolutionsromantik zu schwelgen.
In weiten Kreisen kursierte Sands Anschlag in Moritatenbildern mit Heldenlegende. »Sand der Freie« am Scheideweg vor den Toren Mannheims, mit lässiger Geste seine Wahllosigkeit andeutend, die Mütze schief auf dem Kopf, ein Ränzel auf dem Rücken, mit dem Stecken schlenkernd; der Knauf des Dolchs ragt aus dem Gewande. Dann schleicht er mit dem Messer in der Hand aus der Tür, während der Hausstand sich um den Erstochenen bemüht. In einer unwahrscheinlich komfortablen Zelle mit Kissen und Decken auf dem Bett, dem Schreibtisch mit den Tintenfässern unter dem Kreuz an der Wand, singt der lockige Jüngling zur Gitarre. Auf dem Krankenlager verhört man ihn. In einer Kutsche bringt man ihn zum Schafott. Bevor er auf dem Stuhl Platz nimmt, schwört er zur Sonne, zur Freiheit. Der Henker neben ihm stützt sich auf sein Schwert wie ein Zierlöwe.
So bastelte sich die Staatsmacht einen passablen Freiheitshelden, der wie ein Metallstab den Blitz die Empörung ableitete, die sonst unvorhersehbar eingeschlagen hätte. Niemand mochte in Wahrheit mit dem wirklichen Carl Ludwig Sand tauschen. Träte er unversehens zu den Schwarzen am Gießener Wirtshaustisch, wie Christus den Jüngern in Emmaus erschien – entschieden weniger schön als auf den kolorierten Kupferstichen, zerlumpter als sie es jemals sein würden; ganz einer von denen, die nie Zugang zu ihren Kreisen gefunden hätten; ein Außenseiter in allem, der von seiner Sendung besessen war, seitdem er einmal eine Rede halten durfte, die ohne seinen Messerstich vergessen wäre und nur seine Verwirrung belegt – sie würden ihn so wenig erkennen wie die Jünger den auferstandenen Heiland.
Sand und Kotzebue
In Jena, dem Sitz der Urburschenschaft, war Sand durch Umtriebigkeit aufgefallen und in das Organisationskomitee der Wartburgfeier am 18. Oktober 1817 geraten. Er trat für einige wenige Sätze auf das Podium. Aus seinen stotterigen und krausen Wendungen sprach deutlich nur der Wille zum Fanal, der Fanatismus. Metternich genügte es, Sand selbst zu Wort kommen zu lassen, um seine vorgeblichen Ziele anzuschwärzen.
Sand, der Freiheit für alle wollte, bloß nicht für die Juden. Denen sollte es möglichst übel ergehen. Sand, der auf der Wartburg zu Ehren Luthers und der Befreiungskriege beim Scheiterhaufen Hand angelegt hatte. Zunächst wurde mit einem preußischen Ulanenschnürleib, einem hessischen Pracht-, Prahl- und Patentzopf sowie einem nassauischen und einem Wiener Korporalsstock in effigie die Militärherrschaft vernichtet. Dann kamen Bücher dran, in denen Burschen und Turner kritisiert wurden, unter ihnen eine »Geschichte des deutschen Reichs« von Kotzebue.
»Dort, wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen«, warnte Heine 1821. Wenigstens glaubte man sich berechtigt, Autoren zu erstechen. Geheimrat Goethe, der Kotzebue auf seinem Weimarer Theater vielfach hatte geben lassen, empfing Sand im November 1817 zur Autogrammstunde. Auch daraus zog der Feuerwerker Stärke. In jenem Jahr musste er hilflos zusehen, wie ein Freund ertrank. Niemand, dem das Verhalten des Einzelgängers auffällig werden konnte, hätte auf ein Trauma geschlossen.
Was unterschied Sand von Dieß, den Staatsverbrecher vom gewöhnlichen Totstecher? Gewiss nicht die revolutionäre Sendung, die allein in Sands Einbildung bestand und fiktiver war als die Eifersucht, in die Dieß sich hineingesteigert haben mochte vor seiner Tat. Eine Art Eifersucht schien bei Sand als Motiv noch aufdringlicher als der Anstoß zum Umsturz, den er vermeintlich hatte geben wollen. Kotzebue war so berühmt wie Sand werden sollte durch seine Tat.
Der Paria hatte einen sicheren Instinkt dafür, an wessen Fersen er sich heften musste, um größtmögliches Aufsehen für sich zu erregen. Unter dem Aspekt dieses Wahns war Sands Tat allerdings vortrefflich gelungen. Vom Attentat auf den nassauischen Regierungspräsidenten, und wäre es nicht gescheitert, hätte Metternich weniger Profit schlagen können. Kaum alle seiner Untertanen kannten Herrn Karl von Ibell; Kotzebue war europäische Prominenz.
Dennoch erinnert man sich seiner lediglich Sands Stich wegen. Kotzebues Zeit war bereits abgelaufen. Eine Weile war er auf dem Kamm der Welle mitgeschwommen. Eine vorübergehende Mode lang bediente er das Theaterpublikum mit den angesagten Phrasen und allfälligen Verwicklungen durch die gesellschaftliche Maßregelung der Gefühle. Stücke aus dem Baukasten, mit vorhersagbaren Figuren und Handlungen. Alles schon einmal gesehen. Und so schrieb Kotzebue auch. Mit gnadenloser Anpassung an den Beifall des Publikums allein war es nicht getan, er musste unablässig nachliefern. Bevor der Beifall für ein Stück abgeebbt war, schob er das nächste nach. Er war unvermeidlich geworden. Kein Theater konnte es sich erlauben, ihn nicht zu spielen.
Die Hektik, mit der er seinen eigenen Ruhm ankurbelte, mochte eine Ahnung davon enthalten, wie bald seine Welle ausgelaufen sein würde. Seine Stücke, wie das meiste zeitgemäß populäre Zeug, waren wie die Ritterromane. Unzählige davon wurden hunderttausendfach gelesen, aber sie mussten nicht verbrannt werden, um schließlich aus den Bücherschränken zu verschwinden und zu raren Sammlerstücken zu werden, über die nur wenige öffentliche Bibliotheken verfügen.
Im kollektiven Bewusstsein hat von der Mode der Ritterromane nur ein Buch überdauert, die Travestie aller anderen, der »Don Quichotte«. Und dessen 1000 Seiten haben nur Tausende der Millionen gelesen, die seine Geschichte kennen. Würde jemals wieder ein Theater einen Kotzebue spielen, dann in Gedenken an des Autors Ende, kombiniert mit der Geschichte seines Mörders, die er selbst erfunden haben könnte: einen in seine Gefühle verstrickten Jüngling im Kampf mit den Konventionen. Als Autor wäre Kotzebue noch zu Lebzeiten gestorben. Als Mordopfer wurde er verewigt.
Von den Kandidaten für den eigenen Ruhm, die dem Studenten ins Auge fallen mussten, erfüllte der Schriftsteller alle Voraussetzungen. Ein Staatsoberhaupt war bewacht. Ein hoher Beamter wäre nicht leicht allein anzutreffen oder gar, wie der Herr von Ibell, imstande sich zu wehren. Ein Schriftsteller, zumal so eitel wie dieser, war zugänglich. Ein Privatmann, ein Biedermann, der nicht auf Gewalt eingestellt war.
Die Vorbereitungen, die der Attentäter treffen musste, galten vor allem ihm selbst, seiner inneren und äußeren Verfassung. Er beschaffte sich zwei Dolche. Auf der Berliner Hasenheide, wo »Vater« Jahn 1811 seinen ersten Turnplatz eröffnet hatte, unterwiesen Studenten Sand in der Handhabung einer Stichwaffe im Kampf. Er belegte eine Anatomievorlesung, um das Herz nicht zu verfehlen.
Und doch ging es schief. Wie vorgesehen, traf er mit dem Ruf »Hier, du Verräter des Vaterlandes!« Kotzebue mitten ins Herz. Auf der Flucht aber, in der Tür, brachte ihn der vierjährige Sohn seines Opfers ins Stolpern. Wie zur Antwort auf das Entsetzen des Kindes rammte Sand sich den zweiten Dolch in die Brust. Dann weiter wie geplant: An der Haustür drückte er einem Diener sein Pasquill »Todesstoß dem August Kotzebue« in die Hand. Er taumelte auf die Gasse. Mit einem Schrei, in dem er Gott dankte, stach er sich noch einmal und fiel bewusstlos nieder.
Sand war, nach allem, was Metternich die Welt darüber wissen ließ, kein politischer Kopf. Er war schwermütig vergrübelt, in einsame Selbstbeobachtung versunken, abgeschnitten von der Welt. Alle Menschen machten mir das hippokratische Gesicht, die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs, und wenn dann die ganze Maschinerie zu leiern anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte … Der Messerstich sollte ihn im Gewaltstreich in Verbindung bringen mit der geheiligten Gemeinschaft, der er entfremdet war. Weniger die Welt als ihn selbst sollte seine Tat von Ohnmacht und innerer Unfreiheit erlösen.
Sein Opfer war kein Tyrann, zu dessen Tötung er sich be- und aufgerufen glaubte. Nur ein Schreiberling, der seine Tantiemen zuletzt mit russischem Spitzelsold aufgebessert hatte, damit in die Presse geraten und Sand vor Augen gekommen war. Der Mord erlöste den Attentäter von seinem privaten Elend und lieferte Metternich den Vorwand, die politischen Knebel noch enger zu drehen.
Sturmläufe
Der Deutsche Bund, über den der Wiener Fürst die Kontrolle ausübte, wurde durch eine Bundesakte zusammengehalten, eine Art Verfassung und eine teilweise gemeinsame Verwaltung. Bei den Sitzungen wurden Absprachen getroffen, aber keine Regierung ausgeübt. Jede Maßnahme bedurfte der Einstimmigkeit auf dem Bundestag, der in der zentral gelegensten der freien Reichsstädte, Frankfurt, zusammentrat. Auf wirtschaftliche Übereinkünfte verständigte man sich schwer oder gar nicht. Nicht der Wohlstand der Bevölkerung wurde verhandelt. Hauptzweck der Veranstaltung war die Abwehr der Revolution. Kam aus Wien, der Metropole des größten deutschen Landes, eine Direktive zu Maßnahmen gegen Liberale, Demagogen, Terroristen, konnten sich die versammelten Abgesandten der »Bundesländer« oft umstandslos einigen.
Die Antwort auf Sands Attentat bestand in einer verschärften Aufsicht über die Universitäten und einer Ausweitung der Zensur auf alle Druckerzeugnisse unter 20 Bogen, entsprechend 320 Seiten. Vor allem wurde eine »Bundes-Centralbehörde« in Mainz eingerichtet, die sich der »näheren Untersuchung der revolutionären Umtriebe« widmete und eigene Haftbefehle erlassen konnte – eine bundesweite Geheimpolizei zur Demagogenverfolgung.
Das Metternichsche System wurde zum Urbild des bürgerlichen Überwachungsstaates. Umso mehr, als sich das deutsche Bürgertum im Schatten totaler Kontrolle erst entwickelte. Was als bürgerliche Tugend gilt, geht zurück auf die Verhältnisse in der Welt der Geheimkabinette. Wie jenes »Ruhe ist die erste Bürgerpflicht«, Titel eines Romans von Zeitgenosse und Kriminalautor Willibald Alexis aus dem Kreis von Callot-Hoffmann.
Soweit herrschte Ruhe im Land – bis auf wenige Vorkommnisse im Zuge des Pariser Juli 1830. In Göttingen wurden Universität und Rathaus gestürmt. In Braunschweig kam es zur »einzigen erfolgreichen Revolution gegen einen deutschen Fürsten im 19. Jahrhundert«, heißt es in illustrierten Geschichtsbüchern.
Den Herzog bekümmerte nicht, wie das Volk darbte, wenn er Geld für seine Vergnügen ausgab. Die inzwischen Usus gewordene Verfassung verweigerte er und wollte weiter nach Gutdünken schalten und walten. Nachdem er im Hoftheater einer Oper gelauscht hatte, brüllten 500 Leute vor dem Schloss nach Steuererleichterungen und Brot. Die aufmarschierten Truppen ließen sich von der Menge überrennen. Der Herzog flüchtete, das Schloss brannte. Der Bruder des Herzogs übernahm die Macht und stimmte 1832 einer Verfassung zu.
Von diesem Herzog wusste Büchner eine sonderbare Geschichte zu erzählen, die sein Gewährsmann, ein Herr J., Minnas Vater möglicherweise, in den englischen Blätter gelesen, und die, wie er dazu bemerkt, in den deutschen Blättern nicht mitgeteilt werden durfte, deren Authentizität mithin fragwürdig war und ist. Demnach bezahlt der Herzog den Direktor des Braunschweiger Theaters für die sonderbare Manie, dass er dessen Frau im Kostüm bewundern darf. Um sich am Direktor zu rächen, überredet ein Schauspieler, dessen Name mir entfallen ist, einen Maschinisten, den Vorhang aufzuziehen, während der Herzog mit seiner Angebeteten die erste Szene spielt. Der Herzog gerät außer sich, zieht den Degen und ersticht den Maschinisten; der Schauspieler hat sich geflüchtet.
Kein Wort von einer gelungenen Revolution. Setzte Büchner diesen Hintergrund voraus, könnte er mit seiner Anekdote das Scheitern des Aufstands kommentieren, der lediglich einem neuen, ebenso argen oder womöglich noch widerlicheren Potentaten die Bahn bereitete.
Erst wieder auf dem Hambacher Fest vom 27. bis 30 Mai 1832 riefen die 30.000 Menschen, die auf Initiative der Burschenschaften zu dem Hügel mit der Burg in Thüringen kamen, unüberhörbar nach Freiheit. Wie schon beim Wartburgfest war Herzog Karl August von Weimar Gastgeber, der deswegen von seinen Regentenkollegen verachtet und von Metternich gehasst wurde. Zwei Monate vorher hatte er seinen Freund Goethe zu Grabe getragen.
Als Reaktion auf das Signal von Liberalen, Demokraten und Burschen wurde weiter an der Repressionsschraube gedreht. Statt in die Breite gingen die Freischärler in den Untergrund. Die Freiheit war geknebelt, aber noch nicht erstickt. Viel weiß man darüber nicht. »So verwunderlich es scheint«, ist einer neuesten Darstellung zu entnehmen, »die Forschung hat den damals gehäuft europaweit auftretenden Terrorismus der politischen Gesinnungstat bisher nicht einmal ansatzweise als zusammenhängendes Phänomen ernst genommen. Es existiert keine Geschichte der europäischen Attentate und der Wahrnehmung der gezielt angegriffenen Dynastien.«
Knochen zählen
War Sand aufgeschnitten worden? Hatte man bei ihm etwas entdeckt, dass den Messerstich zu erklären schien? Eine Verwachsung der Hirnhaut, wie nach einer schlecht verheilten Reizung oder Entzündung, wie Büchner sie selbst im Herbst und Winter 1833/34 durchlitten hatte und deren schädliche Wirkung auf die Tätigkeit des Organs nicht feststellbar, aber höchstwahrscheinlich war. Wenn man die Gehirne aller Insassen von Irrenanstalten und Gefängnissen aufschnitte und diesen oder einen ähnlichen Befund erhielte – wäre damit eine Aussage über die Herkunft von Wahnsinn und Verbrechen getroffen? Man müsste sich der Gehirne von Bürgern zum Vergleich versichern. Man müsste der ganzen Menschheit die Schädeldecken abheben, um das Material für einen verlässlichen Befund zur Verfügung zu haben.
Der Professor schloss die Anatomie-Stunde vor der Zeit. Der Prosektor scheuchte die Studenten aus dem Raum. Die hohen Herren blieben beim Leichnam zurück. Offenbar war noch ein Privatissimum vorgesehen. Im Hinausgehen könnte Büchner bemerkt haben, dass der Professor sich abgelegten Organen zuwandte und für die Herren, die sich dichter um ihn scharten, Befunde nachtrug, die er im Kolleg vernachlässigt hatte.
Eine forensische Obduktion hatten die Studenten nicht vorgenommen, aber an den Ergebnissen einer solchen war den Herrschaften anscheinend gelegen. Gab es Unklarheiten über Dießens Tod? Hatte man den Leichnam zwar von den Studenten zerlegen lassen, um ein spezifischeres Interesse zu kaschieren, erwartete aber vom Professor eine juristisch verbindliche Auskunft?
Der Prosektor ließ die Studenten nicht ziehen. Wie zur Bestätigung, dass die Stunde aus der Reihe fiel, wurden sie vergattert, das Haus nicht vor Ablauf der regulären Zeit zu verlassen. Dass die zukünftigen Ärzte vom Lehrpersonal angehalten wurden, Präparate zu sortieren und sinnlose Zerstückelungen vorzunehmen, die nicht im Glas, sondern im Abfall landeten, kam vor. Disziplinierungsrituale, denen der Anschein von Arbeit verliehen wurde, und bei der die schlechtesten Schüler am eifrigsten waren, als könnten sie durch Fleiß bei einer stupiden Tätigkeit ihr sonstiges Unvermögen ausgleichen.
Aber derlei Übungen fanden in den Räumen statt, die an das Auditorium angrenzten. Wo die Herren mit dem Professor und dem Leichnam ungestört sein wollten. Jetzt schickte der Prosektor die Studenten in den Gebäudetrakt, wo nur die beiden Kammern waren, in denen die Skelette aufbewahrt wurden.
Büchner könnte zwei Mal hier gewesen hier. Bei einer ersten Einweisung für die Neueingeschriebenen hatte man kurz die Türen geöffnet und nach einem Blick hinein wieder geschlossen. Als geschicktester Sezierer wurde er nie damit betraut, Knochen zu schälen und abzukochen oder in den Hinterkammern in die richtigen Fächer zu stecken. Einmal könnte er den Prosektor gebeten haben, die Systematik der Ablage in Augenschein zu nehmen. Damit hatte er dem Mann geschmeichelt, der als Kurator einer Sammlung von Mineralien und Tieren an die Universität gekommen und sich in ihr hochgedient hatte. Er klagte sofort über die unzulängliche Unterbringung und berühmte die Vielfalt der Sammlung, die zwar seit langem bestand, aber erst von ihm in die richtige Ordnung gebracht worden war.
Die Systematik interessierte den Studenten nicht. Er wollte es gesehen haben, wie dort Gebeine gelagert wurden. Auf den Anblick kam es ihm an. Auf den sinnlichen Eindruck, den er gedanklich längst in Beziehung gesetzt hatte zu den Säcken mit Körnern, die in dem Teil des Gebäudes lagerten, den er am Rande einer Vorlesung besichtigen konnte, während er einen Gang zum Abtritt vorschützte. Den Säcken entsprachen Holzkisten, den Körnern die Knochen. Oben das, was hineinging, unten das, was übrig blieb. Und beides in einer Substanz, die der Zeit so trotzte, wie Materie es vermag. Knochen waren das Dauerhafteste am Körper der Lebewesen, Körner das Haltbarste an dem, wovon sie sich nährten. Und beides endete als Stein und Staub.
Der Prosektor erteilte gerade so viel Studenten Anweisungen, wie in die beiden Räume passten. Die einen sollten ganze Schubladen auszählen, die anderen feinere quantitative Unterschiede feststellen und aufzeichnen. Um den Übungen einen Hauch von Sinn zu verleihen, war an der Wand eine Reihe Zettel aufgehängt mit den Ergebnissen vorheriger Zählungen.
Büchner würde sich abseits gehalten haben, allein an der Biegung des Korridors, in ziemlicher Entfernung von den anderen Müßigen. Er rätselte weiter darüber, was die Vorkehrungen bezweckten. Weshalb entließ man sie nicht, sondern schaffte sie in den hintersten Winkel des Gebäudes?
Unwillig lauschte er den Reden der Kommilitonen. Einer tat sich lauthals mit seiner Belesenheit hervor und schwatzte von Unterhaltungsromanen. Krudes Zeug, wie die Ritterromane, die Don Quichotte verrückt machten. »Für Unterhaltungslektüre hatte er keinen Sinn«, erinnerte sich später ein Schulkamerad. »er musste beim Lesen zu denken haben«.
Geistlose Unterhaltung fand er in der Natur. Wenn er ein Theater betrat, ein Buch aufschlug, wenn er Musik hörte, wollte er nicht abgelenkt werden, sondern zur Besinnung kommen. Was sich darin erschöpfte, die Zeit zu vertreiben, war verlorene Zeit. Die Kunst des betreffenden Erzählers wäre nicht belangvoller als der Einfall des Prosektors, die Studenten Knochen zählen zu lassen im Namen der Wissenschaft.
Dass die Zettel an der Wand hingen, bewies ihre Witzlosigkeit. Sie würden nie ausgewertet werden. Sollte vielmehr genau das signalisiert werden? Die Leere bewies sich selbst als Macht. Sie war umso fürchterlicher und kam damit ganz zu sich selbst, je absurder sie sich gebärdete. Wählte sie ihre Opfer sorgfältig aus, nach bestimmten Gesichtspunkten, waltete darin noch eine Art Vernunft. Erst wenn sie im Terror Freund wie Feind niedermetzelte, war sie als Macht vollkommen. Ihre Vollendung erfuhr sie als blinde Gewalt.
Der Prosektor war kein Sadist. Er quälte die Studenten weder mit Vorsatz noch Vergnügen. Er sollte sie aus den Augen schaffen und beschäftigen, und er tat es, so gut es ihm einfiel. Eine Art Unterhaltung, bei der die Zeit verging. Er hätte sie die Knochen putzen lassen können, was nicht sinnloser gewesen wäre als das Zählen. Der Vorwand, den der Prosektor anbot, sollte die Studenten mit der Schikane versöhnen und ihn entschuldigen. Er tat nur das Nötigste des Befohlenen. Wenn er quälte, dann nicht mit Lust. Seine Bemühung um Anschein bewies doch geradezu seinen Widerwillen gegen die erteilte Anweisung.
Während die anderen zählten, erzählte der eine weiter über den Roman, mit dem er die Zeit totgeschlagen hatte. Er gab den Inhalt einer Schauergeschichte wieder. Erzählte haarklein, was wann vorkam, als kenne er das Ende nicht bereits. Als könne man eine Geschichte, deren Ausgang man kenne, so darlegen, als sei man selbst vollkommen ahnungslos über den nächsten Satz. Als sei die Folge der Ereignisse selbst von Belang und nicht nur Erzeugnis einer Lesertäuschung. Freilich war noch keine Art des Erzählens erfunden, die eine Geschichte auf einen Schlag und unter allen Aspekten gleichzeitig darlegte. Was ein Bild konnte, war der Rede versagt.
Frankenstein
Durch ein vertrautes Wort könnte Büchner sich eingehört und dem Geschwätz gelauscht haben, statt es durch Gedanken zu übertönen. »Frankenstein«, sagte der Erzähler. Im vergangenen September, nachdem Büchner von Straßburg, von Minna fort musste, kurz bevor er sein Studium an der Ludoviciana fortsetzen würde, hatte er Muston ein Stück auf dessen Wanderung begleitet. Eine seiner letzten liebsamen Erinnerungen. Seit er in Gießen war, gab es nicht Schönes mehr für ihn. Alles Schöne war, wo nicht Gießen war.
Die Morgensonne ließ den Tau auf den Wiesen wie Diamanten funkeln, schwärmte Muston, als sie Frankenstein erreichten. Unter Gewölben von dichtem schattigem Laub gingen sie bis zu einer Schlucht. Als »magisch« empfanden sie den der Sonne, die, noch im Steigen und hinter dem Horizont, den Spalt im Gebirge von unten beleuchtete. Hatte er seither so einen Anblick gehabt und ihn mit jemandem teilen können? Büchner war ganz gelöst gewesen und hatte Muston anvertraut, wovon sonst nur jener gemeinsame Freund wusste, der seine Briefe an Minna beförderte. Ein an sie direkt adressierter Brief war anstößig; der Freund steckte ihr die Epistel heimlich zu.
Sie sei eine Heilige, sagte Büchner zu Muston, hielte sich aber für eine Hure. Er solle sie nur rasch ehrbar machen, sich öffentlich verloben, verheiraten. »Unterwegs erzählt er mir seine Geschichte«, schrieb Muston auf, »er ist in allem leidenschaftlich: im Studium, in der Freundschaft, in seiner Bewunderung und seiner Abneigung: Vergötterer der Französischen Revolution, Verächter Napoleons; er strebt mit seinem ganzen Wesen nach der Einheit der deutschen Familie; er hat sich in einer Art mystischen Anbetung in ein gefallenes Mädchen verliebt, das er auf die Stufe von Engeln zu erheben träumte. Ein Herz aus Gold durch und durch, sehr gebildet; ziemlich ausgelassen, dabei liebenswürdig, man konnte sich mit ihm nicht langweilen.«
Sie wechselten die Themen im Staccato. Disputierten über Sozialutopien und Religion. Muston kam aus einer Waldenser-Familie und schrieb an einer theologischen Doktorarbeit über die Sekte. Nach Darmstadt war er gereist, um im Schlossarchiv Akten einzusehen. Beim Abschreiben und Übersetzen half Büchner ihm 14 Tage lang. Religion erschien ihm dabei wieder als Relativum, wie absolut sie sich auch setzen musste.
In Straßburg hatte er beobachtet, wie aus einem Gedankengebilde einmal keine Kunstrichtung, kein Zweig der Wissenschaft, keine Philosophenschule, sondern eine Religion wurde. Der Saint-Simonismus war so fortschrittlich in seinen Ansichten, dass er sich hinten herum selbst überholte. Überwältigt von der Wahrheit der eigenen Sendung, kleideten sich die Anhänger gleich, dachten und handelten gleich und konsequent. Sie waren harmlos und friedlich, aber so absonderlich, dass sie sich zusammenrotten mussten, um nicht immerzu mit allen anderen ins Gehege zu kommen. Sie würden sich wie andere Sekten in ein Gebirgsdorf zurückziehen oder besser noch auswandern und in der Weite des nordamerikanischen Westens ihr eigenes kleines Paradies errichten. In Straßburg hatte er genau ein Jahr vor Dießens Zerlegung in der Ludoviciana auf dem Münster einen Sektierer getroffen und in einem Brief an die Familie sein Porträt gezeichnet:
Besagter hatte ein rotes Barett auf dem Kopf, um den Hals einen Cashmir-Shawl, um den Kadaver einen kurzen deutschen Rock, auf die Weste war der Name gestickt, an den Beinen enge Hosen mit Stehen, in der Hand ein modisches Stöckchen. Ihr seht, die Karikatur ist aus mehreren Jahrhunderten und Weltteilen zusammengesetzt: Asien um den Hals, Deutschland um den Leib, Frankreich an den Beinen, 1400 auf dem Kopf und 1833 in der Hand. Er ist ein Kosmopolit – nein, er ist mehr, er ist St. Simonist! Ihr denkt nun, ich hätte mit einem Narren gesprochen, und Ihr irrt. Es ist ein liebenswürdiger junger Mann, viel gereist. – Ohne sein fatales Kostüm hätte ich nie den St. Simonsten verspürt, wenn er nicht von der femme in Deutschland gesprochen hätte. Bei den Simonisten sind Mann und Frau gleich, sie haben gleiche politische Rechte. Sie haben nun ihren père, der ist St. Simon, ihr Stifter; aber billigerweise müßten sie auch eine mère haben. Die ist aber noch zu suchen, und da haben sie sich denn auf den Weg gemacht, wie Saul nach seines Vaters Eseln, mit dem Unterscheid, daß – denn im neunzehnten Jahrhundert ist die Welt gar weit vorangeschritten – daß die Esel diesmal den Saul suchen.
Wirtschaft und Wissenschaft, Kraft und Stoff der neuen Zeit, wurden von den Saint-Simonisten verherrlicht. Sie machten aus der Industrialisierung eine Religion und sich selbst damit überflüssig. Die Sekte predigte, was längst geschah. Während bereits die Eisenbahnen fuhren, bedurfte es keines Guru mehr, um eine Entwicklung zu beschwören, die längst begonnen hatte. Das Gleis war gelegt, und die Überhöhung und Verklärung durch die Sekte war bereits satirisch geworden.
Wie vernichtend Büchner über Religion dachte, hielt Muston nach einem Besuch im Darmstädter Schloss fest. Aus der naturgeschichtlichen Abteilung wechselten sie in eine Ausstellung mit Schmuck- und Kultgegenständen der katholischen Kirche vor der Reformation.
»Das da sind auch Fossilien«, feixte Büchner.
»Hier ja, in Frankreich nicht«, korrigierte Muston.
»Eines Tages überall!«
Das gefiel dem Theologen nicht: »Wenn dann nur nicht die Religion als solche unter den alten Krempel verbannt würde.«
»Es ist sehr wohl möglich«, dozierte Büchner in den Aufzeichnungen Mustons, »dass die kirchlichen Förmlichkeiten nicht immer der angemessenste Ausdruck des religiösen Gefühls bleiben. Der Gegenstand des religiösen Gefühls ist das Ideal, seine Ausformung in der Wirklichkeit ist der Forschritt: die Förmlichkeiten des Gottesdienstes sind keine solchen Ausformungen«.
Sie fanden ein Schema, das für Religion und Revolution gleichermaßen galt; Muston schrieb es auf: »Der Mensch erschafft die Welt nach seinem Bild: das heißt, jeder erträumt sie nach seinem Geschmack und gestaltet sie nach seinen Vorstellungen um; aber dieses Stück Arbeit geschieht nur in der Vorstellung; damit sich etwas davon verwirklicht, muss sich etwas von diesen Vorstellungen unter den Menschen ausbreiten, so dass alle oder wenigstens die meisten zum Wunsch nach der selben Veränderung gelangen.«
So oder ähnlich fantasierte Büchner in Mustons Notaten von den »vereinigten Staaten von Europa«. Die Nation, die eben zum Zeichen der folgenden Zeiten wurde, übersprang er. Als kriegerisch verteidigte Einsperrung, die sie ebenso bedeutete, wie ihn selbst die nahen Landesgrenzen vorerst retten würden.
Als Fremdenführer könnte Büchner seinen Begleiter mit einer lokalen Legende bedient haben, die sich an die Burg zu Frankenstein knüpfte. Früher habe dort ein Alchemist gehaust, Johann Konrad Dippel. Er wurde zur Hauptfigur in Ammenmärchen, die seine möglicherweise wissenschaftlichen Experimente in Spuk umdeuteten. Dass Dippel sich auf eine Burg zurückzog, zog ihm einen über seinen Tod anhaltenden Argwohn zu, dessen Berechtigung aufgrund seiner Verschanzung nicht mehr zu klären sein würde. In Handbüchern war sein Name nicht zu finden.
Erkenntnisgewinne hatten die Vorkommnisse wohl nicht erbracht. Dippel könnte nur einer von vielen gewesen sein, die wahrhaftig Gold zu machen glaubten und dabei nicht einmal unabsichtlich das Porzellan neu entdeckten, um ihr Leben zu retten.
In dem Roman, den der Studiosus den Knochenzählern in der Abseite der Universitätsscheuer referierte, ging es um einen Mediziner, der hieß wie die Burg des Alchemisten. Er glaubte, den Lebensfunken in der Elektrizität gefunden zu haben, im göttlichen Blitz, der vom Himmel fuhr. Mit Leichenteilen spielte man nicht. Die Studenten wussten besser als der Romancier, dass man den Menschen nicht beliebig auseinandernehmen und wieder zusammensetzen konnte. Kein Mediziner käme auf den Gedanken. Und infolge der Schwierigkeiten, die allzu kleinen Einzelheiten mit den Fingern zu verzwirbeln, ließ sich der Doktor Frankenstein möglichste große Organe liefern? Dass die Elektrizität das zweifelhaft zusammengestückelte Gebilde zum Zucken brachte wie die Froschbeine des Monsieur Galvani war vorstellbar. Mesmers magnetisches Fluidum konnte Tote nur in einer erst 1845 geschriebenen Schauergeschichte wiedererwecken, als die Verwandlung von Lebenden in Somnambule in Übersee modisch geworden war.
Ganz ungeheuer poetisch soll Frankensteins Geschöpf gewesen sein. Zur Erbauung der Demoiselles ergoss es sich wohl in Reimen. Der Leser könnte den finalen Zweikampf im Eismeer nacherzählen, als Büchner nach der Burg fragte. Keine Burg dabei, keine hessische jedenfalls, antwortete der Leser. Erschaffen werde das Monstrum in Ingolstadt, der Doktor käme aus der Schweiz. Aufgeschrieben habe es eine Engländerin, eine junge Frau, in ihrem Alter.
Zum Kopfschütteln. Wer eine Geschichte erzählt, sollte sie besser kennen als seine Zuhörer. Einen Menschen aus Leichenteilen das Laufen lernen! Als sei die Wissenschaft nur eine Abwandlung des Wunders, die Anatomie eine Filiale der Religion. Der göttliche Funke oder der Funke der Elektrizität, einerlei. Der Mensch nur ein Automat, bei dem man die Kurbel an die richtige Stelle setzen musste. Und eins, zwei, drei Umdrehungen, rannte er los und bückte sich und kroch oder trommelte und schoss, kratzte mit der Feder über Papier oder spielte Klavier.
Einen Automaten, der eine Kartoffel pflanzt oder zieht, ließen die Herrschaften sich nicht zum Pläsir bauen. Das hatten sie in Wirklichkeit und wollten es möglichst gar nicht sehen. Das Ideal des Automaten ist der Roboterdiener geblieben. Das mechanische Spielzeug, das über die Tische der Salons krabbelte, zeigte possierliche Tierchen. Galvanis Froschschenkel hatten außer dem wissenschaftlichen Zweck einen gesellschaftlichen Vorzug. Die Versuchsobjekte gehörten ohnehin auf den Tisch.
Was sich junge Damen in England unter Medizin vorstellten. Schauerliches, fürwahr, sich seiner eigenen Abgründe nicht einmal bewusst. Konnte die junge Dame sich es deshalb überhaupt vorstellen? Weil sie sich das aus Leichenteilen zusammengestückelte Geschöpf nicht wirklich vorstellen konnte? So dass es als verunstalteter Dichter daherkam. Wie Byron mit dem Klumpfuß, dessen Name der Romanleser jetzt fallen ließ.
Büchner würde aufgehorcht haben. Wie auch immer er Byron als Dichter geschätzt haben mochte, war dieser umgekommen, als er sich für den Freiheitskampf der Griechen engagierte. Ertrunken auf dem Weg in die Schlacht. Die Autorin, belehrte der Leser, sei über ihren Gatten mit Byron bekannt. Den Roman habe sie anlässlich eines Wettstreits um die gruseligste Geschichte entworfen. Nachts in ihrem Gemach, während über den Genfer See ein Gewitter zog.
Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, ließ Büchner einen echten Autor in einer erfundenen Geschichte sagen, doch seien sie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten.
Einen Menschen zum Leben erwecken. Ein Menschenretter werden, wie sein Vater war. Der kindliche Traum der Engländerin ähnelte Büchners eigenen Wunschgebilden. Die Novellenszene, in der er Jakob Lenz zu einem toten Mädchen führt, war seine eigene: Das Kind kam ihm so verlassen vor, und er sich so allein und einsam; er warf sich über die Leiche nieder; der Tod erschreckte ihn, ein heftiger Schmerz faßte ihn an, diese Züge, dieses stille Gesicht sollte verwesen, er warf sich nieder, er betete mit allem Jammer der Verzweiflung, daß Gott ein Zeichen an ihm tue, und das Kind beleben möge, wie er schwach und unglücklich sei; dann sank er ganz in sich und wühlte seinen Willen auf einen Punkt, so saß er lange starr.
Es war seine Szene und war es nicht. Zu Gott hätte er nicht beten können mit solcher Inbrunst. Aber auch nicht die Geister der Wissenschaft beschwören und sich aufreiben im Kampf gegen den Tod als Arzt, wie sein Vater. Tote Kinder gehörten zum Alltag, in jeder Familie. Den Büchners starb ein Sohn. Georg war fast fünf bei diesem Tod im Alter von viereineinhalb Monaten. Möglich, vielleicht wahrscheinlich, dass er bei der Autopsie eines toten Kindes durch seinen Vater daneben gestanden hat und belehrt worden ist.
Schaler Triumph, ein sterbliches Wesen zu erschaffen. Das Monstrum mordete die Familie seines Schöpfers, fuhr der Kommilitone in seinem Roman-Referat fort. Na also, soweit blieb die Autorin bei der Wahrheit. Und am Ende waren alle hin. Keiner überlebt. Vater, Mutter, Bruder nicht, die Dienstbotin, die Geliebte, das Geschöpf und der Forscher nicht. Kein einziger verlässlicher Zeuge. Alles nur Erfindung.
In Goldstadt
Die Wachträume junger Damen wären Büchner egal. Und Minna war nicht da. Der Leser hinter seinem Rücken hob auf die Grabräubereien ab, durch die sich der neue Halbgott des Feuers mit Material eingedeckt haben sollte. Verrottetes Zeug, das nicht einmal mehr zur Präparation taugte. Geschweige denn dazu, laufen zu lernen. Die Szenerie des Romans spielte auf eine Wirklichkeit an, die einem ab- und vielseitigen Medizinstudenten bekannt vorkommen könnte. Ab 1829 machte der Kriminalfall der »Wiederauferstehungsmänner« die Runde. In Edinburgh hatten Mister Burke und Hare einen ehrgeizigen Mediziner mit Kadavern für seine wissenschaftlichen Spiele versorgt, gestohlen aus einer Kapelle oder frisch getötet in einer Seitengasse.
Ingolstadt war der rechte Sitz für ein alchemistisches Schauermärchen. Ingolstadt war berüchtigt durch die Illuminaten, den verrufensten der Geheimbünde, aus denen die bürgerliche Gesellschaft erwuchs. Mit Verschwörungen für die Vernunft, mit denen sich die Herrschaften, die sich damals dazu zählen durften, die Zeit vor der Revolution vertrieben. Als in Paris die Bastille und die Köpfe fielen, wurden sie freilich auch schikaniert und verfolgt, als hätten ihre Worte eine wesentliche Mitwirkung gehabt. Als gingen die gefallenen Köpfe auf ihr geistiges Konto.
Erfunden von einem Professor in Goldstadt wurden die illuminierten Ideen von einem Adligen verbreitet, der sich als Beamter durchschlug und anonyme oder pseudonyme Pamphlete schrieb, bis er einen Bucherfolg hatte. »Über den Umgang mit Menschen« wurde zum Verhaltenscodex der bürgerlichen Gesellschaft. Kaum einer wurde so nachhaltig geschmäht wie der Freiherr von Knigge. Schwerkrank, auf zwei Pillen Opium täglich gegen die Schmerzen angewiesen, wurde er nicht lang vor seinem Tod strafversetzt, weil er metaphorisch nach der Guillotine für Despoten gerufen hatte.
Das Totschlagargument des Atheismus, gegen das auch Büchner verteidigt wurde, trifft die Illuminaten bis in die Gegenwart als Inbegriff finsterlicher Feindschaft mit dem Papst. Mit dem sie sich nicht sonderlich abgegeben haben. Obzwar die Leser die Maximen des Freiherrn von Knigge mit der Muttermilch verabreicht bekommen hatten, ließen sie sich unterhalten von den Fantasien einer hochwohlgeborenen Tochter aus England, die den »freien Herrn«, wie er sich selbst verstand, den hochbetrieblichen Briefschreiber, mit grabräuberischen Umtrieben in Verbindung brachte. Als würde das gutbürgerliche Gebaren sich selbst nicht trauen und die dunklen Wurzeln hervorbrechen ahnen. Als wäre die Etikette, was sie war, eine Tarnung für das Tier. Ein Korsett, das Knigge so weit ausspannte, als er es sich vorstellen konnte, um dem Verkehr seiner Idealgesellschaft zu regeln. Ein Katalog an Welt- und Lebensklugheiten, als Erfahrungsbericht angelegt und zur Nachahmung empfohlen.
Der Orden der Vernünftigen, für den Knigge die Trommel gerührt hatte, bis ihrer 500 beisammen waren, Fürsten, Herzöge darunter, Professoren und Verleger, Goethe und Herder, war zum Schreckgespenst schlechthin geworden. In manchem Beamtenhaushalt, in dem das Kindermädchen ängstliche oder wütende Worte aus der Amtsstube aufgeschnappt hatte, wurde vom Illuminaten als Schwarzem Mann erzählt, der nachts den Kleinen die Augen ausrupft. Die Illuminaten waren die Demagogen einer vorigen Generation.
Wie verquer das System seines Geheimbundes war, so abwegig, dass er ihm selbst abschwor, bevor es zusammenbrach, womit es genau das tat – war Knigge als Sozialutopist erfolgreich. Viele Verhaltensweisen, die er im eigenen Zwiespalt zwischen adliger Herkunft und bürgerlichen, zum Teil ärmlichen Verhältnissen beobachtet, erlernt und entwickelt hatte, sind bis heute von grundsätzlicher Gültigkeit. Die Verklemmung seines Buches auf Benimmregeln bei Tisch verschleiert die Einsicht, wie wenig sich seit seinem Erscheinen 1788 geändert hat.
Insofern sie als Verbindungsnetzwerke aufklärerische Gedanken verbreiteten, beförderten die Geheimgesellschaften die Revolution. Geheimniskrämerei war zwingend zum Schutz in einer Welt der Geheimkabinette. Meistenteils war sie unverbindliches Gesellschaftsspiel und beschränkte sich aufs Schwätzen. Wenn eine Geheimgesellschaft sich konkrete Ziele vornahm, konnte man sich das meiste Gerede ersparen. Bis auf die Betriebsnudel Knigge kannte ein Illuminat gerade mal den nächsten, den er anwarb; sie verkehrten per Pseudonym und in weitschweifigen Verschlüsselungen. Was sich wie Zauberformeln liest, waren Chiffren für Gedankengänge, die recht eigentlich zu entschlüsseln der Bund schließlich gegründet worden war.
Je nach Beleuchtung regte auch Unterhaltungsliteratur zum Denken an. Wenngleich nicht jene Leser, die sie bevorzugten, sondern nur, indem man ihre Geschichten nicht wörtlich nahm, um in ihnen zu lesen, was gerade nicht gemeint sein sollte. Das Bild blieb haften: der Mensch ein Automat aus Leichenteilen, den ein Funke belebt. Wie die junge Lady stellte es sich auch die ernsthafte Wissenschaft vor. Weshalb die Studiosi sich undeutlich angesprochen fühlen mochten vom Schauermärchen. Das Humanum ein mehr oder minder zweckmäßig eingerichtetes Getriebe aus Gedärmen und Organen.
Und der Funke – was war er war, woher kam er. Von Gott. Wenn es ihn gab. Das sollte man glauben. Weil man es nicht wissen konnte. In dem, was man wissen konnte, wies nichts auf ihn hin. Ob ein Zeus den Blitz schleuderte oder nur eine anatomische Uhr ablief, die ein himmlischer Handwerker aufgezogen hatte – das ging den Doktor nichts an, der an der Maschine genug zu rätseln hatte.
Lazarus
Eine Leiche zum Leben erwecken. Wenn nicht in realiter, dann in effigie. Wenn Dieß vom Seziertisch aufstünde und über die Bühne des Darmstädter Hoftheaters wandelte und seine Geschichte erzählte, sie mit Therese Peche in der Rolle der erstochenen Elisabeth Reuter nachspielte. Steh auf in Deinem weißen Kleid und wandle hinter der Leiche durch die Nacht und singe ihr das Totenlied.
Für eingreifende Worte kam vor allem anderen das Theater in Frage. Außerhalb der Universitäten und sonstigen Akademien das einzige Podium für eine verschlüsselte Botschaft von der leibhaftigen Wahrheit. Bücher erreichten nicht 2000 Menschen auf einen Schlag wie im voll besetzten Hoftheater und ihre Auflagen kaum die Gesamtzahl der Zuschauer wiederholter Aufführungen. Bücher mussten sich ganz auf die Worte, die Einbildungskraft der Leser verlassen, während auf der Bühne wirkliche Menschen auftraten und ihr Bestes gaben, um sich den vollkommenen Anschein von Schwermut oder Demut, Hochmut oder Anmut, Wehmut oder Unmut zu geben.
2000 Exemplare würde auch Büchners Flugschrift nicht erreichen, von denen die ungelesen weggeworfenen Ausgaben abzuziehen wären. Im Theater war das Publikum wie gefangen und musste sich anstrengen, die Aufmerksamkeit dem Bühnengeschehen zu entziehen. Theaterdichtung war ein Feld, auf dem Büchner seine rhetorischen Kenntnisse am weitreichendsten einsetzen konnte – wenn er sich sonst damit bescheiden musste, im Gebüsch von Ausflugslokalen zu einem kleinen Kreis von Mitverschworenen zu reden.
Er malte sich die schauerlich-groteske Szene aus. Im Publikum saß die Elite des Großherzogtums. Überhaupt nur vermögende Bürger und deren Anhang im Parkett, in den Logen. Er selbst als Sprössling im Oberrang. Und auf der Bühne an diesem Abend stand einer von denen, deren Existenz sie gelegentlich wahrnehmen mussten, seltener in den Straßen der Residenz, die vom Gesindel rein gehalten wurde, mit denen sie aber unbedingt niemals Umgang hatten, außer als Arzt oder Hofgerichtsrat. Um als Mediziner oder Jurist das kranke Glied am Gesellschaftskörper heraus zu operieren.
Ein Armer und Verbrecher, der ausnahmsweise einmal über ihnen stand und von der Bühne herab als Gleicher sprach, als Mensch, als gequälte Kreatur, umgetrieben von denselben Leidenschaften wie sie, nur unverstellter, unmittelbarer, unverhüllt durch die Konventionen nach Knigge. Kein poetisches Märchen wie »Romeo und Julia«, wo sich Tod und Verderben in ideale Schönheit verwandeln, und statt zu klagen in Reimen singen. Sondern der literarische Extrakt eines Bruchstücks der Wirklichkeit, in dem sich das Ganze spiegelte: das Großherzogtum, seine Verhältnisse, die Arroganz der Reichen und Mächtigen, wie sie selbst auf das Bühnengeschehen starrten.
Man versuche es einmal, riet Büchner sich selbst im Mund des Kollegen Lenz, und senke sich in das Leben des Geringsten und gebe es wieder, in den Zuckungen, den Andeutungen, dem ganzen feinen, kaum bemerkten Mienenspiel. Bei ihm selbst wird es so wenig gelingen wie bei den allermeisten seiner Zeitgenossen, die für solche Erkundungen nicht eingerichtet waren. Sie waren es nicht, weil ein Studium der niederen Lebensäußerungen weit jenseits der gängigen Betrachtungsweisen lag. Was man wissen sollte ist nicht untergegangen, sondern hat nie jemanden interessiert.
»Über die konkreten Lebensbedingungen der Soldaten ist nur wenig bekannt«, heißt es lapidar in einer Abhandlung über das hessische Militär. Was sich aus Büchners Dokumentardrama über einen mörderischen Soldaten heute noch lesen lässt, ist mehr als ein illustrativer Schnörkel zur Geschichtsschreibung. Das Beste, was man aus der Epoche der Geheimkabinette über ihre Drehorgeln wissen kann, ist, was Dichter wahrnahmen: Sehen Sie jetzt, die Kunst, geht aufrecht, hat Rock und Hosen, hat ein Säbel! Ho! Mach Kompliment! So bist brav. Gib Kuß! Wilhelm Müllers Leiermann (»Und er lasst es gehen / Alles, wie es will«) ist so realistisch wie er poetisch gemeint war. Büchners Einblicke in das Soldatendasein waren über seine Zeit hinaus zu genau und getreu, um gefragt zu sein.
Professor von Liebig und Kollegen experimentierten mit den Soldaten; sonst scherten sich die Gebildeten nicht um ihre Lebensbedingungen, nahm niemand sie zum Untersuchungsgegenstand. Ein Theaterstück Jakob Lenzens, das eigenen Erfahrungen unter Soldaten zum Thema machte, verstörte seine Zeitgenossen vor allem deshalb, weil es ihnen im handelsüblichen Gewand Ungeheuerliches erzählte. Als ließe er eine Horde Dießens auf ein Kaffeekränzchen los.
Die Leiche vom Seziertisch in Darmstadt auf der Bühne wäre schauriger als das Monster der Lady. Der wandelnde Leichnam aus dem Kerker, der den Honoratioren zu seinen Füßen sein Schicksal darbot. Wie ihn ein Offizier kujonierte, ein Doktor mit ihm experimentierte, und wie die Frau, die er liebte, einen Soldaten vorzog, der Uniform und der Befehlshaberschaft wegen. Wohinaus? / Weiß ich’s? / Also dort hinaus ist die Stadt. ’s ist finster.
Der Schrecken, sich wiederzuerkennen in dem, den sie ausgesondert hatten, mit dem sie ausdrücklich nichts gemein haben wollten außer dem Leib. Und, zugestanden mit notwendigen Einschränkungen, den Funken, den man Seele nannte. Dieser Funke aber sollte ein anderer sein als der eigene, ein wahnsinnig flackernder. Und deshalb lehnten sie sich doch wieder halb zurück. Also musste man es ihnen so vorschreiben, dass sie keine Wahl hatten. Kein Prozess, kein Urteil, keine Hinrichtung. Er richtete sich selbst und rettete seine Würde. Oder das Spiel endete offen. Mit Andeutungen hierhin und dorthin. Und die Bürger verließen das Theater unerlöst.
Utopische Idee. Schreiben könnte Büchner es, aber gedruckt werden musste es im Ausland. Und an eine Aufführung war nicht zu denken. Die Hof- und sonstigen Staatstheater würden es aus politischen Gründen nicht zeigen. Für die Wanderbühnen kam es allenfalls seines verbrecherischen Sujets wegen in Frage. Aber kein Klamauk balancierte den rüden Witz aus, die Pointen saßen nicht dort, wo das Publikum sie erwartete; es schien keine zu geben. Wer wollte solche Sätze aufsagen? In keiner Lesegesellschaft würde ein Dieß-Drama umgehen.
Im Gang zur Abseite, neben den Studenten, die schwätzten und mit den Knochen klapperten, würde Büchner um sich spähen. Sobald etwas den einsehbaren Ablauf störte, spannte er sich vorsorglich an. Das Privatissimum ging ihn so wenig an wie das Knochenzählen. Wie dieses als Ablenkung gedacht war, könnte die Konferenz am Seziertisch eine sein. Schleier hinter Schleier, Maske hinter Maske. Selbst in effigie verfolgt spürte er den alltäglichen Verfolgungswahn in der Welt der Geheimkabinette umso eindringlicher. Er musste auf der Hut sein und sah doppelt ein, wie sehr die Achtsamkeit auf den Anschein das Leben bestimmte. Hinter allem stand etwas anderes, in jeder Schachtel war die nächste verborgen. Wo alles zum Geheimnis gemacht und allein die Gedanken frei waren, waren es diese auch nicht mehr und vermuteten allenthalben eine Grenze, vor der sie zurückzuckten.
Allein in der Landschaft fühlte er sich am sichersten, am unbefangensten, beinahe geborgen. Seine Bude war gerade noch erträglich. Sie wäre der logische Ort für eine Verhaftung. Wenn die Stiege gesperrt war, konnte er nicht entkommen, nicht aus dem Fenster im ersten Stock, die glatte Hauswand hinunter, wo er vor der Haustür landete, an der die Verfolger warteten. Saß er am Fenster und starrte auf die Sackgasse, kam ihm seine Stellung wie ein Kennzeichen vor.
Er kannte sich in der Stadt so weit aus, wie nötig war, um sich zurechtzufinden, aber die vorsätzliche Ignoranz, mit der er sein Gastspiel begonnen hatte, hielt vor, und er merkte sich kaum einen Straßennamen. Er wusste, wo die Buden der Mitverschwörer lagen, wie die Hauswirte hießen, aber weitere Angaben, die er nie schriftlich bräuchte und mündlich zu vermeiden hatte, vergaß er. Man könnte ihn in den Verhören nach Adressen fragen, und er würde ehrlich mit den Achseln zucken. Allein den Namen der Sackgasse merkte er sich. Die Großmutter, die den ganzen Tag zum Fenster oder zur Tür hinausschaute, die er gefragt haben könnte, weil die steinerne Schlucht, deren Anblick stundenlang mit den Schriften auf dem Tisch wechselte, einen Namen verdient hatte, kannte wohl auch eine längst verschollene Legende zum Teufelslustgärtchen.
Die Herrschaften verließen den Anatomie-Lehrsaal. Kurz darauf rief der Professor nach dem Prosektor, der das Knochenzählen abbrach und die Studenten entließ. Im Hinausgehen warf Büchner einen Blick auf den geleerten Seziertisch.
3. Aufzug: Die Gasse
Fechtgänge – Scheusale – Deutsche Indifferenz – Wachensturm – Ein Meineid – Auf der Hut – Gießener Verhältnisse – Hass und Verachtung – Außenseiter – Hochzeitsvorbereitungen – Quellenproblematik – Gassenbiegung – Räubergeschichten – Freiheit und Ordnung – Freies Wort – Verräterschaften – Flugschriften – Verabredungen – Mystifikation – Revolutionsgebilde – Leichenliebe – Osterreise – Gesellschaft der Geächteten – Der Landbote
4. Aufzug: Nach Offenbach
Bursch heraus – Eisenstirn und Nasenbruch – Geräusch im Gebüsch – Nach Offenbach – Kuhls Stunde – Chuzpe – Ermittlungen und Echo – Abgang – Verraten und ausverkauft – Weidigs Marter – Nachricht aus dem Jenseits
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