Der Dichter als Verbrecher
Über Georg Büchner, nach dem hunderte von Schulen benannt sind, ist erstaunlich wenig bekannt. Sein 200. Geburtstag hat daran wenig geändert. Es ist bezeichnend für den Zeitgeist und wies voraus auf den Erfolg der so genannten »Rechtspopulisten«, dass 2013 kein Büchner-Jahr war, sondern landauf landab ein Antisemit und Germanen-Mythologe gefeiert wurde. Richard Wagners Opern sind eine Kunst für die Reichen und Mächtigen, die sich damit in Bayreuth und anderswo schmücken. Büchner hingegen gab den von diesen Unterdrückten, den Elenden und Verzweifelten Gesicht und Stimme.
Über Büchners Schicksalsjahr 1834, in dem er als Staatsfeind verfolgt und zum Flüchtling wurde, ist noch weniger bekannt als über sein übriges kurzes Leben. Man muss es sich vorstellen. Die Zeit, als er in Gießen am Hessischen Landboten schrieb, gehört in die Literaturgeschichte sowohl wie in die Geschichte der deutschen Politik, und es ist eine Kriminalgeschichte. Sie handelt von Meinungs- und Pressefreiheit wie von dem, was unter »Terrorismus« verstanden wird.
Nachdem sich für meinen von Januar bis Juli 2011 entstandenen Text keine Möglichkeit zur Publikation ergab, wandte ich mich anderem zu. Als ich die 86.000 Worte nun wieder vornahm, fand ich meine Darstellung unverändert zeitgenössisch und stelle sie hier in Portionen ein.
ZEITTAFEL. Georg Büchner: Leben und Werk
1. Aufzug: Der Medizinstudent
Theatrum anatomicum – Anschauungsmaterial – Wissenschaftsgeschichte – Brautbriefe – Nagel und Zagel – Verschwörung – Verfängliche Papiere – Ach, Peche – Verzeichnete Schriften – Verlesung von Verbrechen – Professors Äffken – Widerstand und Tradition – Bildgeschichten – Originaltreue – Erscheinungsbilder – Schiefe Waage
Theatrum anatomicum
Das Messer stach in die Brust. Durch Haut und Fett und Fleisch und Muskeln schnitt die Klinge bis auf die Knochen. Ein Spalt klaffte auf, Hände griffen hinein und öffneten ihn über dem Herzen.
»So, meine Haaren!« Der Professor wandte sich vom Seziertisch ab und dem Publikum zu, während der Prosektor weiter schnitt und die Leiche in fachgerechte Einzelteile zerlegte. »Een Individuum in seen bestn Mannesjahrn licht vor uns. Wer wern sehen, was Se daraus larnen warden.«
Werktags zwischen elf und zwölf Uhr wurde Anatomie gelehrt. Pflichtvorlesung für Medizinstudenten an der nach ihrem Stifter Ludoviciana benannten Landesuniversität des Großherzogtums Hessen in Gießen. Die jungen Männer, die in Heilkunde ausgebildet wurden, übten beim Aufschneiden von Toten, den Leib als Apparatur zu begreifen, in Gedärmen die Gestänge und Räderwerke oder in den Organen die Gebläse zu erkennen: die Drehorgel aus Fleisch und Gebein, auf der die Natur das Lied des Lebens abspielt.
Im Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1834 hieß der Schauplatz so hochtrabend wie veraltet »anatomisches Theater«. Einer zeitgenössischen Beschreibung nach handelte es sich um ein »leidlich großes als Auditorium benutztes Zimmer« im Parterre eines Wirtschaftsgebäudes. Nebenan zwei kleine Räume für die Übungen im Präparieren sowie eine Kammer mit Herzen und Nieren in Gläsern. Außerdem das Dienstzimmer des Lehrkörpers, ein Kabuff mit Blick auf den dunklen Innenhof.
Zwei staubige Stuben in einem anderen Trakt enthielten, was nach dem Sezieren und Präparieren übrig blieb: abgekochte Skelette. Die Gebeine hingen hintereinander in Schränken, an Haken entlang der Wände oder auf Gestellen; die Knochen lagen säuberlich in Schubladen oder unterschiedslos geschichtet in Kisten.
In diesem Haus waren die natürlichen Verhältnisse verkehrt. Die Ökonomie befand sich über der Akademie. Unten erwarben und speicherten Gelehrte ihr Wissen; im Obergeschoss bis unters Dach lagerten die Früchte, die Bauern dem Erdboden abgerungen hatten. Durch alle Etagen wimmelten Mäuse und Käfer, Motten und Wanzen. Die »Universitätsscheuer« galt als »eines der schrecklichsten Lokale, in welches man diesen Teil des medizinischen Studiums verwiesen finden konnte«.
Die ersten anatomischen Theater entstanden im 16. Jahrhundert in Italien und waren den Amphitheatern nachgebildet. Hier wie dort wurde mit Fleisch gespielt, mit Messern geschnitten oder mit Schwertern, Speeren und Lanzen gestochen. Der Seziertisch befand sich in der Mitte des Auges, von dem aus sich die Spirale der Stehplätze hinter einem Geländer nach oben wand; unter der Decke baumelte ein Gerippe. In dem »leidlich großen Zimmer« der Ludoviciana umdrängten die Studenten formlos den Leichnam.
Das beschränkte Auditorium war stets voll besetzt. An die 100 Söhne aus den führenden Familien des Großherzogtums waren für Medizin immatrikuliert und mussten in die vorhandenen Kenntnisse von den Funktionsweisen des Körpers eingewiesen werden. Der Seziertisch war aus Metall oder Holz. Am Fußboden vielleicht Kacheln, und in der Ecke eine Pumpenspritze, um wegzuspülen, was herauslief. Wannen für die Eingeweide, eine Ablage für das Besteck, der Tisch mit dem Mikroskop. Ein Spundloch im Boden zur Entsorgung des Abfalls. Ganz genau wissen lässt es sich nicht. Man muss es sich vorstellen.
Die Fotografie wurde gerade erst erfunden. Noch fünf Jahre bis zu ihrer ersten öffentlichen Präsentation vor der Pariser Akademie der Wissenschaften und ein ganzes Jahrhundert, bis Kameras in alltäglichen Gebrauch kamen. Bestenfalls eine Zeichnung könnte jemand gemacht haben. Eine Skizze in einem Notizbuch. Gewiss kein Gemälde, das niemand bestellt und bezahlt hätte und dessen Anfertigung anhand eigener Anschauung, an der Staffelei im Seziersaal, dem Maler nicht genehmigt worden wäre.
Radierungen oder Lithografien, die hätten überliefert werden können, mussten heimlich gedruckt werden, falls sie etwas zeigten, das der Obrigkeit nicht genehm war. Für die Verewigung eines alltäglichen Anblicks wie der Anatomie-Lehrstunde in der Ludoviciana wäre kein Student das Risiko eingegangen und hätte den Aufwand betrieben. Wie künstlerisch begabt er zudem gewesen sein müsste, um denen, die nicht dabei sein konnten, Einblick zu verschaffen.
Das seit 1825 bestehende chemische Laboratorium der medizinischen Fakultät machte später Furore. Mangels authentischer Abbildungen behelfen sich die illustrierten Geschichtsbücher mit einem Aquarell von 1890 oder einer undatierten Farblithografie, worauf ein Dutzend Männer, im Gehrock, mancher mit Zylinder, lässig wie in einem Modejournal neben Kesseln und Kolben lehnen. Das Motiv geht zurück auf eine Federzeichnung, die 1842 gestochen und gedruckt wurde. So könnte man es sich vorstellen.
Anschauungsmaterial
Ein bildnerisch ambitionierter Medizinstudent, der im anatomischen Theater einer Autopsie beiwohnte, wäre nicht auf die Idee verfallen, die allmähliche Entleerung des Inneren einer Bauchhöhle für die Nachwelt festzuhalten. Seine Lehrbücher waren voll solcher Abbildungen. Hätte ihn dennoch das Verlangen ergriffen, die Gestalt der Gedärme nicht nur zu schauen, sondern auf Papier zu bannen – und nicht irgendwelche abstrakten, sondern diese besonderen, individuellen – hätte er sich von einem Pedellen die Schlüssel zur Anatomie ertrotzt, erpresst oder erkauft, um in unbeobachteten Stunden immerhin die Präparate in sein Skizzenbuch zu übertragen – wäre er früher oder später, wenn nicht dieser, dann einer anderen Absonderlichkeit wegen aufgefallen und den Ordnungskräften überstellt worden.
Die Abweichung seines Blickwinkels, die Abzeichnung von Abseitigem hätte ihn verdächtig gemacht. Die Obrigkeit war hochempfindlich gegen alles, was vom schmalen Pfad der gestatteten Tugenden abwich. Sie fühlte sich leicht bedroht. Und lag richtig damit.
Die Demokratie war unwiderruflich in der Welt und die Uhr des Absolutismus in Europa abgelaufen. Das Erbrecht auf unumschränkte Macht würde verschwinden. Der letzte Versuch, die Weltherrschaft zu erringen und eine Dynastie zu gründen, das napoleonische Empire, war in deutschen Landen auch an einer Volksbewegung gescheitert, die sowohl für die Freiheit von der Fremdherrschaft wie für die nationale Einheit kämpfte.
Über seinen Untergang hinaus prägte Bonaparte den Erdteil. Ausgerechnet der Kaiser von eigenen Gnaden verbreitete in den von ihm unterworfenen Gebieten mit dem Code Civil, dem ersten bürgerlichen Gesetzbuch, die Grundsätze der Französischen Revolution. Nach und nach willigten Könige, Großherzöge und Fürsten ein, ihr Tun und Treiben wenigstens förmlich einer Staatverfassung zu unterwerfen. Den höchsten Herrn von Hessen hatten Unruhen im Zuge einer Hungersnot 1820 zur Annahme einer Konstitution gezwungen, die einem Landtag aus gewählten Volksvertretern Regierungsrechte einräumte.
Das Großherzogtum von Hessen und bei Rhein, durch Bonapartes Gnaden geschaffen und auf dem Wiener Kongress neu zugeschnitten, erstreckte sich über ein Viertel des gleichnamigen Landes der gegenwärtigen Bundesrepublik. Nummer neun nach Stimmrecht auf der Liste von 39 Staaten des Deutschen Bundes, voran Österreich und Preußen, die nur mit Teilen verbündet waren, gefolgt von Königreichen wie Hannover und Sachsen, über Großherzog- und Fürstentümer, die längst vergessen sind, bis zu den Freien Städten Lübeck an der Trave, Hamburg an der Elbe, Bremen an der Weser und Frankfurt am Main.
Das Großherzogtum Hessen-Darmstadt, umgeben vom Kurfürstentum Hessen, Herzogtum Nassau, Großherzogtum Baden und dem pfälzischen Teil des Königreichs Bayern, ist eine historische Marginalie. Außerhalb von Darmstadt und Gießen erinnert man sich der Großherzöge namens Ludwig, Vater und Sohn, vornehmlich eines Studenten der Ludoviciana wegen.
Das eingebildete Skizzenbuch des Studenten wäre vom Nächstzuständigen, dem Universitätsrichter, beschlagnahmt, einer Gerichtsakte beigefügt und vergessen worden. Falls nicht Brand oder Überschwemmung das Konvolut inzwischen vernichtet hätten, würde ein Archivrat zu entscheiden haben, ob die Zeichnungen der Aufbewahrung wert wären.
Bei flüchtiger Durchsicht könnte ihm das Bändchen entgehen. Und entdeckte er es und blätterte darin, müsste er es dokumentarisch zu wertschätzen wissen, um es nicht doch mitsamt der Akte dem Schredder oder der Verbrennung zuzuweisen. Die beamteten Historiker, für die der Archivrat überwiegend behördliche Schriftstücke sammelt und sortiert, operieren lieber mit Zahlen als mit sinnlichen Eindrücken, mit Worten in Kanzleideutsch nicht mit Grafiken. Für die Akte genügte, was über ein Bild geschrieben wurde.
Höhepunkt der angesagten Malerei der Epoche des mutmaßlich zeichnenden Medizinstudenten war die gescheiterte Hoffnung im Eismeer, das zwischen getürmten Schollen begrabene Expeditionsschiff von Caspar David Friedrich. Ein Zeitbild, Sinnbild einer Gesellschaft, die auf der Schwelle stand und auf der Stelle trat.
Der inspirierte Student würde seine Schwermut der Landschaft einschreiben, doch kaum seinen Professor im Lehrsaal abkonterfeien wollen. Hastig und unbemerkt hätte er die Züge des Lehrers hinkritzeln müssen. Der hätte nicht geduldet, dass man sich ein anderes Bild von ihm machte als mittels eines Ölgemäldes, das ihn so zu zeigen hatte, wie er selbst gesehen werden wollte.
Von einem Porträt des Anatomieprofessors ist nur eine Fotografie geblieben; das Original verbrannte im Krieg der Deutschen gegen die Welt. Wie die Karikatur eines Studenten, falls es sie gegeben hätte. Bei einem Bombenangriff auf Darmstadt in der Nacht vom 11. auf den 12. September 1944 gingen mit zehntausenden Menschen auch die meisten Zeugnisse von den Zuständen im Großherzogtum zu Grunde.
Die Akte, die für die Geschichtsschreibung die wichtigste gewesen wäre, war über den Untergang des Kleinstaates hinaus von den Behörden geheim gehalten worden und bereits in den 1920er Jahren unauffindbar. Mit der Aufklärung terroristischer Unternehmungen tut man sich zu allen Zeiten schwer.
Wissenschaftsgeschichte
Sektionen hatten ihren einstigen Schauwert eingebüßt. In den ursprünglichen anatomischen Theatern delektierten sich die Reichen und Vornehmen an der kunstgerechten Zerlegung der Körper. Die Inszenierung der Macht der Medizin über die Natur machten sich die menschlichen Machthaber zu Eigen.
Die nackten Zweibeiner, die ein antiker Philosoph mit gerupften Hühnern verwechselte, erwarben Eintrittskarten, um den Menschen als Gewebepuppe vorgeführt zu bekommen. Als deren Strippenzieher durften sich die Galeriebesucher fühlen.
Im Preis inbegriffen war das Festmahl im Anschluss an die Vorstellung. »Es gab Kaninchenfrikassee, Huhn, gekochte Hammelkeule, drei Karpfen, Lammfleisch, geröstete Tauben, vier Hummer, drei Torten, eine Pastete, Anchovis und verschiedene sehr gute Weine«, ließ ein Tagebuchschreiber von 1663 wissen. Nachdem die Augen sich das Fleisch auf dem Seziertisch einverleibt hatten, kam der Magen zu seinem Recht.
Seit jeher belieferte die Naturwissenschaft auch die Jahrmärkte mit Attraktionen. Zuletzt lockten physikalische und chemische Darbietungen die gebildeten und begüterten Stände in die Akademien, und in den Salons veranstalteten Experimentatoren wie Scharlatane laute und bunte Spiele mit den Naturgesetzen, knallten mit Gasen und färbten Flüssigkeiten.
Sagenhaft wurden die Schaustellungen des Signor Galvani, dessen Apparatur an den ohnedies aufgetischten Froschschenkeln den tierischen Magnetismus demonstrierte. Indem er die Muskeln in Kontakt mit zwei verschiedenen Metallen brachte, ließ der Physiker die Beinchen seiner Puppe zucken und zappeln.
Monsieur Mesmer griff noch tiefer in die Trickkiste der Natur. Unter den Bewegungen und Berührungen seiner Hände, die ein »Fluidum« erregten, fielen Menschen in Trance und verwandelten sich in Automaten. Der Magier glaubte, seine Kunden von körperlichen Krankheiten zu befreien. Wenigstens redete er sie ihnen aus, zauberte sie aus ihrem Bewusstsein. Ohne es zu ahnen, hatte er die Hypnose erfunden.
Um seinen Platz im Salon konkurrierte Mesmer mit dem heilkünstlerischen Theater, bei dem Guiseppe Balsamo als Graf Cagliostro ägyptische Geister beschwor. Ein Kriminalfall, in den er unschuldig verwickelt wurde, brachte den Hochstapler zu Fall. Im Folterkeller hatte eine andere Betrügerin den Wunderheiler als Anstifter ihres eigenen Coups bezichtigt, mit dem sie denselben Kardinal schröpfte, der schon von Cagliostro ausgenommen wurde. Dem adligen Geistlichen, Inbegriff des Ersten Standes, war vorgegaukelt worden, im Auftrag der Königin von Frankreich ein Halsband kaufen zu sollen. Niemand wollte das obszön teuere Stück von ausgesuchter Hässlichkeit haben, und nur ein Monarch konnte es bezahlen.
Zwar sprach das Gericht Cagliostro frei, aber nach der Untersuchungshaft in der Bastille war sein Zauber verflogen. Die päpstliche Inquisition gab ihm den Rest und ließ ihn im Kerker verkümmern. Goethe, selbst ein begnadeter Verführer, recherchierte die Kindheitsgeschichte des »Groß-Coptha« in Palermo; eine aussichtsreiche Spur, um das Geheimnis seiner Kunst zu ergründen.
Durch die »Halsband-Affäre« kam die gleichfalls unbeteiligte Königin endgültig in Verruf. Ihre Verschwendungssucht galt dem Volk lange als erwiesen. Das intrigante Gerangel im Schloss von Versailles um ein Symbol puren Protzes war einer der letzten Funken, an denen in den Straßen von Paris die Revolution zündete. Marie Antoinette hatte sich das Halsband nicht wirklich umhängen wollen – aber dass sie es hätte besitzen können und man ihr zutraute, sich damit zu schmücken, fachte den Jubel an, mit dem sie aufs Schafott geschickt wurde.
Unterdessen und zumal in Hessen war die Wissenschaft unter die Beamten gefallen, die aus allem ein Staatsgeheimnis machten. Der Anatomie-Lehrsaal der Ludoviciana war ein blickdichter Raum. Zugelassen nur für Studenten und ihre Professoren sowie berechtigte Amtsträger. Woran immer der Staat beteiligt war, fand hinter Türen und Paragrafen verbarrikadiert statt.
Und der Staat nahm an allem Anteil. Öffentlicher Raum wurde strengstens lizensiert. Das Großherzogtum war aus lauter Geheimkabinetten gebildet, zwischen denen Polizisten aller Arten patrouillierten. Im engsten Familien- und Freundeskreis wähnte man sich gegen Spitzel gefeit. Und konnte bitter enttäuscht werden. Echte Freiheit gab es nur im Freien. Abseits der Ansiedlungen, in der Einsamkeit der Landschaft.
Brautbriefe
Das anatomische Theater roch, womöglich stank es – nach den Ackerfrüchten über den Häuptern, nach Mäusekot und Gedärmen in allen Stadien der Verwesung, nach Spiritus und mancherlei anderem. Man muss es sich vorstellen. Einer der Studenten, die den Seziertisch umringten, war literarisch begabt. Man kann nicht wissen, ob er das Duftgemisch während der Sektion notiert hat.
Geschrieben hat er reichlich; aus seiner Schulzeit sind 650 Seiten erhalten. Was man außerdem von ihm lesen kann, passt auf 200 Druckseiten. Dichtungen und Briefe vor allem. Geschrieben für bestimmte Leser und mit Bedacht auf erwünschte wie unerwünschte Mitleser. Offizielle Verlautbarungen unterschiedlichen Grades. Werke, keine privaten Mitteilungen.
Hingeschmierte Zeilen wären der Mühe nicht wert gewesen, sie durch gesonderte Boten überbringen zu lassen, um der Postzensur zu entgehen. Angelegt als Ansprachen über die räumliche Distanz hinweg lesen sich seine Briefe an die Braut in Straßburg wie gegenwärtig und schlagen auch eine Brücke über die Zeit.
Eben komme ich von draußen herein. Ein einziger, forthallender Ton aus tausend Lerchenkehlen schlägt durch die brütende Sommerluft, ein schweres Gewölk wandelt über die Erde, der tiefbrausende Wind klingt wie sein melodischer Schritt. Die Frühlingsluft löste mich aus meinem Starrkrampf. Ich erschrak vor mir selbst. Das Gefühl des Gestorbenseins war immer über mir. Alle Menschen machten mir das hippokratische Gesicht, die Augen verglast, die Wangen wie von Wachs, und wenn dann die ganze Maschinerie zu leiern anfing, die Gelenke zuckten, die Stimme herausknarrte und ich das ewige Orgellied herumtrillern hörte und die Wälzchen und Stiftchen im Orgelkasten hüpfen und drehen sah, – ich verfluchte das Konzert, den Kasten, die Melodie und – ach, wir armen schreienden Musikanten, das Stöhnen auf unsrer Folter, wäre es nur da, damit es durch die Wolkenritzen dringend und weiter, weiter klingend, wie ein melodischer Hauch in himmlischen Ohren stirbt?
Langes andächtiges Schweigen. Mit diesen und ähnlichen vollendeten Satzgebilden könnte es ein Bewenden haben, man könnte aufhören, möchte das Schreiben ganz aufgeben aus Demut.
Und doch – die Walze leiert, die Moritat fängt erst an. Sie behandelt, wovon er der Braut nicht schrieb. Worüber man kein Wort von ihm kennt – außer vermittelt durch wenige Sätze, die sein engster Freund während der in Rede stehenden acht Monate laut amtlicher Protokollierung gesagt haben soll. Vom Orgellied, das er pfeifen hörte, ohne das Thema der Melodie anzudeuten, schrieb der Medizinstudent der Ludoviciana um den 7. März 1834. Ausnahmsweise ist die Datierung ziemlich sicher: Die Ferien fangen morgen in vierzehn Tagen an. Er zählte die Tage bis zum Wiedersehen mit Minna.
Er entschuldigte sich vielmals bei ihr für die schwer leserliche Schrift. Zu klein und verkringelt, zu eigenwillig in der Bindung der Buchstaben; häufig gebrauchte Worte schienen wie chiffriert. Versteckte und in sich verkrümmte Zeichen, die er zögerlich heraus presste.
Weil es eigentlich nichts zu sagen gab. Weil er Minna nichts schreiben konnte und durfte. In Straßburg würde er es vielleicht sagen können – während eine Anstandsdame, eine Tante oder andere Verwandte der Braut ihnen nicht von ihrer Seite wich. Er würde unverfängliche Wendungen benutzen und keinesfalls eine platte Mitteilung machen: »Ach, übrigens, ich begehe eben Hochverrat. Eine Zeit im Kerker ist das Mindeste, das mir droht.«
Stattdessen schrieb er: Ich hätte Herrn Callot-Hoffmann sitzen können, nicht wahr, meine Liebe. Für das Modellieren hätte ich Reisegeld bekommen. Er verscherzte die hippokratischen Gesichter, die Totenmasken, die in der Teufelslustgärtchen geheißenen Sackgasse vor seinem Fenster feixten, unberührt von Sommer- oder Frühlingsluft, und erinnerte Minna an die gemeinsame Lektüre der »Fantasiestücke in Callots Manier« von E. T. A. Hoffmann, geschrieben 1813, im Geburtsjahr des Nachtdichters, der sich darin spiegelte.
Der sich wiedererkannt haben mochte in dem verwirrten und verstolperten Studenten, der im »Goldenen Topf« einer vielköpfigen Schlange verfällt, die sich als Tochter eines wahnsinnigen Wissenschaftlers entpuppt, der den jungen Mann endgültig um den Verstand bringt. Es sei »zum unter die Drachen gehen«, seufzte man in Hoffmanns Erzählung. So tödlich verzweifelt gab sich der Briefsteller. Welche Gespenster sah er, die ihn in Minnas Augen zum Gespenst machen könnten?
Ich spüre, ich fange an, interessant zu werden. Das wurde er – was immer Minna sich dazu vorgestellt haben könnte. Jener enge Freund, auf dessen Aussage man für diese Zeit überwiegend angewiesen ist, teilte möglicherweise gerade das Zimmer mit ihm. Er blieb häufiger über Nacht und im Sommer »fast immer«. Sie heckten aus, was dem Briefautor nicht nur als solchem Aufmerksamkeit bescherte und weshalb außer den Literaturlexika auch die illustrierten Geschichtsbücher seinen Namen verzeichnen.
Er bat Minna um Verzeihung für ein langes Schweigen. Man kann nur spekulieren, wie oft er ihr schrieb. Ein Brief aus dem Februar, vier aus dem März – mehr sind nicht bekannt. Man weiß nicht, was Minna ihm schrieb und kann nicht wissen, was sie wissen konnte aus Briefen, die nicht überliefert sind.
Ob sie ahnte, was er sich justament unter Folter vorstellte und welches Lied seiner Orgel entleierte. Kein Brief mehr von ihm, nachdem er sie über Ostern in Straßburg gesprochen hatte. Keine Lügen und Verstellungen. Wollte sie keine Liebesschwüre mehr lesen, wenn er von Lebensgefahr schweigen musste?
So wenig wie die Brautbriefe Liebesgeflüster waren die Schreiben an Freunde oder Familie beiläufige Mitteilungen über den Stand der Dinge. Darüber erfuhr man aus ihnen nur, was er wissen lassen wollte – und das war fast nichts, soweit man wissen kann.
Jeder Satz seit 200 Jahren zitierfähig und tiefgründig, ohne dass es umständlicher Einleitungen und kommentierender Verschnörkelungen bedarf – lauter Leitsprüche für Abhandlungen, Zwischentitel für Essays, Anregungen für ganze Bücher. Kaum ein Wort dazu, womit er den Alltag vertrödelte.
Der Familie gab er Statements ab, gerichtet an die Eltern wie an die jüngeren Geschwister, wenn nicht für jetzt, dann für später. Nebenbei für die Verwandtschaft, die um Nachrichten einkam, und der irgendetwas erzählt werden musste.
Nagel und Zagel
Zu den intimsten Aufzeichnungen gehört eine Kritzelei am Rande eines Manuskripts aus seinen letzten Tagen. Ungezählte Exegeten haben sich seither darüber gebeugt und darin eine Darstellung des Mediziners im nebenstehenden Theatertext erblickt.
Dass die Professorenschaft der Ludoviciana Pate gestanden hat für den Typus des Doktors im Puppenspiel des Medizinstudenten, steht außer Zweifel. Der hohe Kragen, der Backenbart, die hagere Gestalt und die gezwungene Haltung – die Züge, die von der Fotografie des Ölporträts des Anatomieprofessors bekannt sind, ließen sich in die Skizze hinein oder heraus lesen.
Den Kopf neben dieser Gestalt kommentieren die konsultierten Exegeten nicht. Haare, Bart, Nase sind anders – die Variante des Professorenschädels oder eine zweite Figur? Sie könnten zusammen gehören. Einer steht hinter dem anderen, der bis zur Brust gezeigt wird.
Der unbeholfene Versuch, einen Barbier bei der Arbeit zu zeigen? Auch ein solcher tritt im Theaterstück auf, und es gibt eine Szene, in der rasiert wird. Ein Messer ist an dieser Stelle nicht zu erkennen, aber anderswo am Manuskriptrand.
In den Textzeilen, die sich an das ausgestellte Bein der Gestalt schmiegen und im Anschluss an die Zeichnung entstanden zu sein scheinen, begegnen sich zwei Bühnenfiguren auf der Straße. Wohin so eilig, geehrtester Herr Sargnagel, ruft der Hauptmann dem Doktor zu, der erwidert: Wohin so langsam, Herr Exerzierzagel.
Ein Zagel, ein Zopf hängt wohl am zweiten Kopf. In Hessen war das Anhängsel als Standeszeichen für Offiziere noch üblich, als es anderswo bereits aus der Mode war – bis in die 1820er Jahre, in welcher Zeit sich die Geschehnisse zutrugen, die fürs Theater gestaltet und dabei in eine Stadt wie Gießen verlegt wurden.
Die Zeichnung könnte ebenso gut in keiner inhaltlichen Beziehung zum Text stehen. Wie sie stellt alles, was den betrifft, der sie geschaffen hat, ein Rätsel dar. Verstreute Einzelteile, deren Zusammenhang man erschließen muss.
Die verlässlichen Daten der Biografie dieses Sonderbarsten unter den berühmtesten Deutschen passen bequem in einen tabellarischen Lebenslauf. So wenig Seiten, wie seinerzeit Gustav Schwab für die Götter- und Heldensagen rund um den Olymp oder die Brüder Grimm für ihre Märchen brauchten. Und obwohl er gestorben ist, lebt er weiter als vielseitig deutbare Ermahnung.
Skripte des Studenten gibt es so wenig wie einen zuverlässigen Hinweis, wann, wo und wie sie abhanden gekommen sein könnten. Wer es hätte wissen können, behielt es für sich oder wurde nie danach gefragt.
Man musste vorsichtig sein zu jener Zeit. Man band nicht jedermann ungefragt auf, was niemand wissen sollte. In einer Welt der Geheimkabinette verschloss man sich leicht in sich selbst. Die intime Neugier nachfolgender Generationen, die ihren Idolen an die Ränder aller Gruben folgen wollen, war nicht einmal zu ahnen. Und hätte die Zurückhaltung nur bestärkt und berechtigt.
Eine Locke von seinem Kopf und eine Handvoll Schriften mit Tintenspuren seiner Gedanken sind die einzigen Reliquien außerhalb des Zürcher Grabs. Verstreute Texte in billiger Tinte auf schlechtem Papier, fragil und kryptisch. Von einem Notizbuch, in das er mit Bleistift Worte, Sätze, Gedankengänge oder Bilder eingetragen hätte, ist nichts bekannt. Was allerlei bedeuten kann und nichts heißen muss.
Verschwörung
Zwei Monate nach der Leichenschau in der Ludoviciana vom 24. Mai 1834, die zu den erstrangigen Ereignissen der deutschen Literatur- wie der Kriminalgeschichte zählen könnte, wird der Staatsverbrecher und posthume Großdichter seine Wohnung in Gießen hastig verlassen und ungeplant zu einer geheimen Mission aufbrechen. Während er auf Wanderschaft war, durchsuchte das Scheusal dieser Story, der Universitätsrichter, sein Zimmer und ließ ein Schreibpult und/oder einen Schrank aufbrechen.
Die einzigen Schriftstücke, die den Argwohn des Verfolgers erregten, waren Briefe von Minna und den Freunden aus Straßburg. Sie wurden beschlagnahmt, weil der Richter sie erst übersetzen musste, um ihre Staatsfeindlichkeit zu prüfen. Sie erwiesen sich als so harmlos und unanstößig wie alles übrige Geschriebene, das im versiegelten Behältnis zurückblieb. Die Bude war selbstverständlich sauber. Ein geschnürtes Bündel lag spätestens seit Ende März für alle Fälle bereit. Was immer es enthalten haben mochte.
Ohne die verbliebenen Reste der amtlichen Protokollierung hätten die Bewunderer nicht einmal die dadurch vermittelte Ahnung von der Behausung. Von niemandem ist eine Zeile bekannt, der das Zimmer als den Raum betrat und betrachtete, in dem das erste sozialrevolutionäre Pamphlet deutscher Sprache seit den Bauernkriegen verfasst wurde. Das einzige, das neben dem jüngeren »Kommunistischen Manifest« noch in deutschen Schulen gelesen wird und inzwischen häufiger als jenes.
Als man das Werk zu würdigen begann, existierte der Raum nicht mehr, und auch die Lage des Hauses war zweifelhaft geworden. Die Ehrentafel an einer Mauer in Gießen ist ein so ungefähres Zeichen wie alle übrigen, die das Gedächtnis bewahren.
Was die Behörden mitteilen wollten von den »wegen der revolutionären Complotte der neueren Zeit in Deutschland geführten Untersuchungen« gegen die »im Großherzogtume Hessen in den Jahren 1832 bis 1835 stattgehabten hochverräterischen und sonstigen damit in Verbindung stehenden verbrecherischen Unternehmungen«, legten sie 1839 und 1844 in Büchern dar. Der Geehrte taucht in den Aktenzitaten nur am Rande auf, die relevanten Sätze füllen wenige Seiten. Man kann nicht wissen, wie umfangreich seine eigene Akte war oder was sie enthalten haben könnte, von dem man keine Ahnung hat.
Ein Exeget erforschte die Verschwörung gründlich und klaubte zusammen, was den Feuersturm von 1944 überdauert hatte oder anderweitig archiviert war: Kopien von Aktenstücken, Briefe der Rebellen und Dokumente aus ihrem Umfeld. Szenen und Nebenfiguren wurden beleuchtet und Irrtümer anderer Interpreten korrigiert. Zuweilen schien die Hauptfigur ein Stück aus dem Dunkel hervorzutreten – um von neuem Schatten verdeckt zu werden. Jeder Halbsatz wurde Gegenstand einer Abhandlung. Was er als junger Mann bereits gelesen und durchdacht haben sollte, war so reichlich, um ein Gelehrtenleben zu erfüllen.
Von der Hand des verdächtigen Medizinstudenten der Ludoviciana, dem mehr als eine Dichterin nachrief, sie sei es nicht wert, ihm »das Schuhband zu lösen« wie er Shakespeare die Schuhriemen, sind nur Zeilen von Briefen in unsicheren Lesungen oder Abschriften überliefert – soweit sie aufbewahrt oder wenigstens teilweise veröffentlicht wurden, bevor sie verloren gingen.
14 Brieffragmente aus Gießen zwischen November 1833 und Ende August 1834; außerdem Passagen aus späteren Schreiben, die auf die inkriminierten Ereignisse Bezug nehmen. Sein wortwörtlicher Anteil an seiner ersten gedruckten, seiner republikanischen Publikation, seiner ausschlaggebenden Teilhabe am Staatsverbrechen, wird ein Geheimnis bleiben. Sein Manuskript wurde nach der Bearbeitung ebenso zerstört wie die Vorlage für den Drucker Asche wurde, sobald die Setzplatten hergestellt waren.
Jede Aufzeichnung war verdächtig – mochte sie mit Bleistift in einem Heft gemacht sein, das nicht dem Medizinstudium zuzuordnen war, oder als Briefschaft vorliegen, die ohnehin strengen gesellschaftlichen Vorschriften zu gehorchen hatte. Durch ein Notizbuch, das er bei sich trüge, hätte er bei einer überraschenden Verhaftung erst Recht in die Bredouille geraten können.
Eine Randglosse im Kollegheft, die Karikatur eines Professors, das Zitat eines anderen Studenten könnte vom Untersuchungsrichter mit Mutwillen falsch ausgelegt werden. Wer vor sich hin kritzeln musste, sollte es im Kopf tun. Einen Satz, den der Verfasser als poetisches Bild gemeint hätte, mochte der Beamte kriminell interpretieren. Um Leser zu täuschen, verbargen viele ihre Botschaften in Reimen.
War es unabdingbar, Mitverschwörern eine Nachricht schriftlich zu übermitteln, wurde ein Code angewandt. Die »Candidatenschrift« fußte auf den Anfangszeilen des liebsten Liebesgedichts des Medizinstudenten: »Ein wohlgenährter Kandidat / Der nie noch einen Fehltritt tat«. Eine römische Ziffer bezeichnete den Vers, eine arabische den ausgewählten Buchstaben; die fehlenden elf wurden unverschlüsselt eingesetzt (b u I/1 II/9 I/6 I/10 I/9 I/13).
Gebilde wie »Die Liebe auf dem Lande« des wahnsinnigen Jakob Michael Reinhold Lenz bewunderte der Kandidat umso mehr, als er selbst unfähig war, sich lyrisch zu verstellen. Verse kann ich keine machen, schrieb er in das Stammbuch eines Freundes, und eine Phrase fällt mir eben nicht ein.
Ein anderes Mal um den Eintrag in ein Poesie-Album gebeten, behalf er sich mit einem Zitat: Die da liegen in der Erden / Von de Würm gefresse werden, / Besser hangen in der Luft, / Als verfaulen in der Gruft. Das Räuberlied hatte er zuerst in Gießen gehört, als er und der Bewidmete derselben Bande angehörten. Der Gruft eines hessischen Zuchthauses waren sie entkommen und liefen sich im Exil wieder über den Weg.
Der Moritatengesang könnte genau auf die Seelenlage des Stammbuchhalters abgestimmt worden sein. Dieser kehrte als einziges Bandenmitglied früh und nicht nur vorübergehend in die Heimat zurück. Wurde Bürgermeister und vielfacher Ehrenmann. Gab er in geselliger Runde Anekdoten aus seiner Jugend zum Besten, klang es wie eine wahre Räubergeschichte von Schiller oder Tieck.
Er hätte noch nicht wissen können, wer ihm das Schinderhannes-Lied ins Stammbuch schrieb und dass es wie Hohn aus dem Grabe klang für die mit den sonstigen vers- und phrasenlosen Schriften vertrauten Leser.
Verfängliche Papiere
Hätte etwas den Medizinstudenten gedrängt, die sinnlichen Eindrücke im Lehrsaal, den Verlauf der Sektion oder das Gehabe des Professors in Schriftzeichen festzuhalten – würde er es unterdrückt haben. Nie würde er einem Untersuchungsbeamten verständlich machen können, dass die Maus, die zwischen den Gläsern mit den Präparaten huschte und an die Innereien zu gelangen versuchte, für ihn beziehungsreicher war als das Pensum des Professors, das er im Schlaf aufsagen konnte.
Wie tödlich die Langeweile. Darin kam er sich so erfahren vor wie ein Prinz, der Sandkörner zählt, die ein Wurf in die Luft auf seinen Handrücken verschlagen hat. In Gymnasialschulstunden, die so zäh verrannen wie die Vorlesungen im anatomischen Theater der Ludoviciana, hatte er seine Hefte vollgekritzelt mit höhnischen Elogen auf die Münzkunde und die Geschichte der Hieroglyphen mit ebensolchen kommentiert. Eine Dung-Kaktee von Gelehrsamkeit oder gelehrte Dungkaktee ist eines seiner Fluchworte, das die Experten bis heute nicht zweifelsfrei entziffert haben. Pelasgische Buchstaben!
Die Geburt der Dichtung aus der Langeweile, eine Abhandlung anlässlich einer Vorlesung des Herrn Medizinaldirektors, gefolgt von Namen und Personenstand, Adresse, Ehrenämtern und gesammelten Titeln, zum Nutzen der gehobenen, gemeinen und ungeheimen Gesellschaft, verfasst von Gregor Büchen, Anwärter auf den ersten akademischen Gradus ad parnassum. Wie er sich in der Maus wiedererkannte, die an der Glaswand herauf krabbelte, abrutschte, das Gefäß umkreiste, um andererseits zu wiederholter vergeblicher Anstrengung anzusetzen.
O wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte!, hätte er ins Heft rufen können. Das ist eines von meinen Idealen. Der Untersuchungsrichter würde ihn ohne weitere materielle Verdachtsgründe einsperren, und ein Amtsarzt, wie sein Vater einer war, ihn begutachten.
Er würde das Schreiben auf solche Situationen beschränkt haben, in denen es ihm gelingen konnte, das aktuelle Blatt zu vernichten, bevor es in die Hände einer Amtsperson gelangte. Eine gelungene Zeile aufgeschrieben zu haben, war allenfalls eine Gedächtnisstütze. Wie oft noch würde er in einem Notizbuch blättern, sollte er eines besessen haben? Nichts wäre nachzuschlagen gewesen, ehe er an ein Werk ginge. Ein paar frische Blätter konnte er nötigenfalls bei sich tragen. Ein Griff in die Hosentasche, bevor er in eine Kontrolle geriet, und fort damit ins nächste Gebüsch.
Er malte sich die Szene aus, plante sie voraus, wenn er ziellos durch die Landschaft streifte. Das war seine Gewohnheit. Er mied die Stadt und ihre Menschen, so oft er konnte. Ich bin allein, wie im Grabe, beklagte er sich bei Minna; die Stadt ist abscheulich. Er hakte das Kaff ab: Hier ist Alles so eng und klein. Natur und Menschen, die kleinlichsten Umgebungen, denen ich auch keinen Augenblick Interesse abgewinnen kann. Aus der widerlichen Stadt vertrieben wurde er mit der ebenso widrigen Landschaft (eine hohle Mittelmäßigkeit in Allem; ich kann mich nicht an diese Natur gewöhnen) dennoch vertraut. Er lief viel herum um Gießen.
Später aus Zürich schrieb er an die wiederum Länder entfernte Minna: Jeden Abend sitz’ ich eine oder zwei Stunden im Kasino; Du kennst meine Vorliebe für schöne Säle, Lichter und Menschen um mich. Parkanlagen, Säle, Jahrmärkte, jede Art Menschengewimmel nutzten die Verschwörer als Treffpunkte. Der Sohn des Medizinalrats konnte sich leisten im Gesellschaftshaus des Botanischen Gartens einzukehren; er könnte eine Kutsche bezahlen, wenn er eine fand. Zu Fuß war er meistenteils schneller.
Eine Chaise brauchte für die 100 Kilometer zwischen Gießen und Darmstadt 18 Stunden. Zum Botanischen Garten, zum Nollschen oder Buschischen Garten, zur Heuchelheimer Mühle, nach Butzbach, drei Stunden Marsch von Gießen entfernt, lief er locker. Mangels verlässlicher Angaben lassen sich damalige Marschgeschwindigkeiten kaum schätzen. Ein Handwerksgeselle konnte 35 Kilometer laufen, Tag für Tag.
Der Delinquent prüfte seine Optionen und rechnete mit der Trägheit der Gendarmen. Wenigstens hatte das Studium der Langeweile seine Aufmerksamkeit geschult. Zerstreute Gemüter langweilten sich nie, weil sie von Tücken und Hindernissen umstellt waren. Nur wer ohnehin rasch und fortschreitend auffasste, konnte sich langweilen, wenn immerzu dasselbe Feld abgegrast wurde.
Wie in der Mathematik, die er verabscheute, weil in ihr, im dem gleichermaßen unendlichen wie abgeriegelten Gebiet der Zahlen, stets nur die immergleichen Kombinationen möglich waren, bei denen herauskam, was bereits gegeben war. In Latein oder Geschichte konnte er noch Dungkakteen pflanzen; in den Mathematik-Stunden erstarb selbst die Langeweile.
Wer diese Stunden durchstanden hatte, horchte nachher anders auf das winzigste Alltagsgeklimper. Und so weit wegdämmern und verträumen, sich selbst von sich oder durch etwas anderes hypnotisieren, konnte der Schüler sich im Gymnasialunterricht so wenig wie der Student am Seziertisch. Nie geriet er so außer sich, um nicht zu wissen, was um ihn herum vorging.
Wenn er die Gendarmen dennoch nicht früher sah als sie ihn und er das verbrecherische Schriftgut unbemerkt abwerfen konnte, würde er wenigstens so lange zu entkommen versuchen, um sich der Zettel so zu entledigen, dass man sie nicht ohne gründlichste Nachsuche finden würde. Sollten die Verfolger ihn stellen, könnte er irgendeine andere Peinlichkeit erfinden, die er habe verbergen wollen, als eine politische.
Er behielt Teiche und Gräben im Blick, in die er das handliche Papierbündel, gerollt oder gefaltet, versenken könnte. Die billige Tinte, die er benutzte, würde rascher verschwimmen, als die Gendarmen sich hätten entschließen können, wie sie das Beweisstück bergen sollten. Das Bündel war flugs in Fetzen gerissen und in den Wind verstreut.
Hier ist kein Berg, wo die Aussicht frei sei, Hügel hinter Hügel und breite Täler, hatte er Minna die Umgebung von Gießen vorgestellt, als er sich eben in Geschichtsschreibung eindachte und über die Französische Revolution las. Bald darauf oder schon währenddessen fühlte er sich in die Rolle des Verfassers und Verbreiters staatsfeindlicher Schriften ein, mit der er Geschichte schreiben würde.
Wie anders die Gegend war als die Aussicht vor dem Fenster seiner heimlichen Verlobten in Straßburg, als wie unsensationell, wie öde er die Landschaft empfand – ohne das gepriesene Münster mit dem erhobensten Weitblick – hatte sie den Vorzug der Übersichtlichkeit. Gab man acht, konnte man weit voraussehen, wer im Anmarsch war.
Ach, Peche
Wurde er dennoch mit einem verfänglichen Schriftstück erwischt, wären seine Sätze verdichtet und nicht unmittelbar verräterisch. Der Kontrolleur würde nur verstehen, dass er sie nicht verstand. Ein Theaterstück, würde der Inquisit erklären. Das war am Schriftbild unverkennbar. Mehr nicht.
Die Zeichen, die er im Rausch hinwarf, las niemand mühelos. Bei schlechtem Licht auf der abendlichen Landstraße war kein Buchstabe zu entziffern, nur ein mit Hebungen und Senkungen gegliederter Strom von Tintenlinien, der sich über das Blatt ergossen hatte.
Das Gekritzel sah allerdings aus wie Geheimschrift. Die Ziellosigkeit des Gestrichels, Tintenspritzer und -flecke passten jedoch nicht zu einer wichtigen Nachricht an jemand anderen. Und es war reichlich viel Text für eine buchstabenweise zu entschlüsselnde Botschaft.
Der Kontrolleur – wenn nicht der erste beste Gendarm, so eine der höheren Chargen – würde das Gekleckse für eine Art Hieroglyphen ansehen, deren Decodierung vor zwölf Jahren sich bis auf das hessische Land herumgesprochen haben könnte. Vom Theaterdichterdasein träumten zahllose junge Männer der gebildeten Stände. Auch das könnte dem Kontrolleur bekannt und damit unverdächtig vorkommen.
Weniger die Kunst stand in Rede als die Frauen. Die beeindruckendsten, die ein Darmstädter Jüngling kennen lernen konnte, waren Schauspielerinnen. Der Inquirierte würde seine Verehrung für Therese Peche darlegen. Er schriebe ihr eine Rolle auf den bezaubernden Leib, schwärmte er dem Kontrolleur vor. Hier, mit diesen Tintenklecksen. Wenn ihn das Dichten ankäme, kenne er kein Halten.
»Die Peche«, wie Frauen ihres zweifelhaften Standes sich nennen lassen mussten, gab Romeos Julia und das Käthchen von Heilbronn im Hoftheater. Da war er 15. Kein einziger Theaterbesuch ist belegt. Spielpläne gibt es, um mit ihnen zu raten, was er auf der Bühne gesehen haben könnte. Wissen kann man, dass er sich zu der Zeit, als Therese Peche in Darmstadt gastierte, für die Kunst zu begeistern begann, in deren Geschichte er sich, erstmals 100 Jahre nach seinem Tod, seit weiteren 100 Jahren einschrieb.
Als er gegenüber einem Freund, der ihm über Theatererlebnisse aus Wien berichtet hatte, anmerkte: Dem[oiselle]. Peche ist eine alte Bekanntin von mir, könnte damit nicht die Übertreibung einer stummen Verehrung von der Galerie aus gemeint sein, nicht einmal ironisch.
Das Engagement der »ersten Liebhaberin« endete als Gesellschaftsskandal. Der Großherzog hatte ihr seine Gunst erwiesen und sie auf Lebenszeit verpflichtet – doch sie wollte fort und er sie nicht ziehen lassen. Sie erkrankte. Die Atteste schrieb der Vater ihres erklärten Bekannten, der ihr häufiger in der Arztpraxis als im Theater begegnet sein könnte. Eine »Bekanntin« statt »die Peche«, die der Freund später auf der Bühne des Burgtheaters sah. Man könnte es sich vorstellen.
Dass Mediziner zur Poesie neigen, bezeuge Schiller, würde der verdächtige Student die Verteidigung seiner Schrift gegenüber dem Kontrolleur als harmlos ausbauen. Schiller war noch kein Nationaldichter, aber der Bestseller unter den heute noch namhaften Zeitgenossen. Goethes Massenerfolg mit den »Leiden des jungen Werther« war ein Menschenalter her und von ihm selbst seither unübertroffen; »Faust« war ein Lesestück für Literaturliebhaber. Heine war meistenteils verboten.
Nachherige Lesebuchautoren waren nur Eingeweihten geläufig. Grabbe ging 1836 in dem Gefängnis zugrunde, in dem er geboren wurde, als nur vermeintlich freier Mann. An der Tür des Gebäudes, in dem sein Vater Wärter war und zu dem er zum Sterben zurückkehrte, ritzte er als Kind kopfüber seinen Namen ein, wo er seither zu lesen steht.
»Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« schrieb Grabbe für die Lesegesellschaften. Uraufgeführt wurde das »Lustspiel« erst ein halbes Jahrhundert nach dem Erstdruck 1827. Den erfrorenen Teufel, der sich in einen heißen Ofen setzt und es liebt, den Finger in das Licht zu stecken, musste man sich vorstellen. In den Dialogen wurden Autoren der Damenzeitschriften verhauen. Noch waren das überwiegend Männer, aber dass Frauen vermehrt als Schriftstellerinnen antraten, erregte Grundsatzdiskussionen in den Lesegesellschaften. Der Streit zwischen dem Teufel und dem Dichter Rattengift ließ sich vergnüglich mit verteilten Rollen lesen.
»Ei«, staunt Rattengift, »wenn die deutsche Literatur in der Hölle das Hauptgeschäft ist, – was mag es denn darin für kuriöse Nebenbeschäftigungen geben?!« Der Teufel erwidert: »Nu, in den Nebenstunden machen wir gewöhnlich aus den Geistern, weil sie unsichtbar und deshalb auch durchsichtig sind, Fensterscheiben oder Brillengläser. So hatte neulich meine Großmutter, als sie die sonderbare Grille bekam, das Wesen der Tugend einzusehen, sich die beiden Philosophen Kant und Aristoteles auf die Nase gesetzt; da es ihr aber dadurch nur immer dunkler vor den Augen wurde, so machte sie sich statt dessen eine Lorgnette aus zwei pommerschen Bauern, und konnte nun so deutlich sehen, als sie nur wollte.«
Auf das Stück von Grabbe, den er als Autor geschätzt haben soll, könnte der Darmstädter Gymnasiast Zugriff gehabt haben. Schwerer erhältlich waren die 1804 erschienenen »Nachtwachen«, dessen Autor sich Bonaventura nannte und erst in den 1980er Jahren als Ernst August Friedrich Klingemann identifiziert wurde, den man bis dahin nur als Regisseur der ersten Weimarer Aufführung des »Faust« von 1829 kannte.
Exegeten haben Bezüge gelesen zwischen den Werken, die auf bewusster Kenntnis so gut wie auf verwandten Stimmungen beruhen könnten. Grabbes Dramen und die »Nachtwachen« waren gleichermaßen verkannte, zu ihrer Zeit verkantete Literatur wie das, was der anhand dieser angenommenen Vorschrift Ausgedeutete schrieb.
Abseits philologischer Verwandtschaften entdeckten die Schriftsteller des Expressionismus nach dem Ersten Weltkrieg die Werke Grabbes, Klingemanns und ihres hessischen Nachfahren gleichzeitig neu. Ein ähnliches Enthobensein aus der Zeit, ein verwandtes Querstehen zu ihrer Epoche, verband die Bücher aus der Ära des Umbruchs miteinander. Und durch ein in ihnen wie Vorausgeahntes verwandelten sie sich der Stimmung ihrer neuen Leser an, ein Jahrhundert später, unter ähnlich empfundenen Umständen.
Die Lesegesellschaften, in die sich ein in 100 Exemplaren erschienener Band von Heine oder Börne verirrt haben könnte, trafen sich nur unter Vorwänden oder Auflagen und wurden bespitzelt. Lesen durfte man gerade noch, musste aber acht geben, was man wie laut kommentierte. Man sprach mehr mit Gesten, wie dem »deutschen Blick«, dem Schulterblick nach Horchern. Heine oder Börne, die literarischen Wortführer eines politischen Richtungsstreits, kannte man vor allem als Namen aus der Zeitung, nicht durch Werke. Heine oder Börne kamen vor in erlaubten Polemiken gegen Juden.
Antisemitismus wurde auch in so genannten liberalen Reihen gepflegt und für republikanische Zwecke benutzt. Abfälliges über Juden durfte man im Großherzogtum so unverschämt anbringen wie überall. Üble Beschimpfungen, Hassausbrüche kamen in Gegenwart von Damen und bei Tisch sowieso nicht in Frage, und bei der Herrenrunde im Rauchsalon verstand man sich mit Andeutungen zu bescheiden, ohne ausfällig zu werden.
Studenten und Handwerker am Wirtshaustisch wurden deutlicher und brachten mit dem ausgestoßenen Volk alles erdenkliche Böse in Wort und Schrift in Verbindung: Zum Beschluß, mei geliebte Zuhörer laßt uns noch über’s Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt.
In der Lesegesellschaft legte man gar nicht erst auf, was bereits im Titel oder durch den Autorennamen anstößig war. Worüber jedes weitere Wort missverständlich aufgefasst werden könnte. Schiller und die »Räuber« waren lange genug tot, um der Verehrung anheim gefallen zu sein. War der Abgott 1805 noch hastig bei Nacht verscharrt worden, ließ man nach 20 Jahren seine Knochen suchen und fürstlich bestatten. Zweifelhaft blieb, ob der Schädel, den man als Schillers verehrte und den Goethe bedichtete, seiner war.
Schüler mussten das »Lied von der Glocke« auswendig lernen: »Gefährlich ist’s, den Leu zu wecken, / Verderblich ist des Tigers Zahn; / Jedoch der schrecklichste der Schrecken, / Das ist der Mensch in seinem Wahn.« Mit Goethes Himmelfahrt vor zwei Jahren konnte die Heiligsprechung der Weimarer Olympier im Duo beginnen. Sich auf die Lichtgestalten des Geisteslebens zu berufen, könnte auch dem Anführer einer Patrouille einleuchten, in die man auf der Landstraße zwischen Gießen und Butzbach hinein lief.
Als Theater-Enthusiast bliebe der studentische Wanderer verdächtig, aber nicht für das, weshalb nach sie nach ihm Ausschau halten könnten. Wo es Überschneidungen gab, würden sie kaum begreifen, und er würde es ihnen nicht verständlich machen. Eine wahrhaftige Erklärung wäre der Beweis, dessen sie bedurften, ein Geständnis.
Ein Lügengespinst aus dem Stegreif wäre zu dürftig. Er würde sich auf eine einzige Geschichte festlegen müssen, die sich so dicht wie möglich an die Tatsachen hielt. Bei riskanten Zusammenhängen müsste er sich auf Auslassungen verlassen. Bewegungen im Raum, beobachtete Begegnungen könnte er nicht leugnen, würde sie aber zufriedenstellend begründen müssen. Über das Unsagbare würde er schweigen, statt neue Verbindungen zu erfinden.
Für die Verhöre würde er einen ganzen Roman parat haben müssen, der alles enthielte, was objektiv über ihn festgestellt werden könnte, und zugleich mit dem, worüber die Behörden im Unklaren bleiben sollten, nicht in Widerspruch geraten durfte. Für alle Handlungen müsste er eine unverfängliche Erklärung anzubieten haben. Für jeden seiner Schritte bräuchte er eine durch materielle Beweise nicht zu erschütternde Ausrede. Nur ein Zeuge, nur einer der Verschworenen könnte ihn ans Messer liefern.
Vielmehr würde der Theaterdichter, vom dem man nicht weiß, ob er bereits einer war oder überhaupt davon träumte, einer zu werden, ganz auf die Umstände verzichtet haben, Schreibereien zu rechtfertigen. Für schlichte Worte, klare Sätze, wohlweislich erwogen bis zum geeigneten Zeitpunkt, an dem es möglich und nicht unmittelbar gefährlich wäre, sie festzuhalten, genügte der Speicher unter der Schädeldecke.
Durch die Schulung in Rhetorik, bei der sich ausgezeichnet hatte, war er darin geübt, sich Mengen von Sätzen einzuprägen. Die Werke, mit denen er schwanger gehen konnte, würden nicht wesentlich umfangreicher sein als die Reden, die er auf dem Gymnasium gehalten hatte. Viel schreiben war leicht. Die wahre Kunst war, jene Worte zu setzen, die alles enthielten, was sich klar und deutlich sagen ließ.
Verzeichnete Schriften
Man kann sich allerhand vorstellen. Ein Manuskript, das der Medizinstudent sicher verwahrt glaubte, und das dennoch verloren ging. Von einem Text aus seinen letzten Tagen geht eine solche Legende um. Sie könnte nur auf Missverständnissen beruhen, und er hat nie auch nur daran gedacht, einem als Lüstling verschrienen italienischen Autor ein Theaterstück zu widmen.
Pietro Aretino war als junger Mann Anfang des 16. Jahrhunderts in Rom mit Versen hervorgetreten, die er in der üblichen Weise verbreitete: geheftet an einen männlichen Torso auf dem Forum, Pasquino genannt. Pasquille, Anschläge auf dem Marktplatz, waren Volkes Stimme als zugestandene Einsprüche gegen die Verhältnisse. In seinen Dramen ließ Aretino die Figuren wie echte Menschen reden und nicht in Reimen stelzen. Sich selbst porträtierte er darin als Hebamme oder Kupplerin. Er legte sich mit einem Papst an und überlebte knapp einen Anschlag auf sein Leben.
Das Genie der deutschen Sprache, das einige neben, manche über den Großfürsten Goethe stellen, hatte sich wie Aretino mit einer Flugschrift erstmals zu Wort gemeldet. Er entkam dem Heldentod und starb als Naturwissenschaftler, der in seiner Freizeit Volksstücke verfasste. Man weiß nicht, ob er sich selbst als den verfemten Dichter sah, der Aretino war. Die Literatur überkam ihn nachweislich fünf Mal für begrenzte Zeit.
Der ersten Gelegenheit war er ausgewichen. Schulfreunde wollten in einem »Musenalmanach« zeigen, »wie die deutsche Nation durch ihre poetischen Repräsentanten vermittelst gemeinsamer Sprachengabe eine höhere Einheit darstellt«. Mit den Herausgebern und anderen war er als Gymnasiast zu einem Lesezirkel verschworen: in einer Höhle im Gebüsch eines Buchenwaldes lasen sie Shakespeare und disputierten über die Freiheit. In dem 1832 erschienenen Gedichtband ergriff der politisch wie poetisch Begabteste aus dem Kreis nicht das Wort.
Gefällige Verse machte er keine. Die untertänige Widmung an den Großherzog, die seine Freunde ihrer Anthologie voranstellten, könnte er geahnt haben. Seine erste literarische Wortmeldung verhöhnte die Herrschaft und stellte ein Verbrechen dar. Wie seine letzten bekannten Schriften. Wie alles, worüber er schrieb, Mord und Terror, Wahnsinn und Betrug betraf.
Dass man sich nach seinem Tod vorzustellen versuchen würde, was sich mit ihm und um ihn ereignet haben könnte, und nach jedem Fitzelchen von Tatsache suchen würde, zogen einige Mitlebende wohl in Erwägung. Weshalb sie jedoch noch lange über sein eigenes Verstummen hinaus Sorge trugen, dass nicht zu viel über jene Episode bekannt würde. Über seine Verschwörung gegen den Staat. Obzwar durch die verunglückte Revolution von 1848 nicht gestürzt, war die Obrigkeit angegriffen genug, damit der Hochverräter 1850 als Dichter gewürdigt werden konnte. Ein unzensierter Abdruck seines Erstlings kam weiterhin nicht in Frage.
Die vornehmste Rücksicht war auf den Vater des Verfemten zu nehmen, als Patriarchen wie als großherzoglich-hessischen Amtsträger. Er war beteiligt an dem Regime, das sein Sohn als verbrecherisch angeprangert hatte und dafür zum Verbrecher erklärt worden war. Der Vater starb fast ein Vierteljahrhundert nach dem Sohn. Noch zu seinen Lebzeiten veranlasste die Familie ihre Ausgabe der »Nachgelassenen Schriften« – für die alle endgültigen Vorkehrungen getroffen worden waren.
Wie das erste verstümmelt, wurde das letzte Werk, über die Untat eines anderen, zurückgehalten. Es ist bis heute nicht ganz entziffert. Aber stets war klar, wovon es handelte. Die Familie schob beiseite, was dem Sohn und Bruder zu dem Mord an einer Frau eingefallen war, nachdem er schon, in einem als Komödie verkleideten Totentanz, so zynisch über die Liebe und die Ehe geschrieben hatte, als über ein Automatenhandwerk.
Minna, die sich am ehesten hätte angesprochen gefühlt haben und genieren müssen, bewahrte das Manuskript auf und überließ es der Familie. Gleichwohl bezichtigten viele Exegeten sie, den fraglichen Aretino-Text vernichtet zu haben. Dass ein Mann seine Geliebte ermordet wäre ihr weniger peinlich gewesen als das, was die Geschlechter alle Tage miteinander tun. So kleinmütig soll die Frau gewesen sein, auf die seine Wahl gefallen war. An die er seine als ebenso schön wie geistvoll gerühmten Episteln adressierte.
Die Maria Magdalena an der Seite der Heiligen hat stets einen schweren Stand. Die glühendsten Anhänger und Jünger neiden ihr die intime Kenntnis, andere bringen philologische Argumente in Anschlag. Ein Ruhmredner, der beklagte, was mit dem Aretino-Text verloren war, das andere Verehrer gar nicht kennen möchten, stellte Minna in eine »Tradition«, zu der er die Witwen von Mozart, Kandinsky, Yvan Goll, Alban Berg zählte.
Als Schreckgespenst überhaupt wird Nietzsches Nachlass herauf beschworen, eine der in ihren Wirkungen fürchterlichsten Entstellungen der deutschen Geistesgeschichte, deren wesentliche Korrekturen freilich in Frankreich vorgenommen wurden. Verantwortlich für die Fälschung war indes eine Schwester.
Verlesung von Verbrechen
Im Text letzter Hand entzifferte die Familie, dass ein Doktor vorkam und befürchtete zu Recht eine Abrechnung mit dem Medizinerberuf, die den Vater kränken könnte. Schon der Titel des Konvoluts war grauslich: »Wozzuck« oder »Wotzuck« lasen die Brüder ratlos. Die Blätter zu vernichten, wagten sie nicht. So kamen sie in die Hände eines Journalisten, der sie mehr als 40 Jahre nach der Entstehung auch nur mit weiteren Verlesungen und vorsätzlichen Verschreibungen veröffentlichte. Erst 1922 erschien eine weitgehend authentische Abschrift.
Ein Jahrhundert lang erkannte man nicht, dass es sich um eine Bearbeitung wenigstens dreier wahrer Kriminalgeschichten handelte. Inzwischen weiß man, dass alles von ihm Bekannte auf anderem Geschriebenen beruhte, »dass er außer Briefen praktisch nichts geschrieben hat, ohne dass aufgeschlagene Bücher, Quellen, Exzerpte – oft zu hauf – neben ihm lagen«.
Man hat die »Bausteine einer Art Montage« gefunden, aus denen die Werke gebildet waren: »das engmaschige Geflecht historischer Quellen« im ersten Theaterstück; die »Materialiensammlung« und den »einen durchgängig herangezogenen Bericht« für die Künstlernovelle; die »zahllosen literarischen Anspielungen« in der Komödie; die «in mehreren Schritten nach und nach eingearbeiteten psychiatrischen Gutachten« im Verbrecherstück. Die hauptsächliche medizinische Quelle für das letzte Werk, die »Zeitschrift für die Staatsarzneikunde«, stand in der Bibliothek des Vaters.
Hätten die Brüder bei ihren Entzifferungsversuchen den Vater mit der Geschichte von »Wozzuck« bekannt gemacht – er hätte sich unweigerlich an die Causa erinnert, die keineswegs nur in jener Publikation, zu der er selbst beitrug, sondern in der Fachpresse überhaupt jahrelang behandelt wurde, und die aufkam, als er selbst in seinen Dreißigern war und mitten im Beruf stand. Die Brüder mochten den Namen nichtsahnend genannt haben, und der Vater hätte auf eine Art reagiert, die eine Veröffentlichung unterband. Bis zu dem Zeitpunkt, als sie ihre langwierige Entzifferungsarbeit beendeten, zogen sie den Vater offenbar nicht zu Rate. Sie hätten früher aufgegeben, wo schon der Titel zweifelhaft war und vom Vater identifiziert werden konnte.
Falls er zur Sprache kam, mochte der Vater die Sache mit einem Wort, ohne Erklärung, auf Patriarchenart, abgetan haben. »Wozzuck« als Name einer Person, die seine Geliebte ersticht, damit wüsste er genug. Ein unverwechselbarer Name. Wo immer er seither genannt wird, denkt man an das Theaterstück. Der Vater würde ihn selbst oft in den Mund genommen haben.
Ein weit über die Fachkreise hinaus erörtertes Thema, das sogar in den Zeitungen verbreitet wurde und auch außerhalb der Institute und Anstalten besprochen wurde, war sicherer Boden für Konversation in einer Welt der Geheimkabinette. Vaters Spezialgebiet als Debatte in der Presse. Mehr als einmal würden die Patienten ihn angesprochen haben, um seine Expertise beim nächsten Kaffeekränzchen zu verbreiten.
Ohne viel Verlesung wäre der Vater im Bilde, wenn die Söhne ihn mit ihren Vorbereitungen zur Veröffentlichung bekannt machten. Bevor die »Nachgelassenen Schriften« erschienen, hätte er in der einen oder anderen Weise sein Plazet gegeben – wie fern er sonst den Einzelheiten der Edition gestanden haben mochte. Die Entzifferung allein war eine zeitraubende Arbeit, die kaum vor ihm geheim gehalten worden war. »Und wie heißt das Ganze?« An der Entzifferung des Titels konnten sich andere als nur die Brüder versucht haben, sobald sie von deren Plagen hörten.
»Wozzuck? Nie gehört? Eine Mordgeschichte?« Herausreden konnte der Vater sich nicht, sobald er sich auf ein Gespräch über das verwünschte Manuskript einließ. 1847 wirkte er an einem Mordprozess gegen eine Gräfin als Gutachter mit. Inzwischen waren Gerichtsverfahren öffentlich; auf einem 1850, im Jahr der Nachlassausgabe des Sohnes, in einer Zeitung gedruckten Holzstich-Ansicht des Gerichtssaals war der Vater abgebildet. Einen der Aufsehen erregendsten Kriminalfälle seiner Zeit hatte er nicht vergessen.
»Wozzuck« oder »Watzuch«. Einer bringt eine Frau um, die verschiedene Namen hat, oder nicht; ein Messer ist im Spiel. Kurze Dialoge lasen sich manchmal leichter: Wohinaus? / Weiß ich’s? / Also dort hinaus ist die Stadt. ’s ist finster. Wenn die Familie besser wusste, wovon der Text handelte, verriet sie es dem Journalisten nicht, der das Manuskript übernahm. Noch 1925 kam der Text unter falschem Titel als Oper auf die Welt, ohne dass begriffen worden war, dass und wie er auf Tatsachen beruhte.
Ein Drama mit Dokumenten aus dem Jüngstvergangenen, der eigenen Kindheit, eine Geschichte aus Vaterszeit. Eine, die der Vater erzählt haben könnte. Die der Knabe als Moritat an der Drehorgel hätte hören können. Die ihm als längst überlebtes Bruchstück zwischen den Buden des Jahrmarkts vor Augen gekommen sein könnte, ausgerollt neben einem Kasten, der vom Vater auf den Sohn durch die Lande geschleppt wurde, allein oder zu zweit, einer für das Instrument, ein anderer für die Leinwand. Sie hätten umher ziehen können mit der Moritat von Johann Christian und Johanna Christiane, aufgepinselt in sechs oder neun Bildern auf gerade so wenig Bahnen Stoff, wie sich tagein tagaus tragen ließen.
Je ein Panel für die beiden Hauptakteure. Ein Bild aus dem Leben des Mörders, ein Bild mit beiden zusammen. Ein Bild von ihr mit anderen Männern; eines, auf dem er auf Arbeit geschunden wird. Eines aus ihren guten, eines aus ihren schlechten Zeiten, um das Finale hinauszuzögern. Die Schausteller hatten noch Stoff von anderen Moritaten, der nahtlos eingefügt werden konnte. Die Figuren blieben sich immer gleich, ein Mann, eine Frau. Charakteristische Merkmale wurden gelöscht oder hinzugefügt. Ein Messer war immer irgendwie dabei.
Zuletzt der Mord im Wald oder am Teich, es kam nicht darauf an. Er konnte tatsächlich in einer Wohnung geschehen sein, aber mit einem Tatort in der freien Natur lag man meistens so richtig wie mit dem Messer. Zur Not ließe sich das Messer durch eine Pistole ersetzen, ohne den ganzen Arm neu zu malen. Sah etwas krumm aus, aber das war als Blickfang nur Recht. Hauptsache, die Leute starrten auf das Bild, egal warum.
Die Überholtheit der Darbietung, der Anblick alter Leinwände verstärkten den Zeitsprung. Verfallen, erbärmlich, abgelegt, enthielt die Geschichte dennoch, in wenigen Strichen, in einem Armvoll kümmerlich getuschter Bilder und hinausposaunter Reime, eine Welt und Weltsicht, und sie sagte eine Wahrheit auf, für die die Wirklichkeit bürgte.
Ohne misslungene lyrische Verzierungen, abzüglich der schäbigen Gestaltung, blieb der Grundriss der Geschichte, den kein Sänger oder Maler sich ausgedacht hatte. Die Silhouette einer echten Gestalt: Franz war ein Soldat und hatte ein Kind mit Marie; Marie war ihm untreu, und Franz hatte ein Messer; nun sind sie beide tot.
So wie der Student sich, im Gefolge des Vaters, auf vergleichende Anatomie verlegte, folgte er auch in die Psychopathologie. Gewiss hatte er alles gelesen, was der Vater veröffentlichte, und war bewandert in dessen Bibliothek, die man sich stattlich, aber überschaubar vorstellen muss für einen schreib- wie lesewütigen Sohn. »Wozzuck« wäre ihm im Inhaltsverzeichnis der »Zeitschrift für Staatsarzneikunde« von 1825 oder der »Zeitschrift für die Anthropologie« vom selben Jahrgang kaum entgangen.
Lange bevor er sich im Sommer 1836 ans Schreiben machte, konnte er durch die 1826 zu Bamberg und Leipzig erschienenen Bücher und Broschüren oder die »Zeitschrift für die Zivil- und Kriminal-Rechtspflege im Königreiche Hannover« von 1827 den Fall kennen gelernt haben.
Des Sohnes Beschäftigung mit Mordgeschichten setzen die meisten Exegeten mit den für das eine ihnen bekannte Manuskript errechneten Daten an. Als müsse den Autor ein Geistesblitz befallen haben und als könne er keinen lange gehegten Plan umgesetzt haben. Wobei die Exegeten wissen, dass auch sein erstes Theaterstück ihn nicht so überfallartig ankam, wie er es tatsächlich aufschrieb oder lediglich glauben machen wollte.
Sie wissen es durch eine einzige, ein Jahr ältere Briefzeile: Ich studierte die Geschichte der Revolution. Zum ersten Mal? Und wann genau meinte das Tempus von »studierte«? Terminus post quem oder ante quem müsste hinter den meisten Überlegungen stehen, die anhand von Zitaten als gefasste Entschlüsse ausgegeben werden könnten.
Womit immer sich der Verewigte selbst mit dem eigenen Verbrechen in Verbindung gebracht hatte, war vernichtet, verloren oder hatte nie in Schriftform existiert. Er könnte ein Manuskript sicher verwahrt geglaubt haben, aber keine Vorkehrungen zu seiner Auffindung getroffen haben, als ihn der Tod als Typhus anfiel.
Aus vertrauenswürdiger Quelle weiß man von »einer Art Tagebuch«, das »reiche Gedankenschätze« enthalten haben soll. Es verblieb demnach bei Minna, die es vernichtete oder verlor, vielleicht nur verbarg. Man weiß es nicht.
Er starb als Flüchtling, ohne jede legale Verbindung, um an ein in und um Gießen verwahrtes Manuskript zu gelangen. Freunde und Mitverschwörer, denen er es hätte anvertrauen können – und sei es, um es ihrerseits zu verstecken – waren eingekerkert. Als Dichter hatte ihn freilich bis dahin keiner je wahrgenommen. Keiner beschrieb ihn besessen schreibend in der Dachkammer.
Die wichtigsten Zeugen zerstreuten sich in alle Winde. Einer starb wenige Tage nach ihm im Gefängnis. Drei weitere, zwei der engsten Freunde und ein Mitverschwörer, wurden unter der Bedingung aus der Haft entlassen, das Land zu verlassen. Zwei gingen sofort ins »Land der Freiheit«, die Staaten von Nordamerika, der dritte folgte später.
Sie erfuhren nie vom zaghaft sprossenden literarischen Ruhm ihres Genossen im Freiheitskampf, der erst Jahrzehnte nach ihrem Tod erblühte. Bevor jemand außerhalb der Familie hätte nachsuchen können, welche Spuren des Verbrechens erhalten wären, waren diese bereits verwischt. Was man sicher wissen kann, wurde durch das Kanzleideutsch der Strafverfolger gefiltert.
Wer am berufensten gewesen wäre, sich eingehend zu äußern, weil er am dichtesten dabei war und das Schreiben zu seinem Handwerk machte, das er bis ans Lebensende als Journalist für Zeitungen ausübte – schwieg über die näheren Umstände. Er kannte nur eine politische Kriminalgeschichte, für die er mehr gelitten als der Autor, der seinen Platz in der Geistesgeschichte des verlassenen Vaterlandes noch nicht eingenommen hatte.
Professors Äffken
Man kann es sich nur vorstellen. Wie die Studenten im anatomischen Theater der Ludoviciana um den Seziertisch die Belehrungen des Professors gelangweilt überhörten oder verstohlen begrinsten. Professor Johann Bernhard Wilbrand wurde hinter seinem Rücken und über seinen Tod hinaus von seinen Schülern verspottet. Sie imitierten den ausländischen Dialekt und die gestelzten Gesten des hageren Mannes von 55 Jahren. Geboren als Sohn eines leibeigenen Bauern in Westfalen, hatte seine Bildung ihn aus seinem Stand erhoben. Doch seinen Manieren ermangelte die Geläufigkeit bürgerlicher Umgangsformen. In seiner Unbeholfenheit spürten oder erkannten die Studenten die unterlegene Klasse.
Sie überboten sich mit Anekdoten vom Sonderling. Wie der Prosektor einmal, um sich und die Studenten zu amüsieren, Muskeln in anderer als gewohnter Weise abgetrennt und dem Professor vorgelegt hatte. Wie dieser mit der Pinzette an den Bändern zupfte und sein übliches Pensum hersagte, ohne die Unstimmigkeit zu bemerken. Dass ihn zu einer gewissen Vorlesung sein Sohn in den Hörsaal begleitete. Wie der Professor erklärte, dass »der Mensk« zwar noch über die Muskeln verfüge, um die Ohren zu bewegen, sie jedoch, anders als »die Äffken«, nicht mehr einsetzen könne. Wozu er seinen Sohn vortreten und mit den Ohren wackeln ließ. Legendär die Lektion, die der Professor mit der Aussage begann: »De Philosophie kann nicht gelahrt un nicht gelarnt waren!« Woraufhin alle den Hörsaal verlassen haben sollen, um ihre Zeit nicht weiter zu verschwenden.
So könnte es gewesen sein. Die Karikatur des Naturwissenschaftlers schlechthin, in die sein genialer Schüler Wilbrands Züge einzeichnete, schrieb als namenloser Doktor Literatur-, Theater- und Operngeschichte. Wie der wirkliche Professor war, wird stets überblendet werden von dieser Verdichtung. Gegen die schauerlich-groteske Gestalt, als die ihn der Student sah, verblasst sein wahres Gesicht.
Nur des Studenten wegen kommt der Professor in Betracht und nur in dem, was jener von ihm wahrnahm: Gebaren und Sätze. Sonderbarkeiten, die sich dem Gedächtnis einprägten. So merkwürdig allerdings, dass noch ein anderer Student sie an seinem Lebensende in Einzelheiten ausmalte. Als er seine »Erinnerungen und Rückblicke« aufschrieb, war das Werk des Berühmten bereits in der Welt. Man kann nicht wissen, wie die dramatische Dichtung die autobiografische Prosa beeinflusste.
Als Versammlung »bizarrer Sonderlinge, trauriger Ignoranten, kleinkrämerischer Querköpfe« charakterisiert das Erinnerungsbuch von 1891 das Kollegium der Ludoviciana. Noch einmal ein halbes Jahrhundert nachher folgte dem ein Literaturwissenschaftler und nannte die Professoren »eine rechte Witzblattsammlung bösartiger und vertrottelter Gestalten«. Weitere 50 Jahre später milderte ein Medizinhistoriker diese harschen Abschätzungen. Schüler reden selten gerecht über ihre Lehrer. Genauer kann man es nicht wissen. Man muss es sich vorstellen.
Wie würdelos sich der Sohn bei der Demonstration seiner Ohrmuskeln vorgekommen sein musste, könnte der Student gegrübelt haben, dessentwegen man den Lebensäußerungen des Professors nachspürt und die »Erinnerungen und Rückblicke« des Kommilitonen zur Hand nimmt. Wie der Professor sich selbst durch die absonderliche Befähigung seines Sprösslings den »Äffken« anähnelte. Hinsichtlich der Ohrmuskeln war der Mensch freilich nur ein verkümmerter Affe. Bei dieser Darbietung von Familienähnlichkeiten habe er mehr über die Natur des Menschen gelernt als in sämtlichen Anatomiestunden, mochte der Student sich gesagt haben.
Als Kind war ihm in einem Äffchen die Ähnlichkeit des Menschen mit dem Tier angesprungen. Katzen und Hunde, Schweine und Pferde, Vögel und Käfer waren von fremder Gestalt und blickten aus fremden Augen. In dem kleinen Affen, der auf einem Leierkasten hockte und einen Becher vorstreckte, um die Almosen einzusammeln für seinen Herrn, hatte er sich selbst erkannt. Wie er an der Hand des Vaters, hing der Affe mit einer Kette am Leierkasten. Er konnte nicht wegspringen, aber auch der Drehorgelspieler war nicht frei. Er hing an dem Kasten, den er mit sich schleppen musste, und seine Hand rührte den Hebel, der die Musik am Laufen hielt, als sei sie damit verwachsen.
Der Hebel band den Mann so eng an den Kasten wie die Kette den Affen. Wie anmutig sich der Affe bewegte, mit welchem Verständnis er dem Blick des Knaben begegnet war. Wie in den winzigen Gesten, in den kleinen Sprüngen, die die Kette erlaubte, die Schönheit der natürlichen Freiheit aufblitzte.
In vollem Ernst bat der Knabe den Vater, der bereits an der Hand zog, die Gasse hinab, einem vergessenen Ziel zu, den Affen von der Kette zu befreien. Der Vater nahm die Äußerung des Knaben zum Anlass, ihn energisch vom Leierkasten zu entfernen. Auf die wiederholte Aufforderung, den Affen von der Kette zu lassen, murmelte der Vater nur, das Tier gehöre ihnen nicht. Deshalb solle es ja freigelassen werden, hatte der Knabe vielleicht damals noch nicht gedacht: weil der Affe nur sich selbst gehöre.
Sprach er solche Gedanken später aus, zieh der Vater ihn der Schwärmerei. Und bin ich nicht mehr das kleine Kind, hänge ich noch an Hand und Kasten meines Vaters wie an einer Kette, könnte der Student gedacht haben.
Widerstand und Tradition
»So, meine Harren, wer kommt vor und zeicht mir de Lage von Opticus und Patheticus, von Abducens und Trigeminus? Wer weeß überhaupt, wovon ich rede?«
Den Professor hatte der vergrübelte Student für sich verbucht und abgehakt. Ein ausgeleierter Witz. Die Gelahrtheit erheiterte nicht, sie schreckte schon nicht mehr, sie widerte ihn bloß noch an.
Im verhaltenen Lachen der Studiosi über den verknöcherten Akademiker offenbarte sich ein Abgrund, in dem die hehren Ideale der Wissenschaft wie in Morast versanken. Stinkende Gasblasen blieben von Lehre und Forschung, solange sie den Schrullen solcher Adepten ausgeliefert war. Den Blutkreislauf erklärte der Professor für ein Fantasma. Mikroskopen traute er trotz aller neuerlichen Verbesserungen nicht; sie würden bloß zeigen, was man sehen wollte oder zu sehen erwartete. An die Lebensnotwenigkeit des Sauerstoffs wollte er partout nicht glauben.
Seit die Lehre von den vier Temperamenten des Menschen ihre Alleingültigkeit eingebüßt hatte, waren in deutschen Landen allerhand Naturphilosophien im Schwange, denen die Lehrer reihum in sich befehdenden Schulen anhingen. Ohnehin war der Stand der Heilkunst kümmerlich genug. Geheilt wurde erstens durch Ablassen von Blut, zweitens durch Erbrechen des Darminhalts und drittens durch Einläufe. Darmstadt könnte eine Hochburg der Medizin heißen.
Naturwissenschaftler in Italien, Frankreich und England experimentierten, während die Deutschen mit Ideen spekulierten und das Wirken eines Weltgeistes in den Dingen suchten. Die große Ausnahme war Alexander von Humboldt, der seine Forschungen freilich auch nicht an einer von seinem Bruder Wilhelm konzipierten Universität vornahm, sondern auf Reisen durch die Welt.
Die gelehrigsten Schüler begriffen kaum das krause Gedankengebilde, dem ihr Lehrer anhing. Solange sie nur wussten, welche Annahmen er auf Strafe nicht hören wollte. Allemal und unwiderruflich rangierte der Mensch in den Vorstellungen des Professors unvergleichlich über allen Geschöpfen Gottes; eine Verwandtschaft mit dem Affen wäre Blasphemie. Seine vergleichende Anatomie scheiterte schon an ihrem Horizont, wie ein Spielzeugsegler, der gegen eine gemalte Bühnenkulisse des Meeres prallt.
Dass ihr Hohn über die Marotten des Professors hinter seinem Rücken verblieb, machte die Studenten zu Komplizen der Farce. Sie hatten über den Scherz des Prosektors gegrinst und später noch Tränen gelacht, aber keiner hatte sich zu Wort gemeldet und in das unwürdige Spektakel eingegriffen. Keiner hatte den Hörsaal unter Protest verlassen, als der Sohn des Professors mit den Ohren wackelte. Auch der kritische Student rührte sich nicht.
Er stand gemeinhin in der ersten Reihe. Der Professor rief ihn oft heran und ließ ihn machen, wenn er das Gestochere der anderen Lehrlinge leid war und es mit der Autopsie zu Ende gehen musste an Sommertagen wie diesem, wo die Kadaver gar nicht frisch genug sein konnten, um nicht bereits zu faulen.
Dass Sektionen mit dem Stich in die Brust und der Entfernung der Eingeweide begannen, war kein Ritual, sondern folgte der Notwendigkeit. Die inneren Organe verwesten rascher als Muskelgewebe. Der kritische Student war ein geschickter Sezierer. Früh hatte der Vater den Erstgeborenen in seine Kunst eingewiesen.
Der Vater hatte sein Handwerk als Chirurg im Krieg erlernt und geübt. Das Schneiden war Geschäft wie Leidenschaft für ihn, Beruf wie Berufung aus einer 100-jährigen Familientradition von Badern, Wundärzten und Chirurgen. Eine Kette aus Ahnen, an die der Sohn sich anschließen, die er womöglich krönen, in den Adel erheben sollte.
Der Vater war ein rechtschaffener, prinzipientreuer Mann, der seine prägenden Jahre beim Militär erlebte; seine Menschenfreundlichkeit wog die Kasernenstrenge etwas auf. Für weiteren Ausgleich der Hausherrschaft sorgte die Mutter. Sie stammte aus dem Beamtenadel und war ausgebildet für das höfische Parkett. Bildungsbürgertum wie im biedermeierlichen Bilderbuch.
Außer dem Verbrecherdichter gingen aus diesem Haushalt hervor: ein Arzt und Schriftsteller, dessen »empirisch-naturwissenschaftlichen Studien in allgemeinverständlicher Darstellung« unter dem Titel »Kraft und Stoff« eines der meistgelesenen philosophischen Bücher seiner Epoche war; eine Frauenrechtlerin; ein Professor für Sprache; ein Chemie-Fabrikant und demokratischer Politiker.
Der Älteste war seit seiner Gymnasiastenzeit bei Lehrstunden des Vaters im städtischen Hospital zugegen. Sogar bei der Zerlegung weiblicher Leichname ließ der Vater Schulbuben zu, weiß man, weil die Klinikleitung es rügte. Des Vaters Engstirnigkeit und Überzeugung, dass der vorgegebene stets der rechte Weg sei, galt nicht für die Wissenschaft, wo er manches Mal durch Freimut aneckte. Die Arztpraxis war der Kasten, an den der Sohn gekettet werden sollte. Ein Menschenretter sollte er werden, wie der Vater einer war.
Versteinert hatte der bedächtige Student gestanden, als der Professor seinen Sohn vorführte. Auszuscheren hätte das Ende seiner Laufbahn bedeutet. Vielleicht hätte der Einfluss des Vaters die Exmatrikulation verhindert, aber irgendeine Strafe und Behinderung der Karriere wäre erfolgt. Er hätte kein Wort sagen müssen, um seinen Protest kundzutun. Es hätte genügt zu gehen.
Hätte der Professor ihn vom Rücken her angerufen – nichts wäre zu sagen gewesen, er könnte schweigend den Saal verlassen. Alles, was er sagen konnte, hätte es verschlimmert. Nur herausreden können hätte er sich. Man würde es dem besten Sezierer des Kollegs nicht abnehmen, dass ihm schlecht geworden sei, weil der Sohn des Professors mit den Ohren wackelte.
Warum er von der Universität geflogen sei, würde ihn der Vater ein ums andere Mal gefragt haben. Weil er nicht mitansehen mochte, wie der Sohn des Professors auf Kommando mit Processus mastoideus die Ohrmuschel nach hinten und mit Galea aponeuroticon nach vorn und oben bewegte. Weil die ganze Wissenschaft ein Dreck war, wenn sie derartige Darbietungen brauchte. Weil er seine Zeit anders vertun wolle, als sich selbst zu erniedrigen, indem er es geschehen ließ. Dass er auch hätte heulen können, würde er dem Vater nicht sagen.
Er hätte, statt den Saal zu verlassen, vortreten und den Sohn dem Vater entreißen müssen. Hätte den Vater fragen sollen, ob er die Ohren nicht ebenso bewegen könne, wie das seinem Samen entsprungene Äffken. Das Einzige, das Unerhörte, das den Studenten mit der Universität versöhnt hätte, dass der Professor seinen Sohn ein für allemal davon entbunden hätte, sich zu prostituieren, weil durch den Widerspruch der Bann endlich gebrochen wäre, der dem Lehrer wie seinen Schülern auferlegt war – es wäre nicht geschehen. Wahrscheinlicher hätte der aufrührerische Student eine Ohrfeige bekommen und womöglich ohne Besinnung zurückgeschlagen.
Wenn in unserer Zeit etwas helfen soll, so ist es Gewalt, hatte er der Familie eine Weile zuvor unumwunden erklärt. Sind wir denn aber nicht in einem Gewaltzustand? Weil wir im Kerker geboren und großgezogen sind, merken wir nicht mehr, daß wir im Loch stecken mit angeschmiedeten Händen und Füßen und einem Knebel im Munde. Und dann, schlussendlich: Der Ausspruch: es muß ja Ärgernis kommen, aber wehe dem, durch den es kommt, – ist schauderhaft.
Er wollte es nicht sein, der die Hand erhob. Aber er war soeben dabei, es zu tun, hatte vielleicht schon damit begonnen oder es abgeschlossen, genauer kann man es nicht wissen. Und dabei zitierte er ebenso aus der Bibel wie im Familienbrief und trat als Prediger auf.
Bildgeschichten
Der Prosektor schnitt, der Professor redete, und der Student machte jene Miene, für die er bei den Kommilitonen berüchtigt war. Seine Augen starrten ins Leere; die hohe Stirn verrunzelte sich; der stets gesträubte Haarschopf schien wie im Wind zu zittern.
»Büchner denkt!«, höhnten die Studiosi. Ein Vorwitziger oder Ahnungsloser, der ihn am Ellenbogen stoßen wollte, weil er ihn träumend glaubte, wurde mit einer Geste abgefangen, bevor er dazu kam, ihn anzurühren, und mit einem tödlichen Blick bedacht. Sein Starren war höchste Aufmerksamkeit.
Inzwischen kam ihm keiner mehr zu nahe. Hatte das »Büchner denkt« anfangs noch einen freundlich-verwunderten Unterton gehabt, klang es alsbald verbittert und wurde schließlich nurmehr hinter seinem Rücken mit Verachtung ausgesprochen. Ihm war es nur Recht, denn es zu ignorieren war lästiger, als es gar nicht zu hören. Keiner der Kommilitonen hätte gewagt, ihm ein übles Wort ins Gesicht zu sagen. Und nur zweien oder dreien unter ihnen war er für ein anderes gut.
Er »machte beständig ein Gesicht wie eine Katze, wenns donnert«, schrieb der Kommilitone, der ihn vor allem vom Sehen und Hörensagen kannte und sich ärgerte, dass er in seinen »Erinnerungen und Rückblicken« nicht umhin konnte, dem seinerzeit Verachteten ein paar Sätze zu widmen. Büchner »hielt sich gänzlich abseits« und »war uns nicht sympathisch«, machte sich der Kommilitone zum Sprecher, »sein schroffes, in sich abgeschlossenes Wesen stieß uns immer wieder ab.«
Zur Vorstellung seines Kopfes hat man vier Zeichnungen. Ein Brustbild, um 1831 als Wandschmuck im Auftrag der Familie von einem »AH« in Bleistift ausgeführt, war die längste Zeit das einzige bekannte Porträt. Es wurde in Kupferstichmanier kopiert oder nach erhaltenen Fotografien des 1944 verbrannten Originals reproduziert und in zahllosen Büchern gedruckt – ohne jede Gewähr auch mit kastanienrotem Haar oder schwarzem Oberlippenbart, die Augen mal verträumt, mal tödlich erschöpft. Generationen von Künstlern haben dieses Gesicht variiert.
Seit 1987 weiß man von zwei Bleistiftskizzen im Notizbuch seines Freundes Alexis Muston, entstanden während einer Wanderung im Oktober 1833: ein Kopf und eine lesende Gestalt in einer Steinlandschaft. Außerdem zeichnete Muston mit Feder einen Kopf in einem Brief (»C’était George Buchner«) – möglicherweise zwischen 1864 und 1871, als er aus seinen Tagebüchern ein Lebensjournal zusammenstellte. Man muss darauf hingewiesen werden, dass es derselbe Schädel sein soll wie auf dem Wandschmuckbild.
Gälte die Provenienz nicht als gesichert für die Fotos, die als Quelle dienen, würde man den Fund in Mustons Nachlass für eine ebensolche Fälschung halten können wie ein »Pastell von 1830«, das im Internet kursiert und den Jüngling »als Freimaurer« zeigen soll. Eine Herkunftsangabe fehlt wie für andere Grafiken in alter Manier nach der AH-Zeichnung, die von denen, die sie verbreiten, für authentisch gehalten werden. In illustrierten Geschichtsbüchern repräsentieren freie Interpretationen der AH-Zeichnungen das unbekannte wahre Gesicht.
Die Nachwelt macht sich stets ihr eigenes Bildnis, und je weniger Wirklichkeit ihm entgegen steht, desto leichter, die Lücken nach Belieben zu glätten, zu schönen, dem eigenen Gefallen anzumessen. Göttergleiche Idealgestalten, in heroischen Umrissen, seinerzeit schwarzweiß wie die Bildbeigaben zu Schwabs Sagen, heuer in allen digital erzeugbaren Farben in drei Dimensionen, deren Überwirklichkeit mit keiner Kenntnis nackter Tatsachen kollidieren kann. Die Leute können auch keinen Hundsstall zeichnen, ließ Büchner den Jakob Lenz seiner Novelle als Kunstkritiker schimpfen. Da wolle man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen.
Originaltreue
Eine Computermischung der Bilder würde nicht automatisch einen wahreren Kopf erzeugen. Was für die höhere Authentizität des AH-Konterfeis spricht, die Professionalität der Ausführung, spricht zugleich gegen es. Fraglos hat der bestellte Zeichner sein Objekt mit größerer Nüchternheit wahrgenommen als der Freund Muston. Aber er wird das, was er sah, dem Auftrag entsprechend abgewandelt haben. Einen strahlenden Jüngling, den er mühelos abgeliefert hätte, traf er offenbar nicht. Wahrheitsgetreu erscheint das offizielle Bildnis trotz allem, worin es von den privaten Skizzen abweicht, im Ausdruck der Züge. Er illustriert die Charakteristik des unsympathischen Kommilitonen: Büchner sieht aus wie eine Katze bei Gewitter.
Er saß seinen Eltern, seiner Mutter zu Gefallen Modell. Er hielt immerhin still. Eine Weile lang. Vielleicht – man kann es nicht wissen – gelangte der Zeichner nur bis zu einer groben Skizze, als das Modell bereits nicht mehr mitspielte. Es stand auf, schaute über die Schulter von AH auf dessen Blatt, befand, es sei genug und ging. Ein Standardumriss; leicht vergrößerte Augen, das war das A und O der Porträtmalerroutine; die Nase immer ausgeprägt bei Männern, zurückgenommen bei Frauen; der Mund nie verkniffen, egal wie missmutig das Modell war; einem schwachen Kinn wurde durch Schattierung nachgeholfen; die Ohren waren immer wohl geformt; das Haar lag wie gemalt am Kopf.
Das Malkunsthandwerk der Epoche stieß damals an die Grenze dessen, was seither als fotografische Genauigkeit angesehen wird. Die Entwickler des Lichtbildes waren Maler und sich des Abstands bewusst, den sie überbrücken wollten. Malerei wie ohne Handschrift. Optische Wirklichkeit im Wortsinn. Ein künstliches Auge. Und ein schnelleres. Kein Feilschen um die vom Auftraggeber gewünschte Zurichtung des Modells. Ein Arrangement sowieso, Schminke vielleicht, aber nicht viel mehr. Eine Retusche sollte möglich sein.
Der Aufwand für die Porträtsitzung, für die Ausmalung im Atelier, für Korrekturen musste bei größtmöglicher Wirklichkeitstreue so entscheidend verringert werden, dass eine serielle Anfertigung möglich wäre. Gesellen ernährte das Geschäft lange nicht mehr, und in der Kunst stand die Originalität im Kurs; einen Namen musste man haben. Ein Blick – ein Bild. Das war als Ideal der Miniaturmaler. Die ersten Aufnahmen von Stilleben waren unscharf und hielten nicht lange, aber damit ließ sich schon ganz anders arbeiten.
Als größten deutschen Maler bewundern heute Museumsbesucher in aller Welt die Werke eines, der wie fotografiert zu malen versteht. Gerhard Richter überträgt die Kernelemente vom Foto auf die Leinwand. Die Umrisslinien vor allem. Sie erweisen sich bei größtmöglicher Treue gegen jeden Anschein von den Abweichungen durch Neigungen und Abneigungen der eigenen Hand als resistent. Die Naturlinie, die wirklich gegebenen Proportionen, sind eine wahre Struktur, die durch jede noch so krude Bearbeitung unwiderruflich durchscheint. Daraus bezog die Silhouettenmalerei als erstes technisches Verfahren für Porträts ihre Echtheit, an die sich ein Rattenschwanz von Physiognomik anhängte. Kerzenlicht warf den Schatten des Profils zum Nachzeichnen auf eine Leinwand. Desgleichen zeichnet Richter die Linien nach, die das Licht durch ein Diapositiv auf die Wand wirft.
Von anderen und seinen Nachahmern unterscheidet Richter die Virtuosität der Pinselführung, die Unangestrengtheit seiner Malerei, bei der er darauf vertrauen kann, dass der bloße Durchgang durch die Hand das Bild unverwechselbar macht. Das Individuum scheint sich zu vergessen in der Ausübung des Handwerks an einem unpersönlichen Motiv. Ganz löschen lässt es sich dennoch nicht: indem es Motive wählt und in Serien denkt.
Die Originalfotos der Vorgänge um deutsche Terroristen der 1970er Jahre sind für das Gedächtnis der ehemaligen Mitwelt schon vergessen oder verschwommen und eingetrübt, von der Zeit angedunkelt wie verbrannt, verwischt, als sie ihnen in einer Ausstellung gezeigt werden. Im Gedächtnis werden die Gemälde bleiben. Weil sie gemalt wurden für eine Erinnerung, die es noch nicht gab. Sie sehen nicht aus wie die Fotovorlagen, sondern wie die Gedächtnisbilder derjenigen, die vor den Vitrinen stehen. Gemalt im Angesicht der Gegenwart für eine Ewigkeit. Als wahre Abbilder ihrer Epoche in dem, worin sie sich selbst täglich bespiegelte, und indem es so beiläufig wie schonungslos aufgegriffen wurde. Reporter machten Fotos für die Masse; der Chronist traf seine Wahl für die Nachwelt.
Insofern sich über die Identität von AH nur Vermutungen anstellen lassen, ist seine Meisterschaft fragwürdig oder könnte man durch den Vergleich mit anderen seiner Arbeiten die Art der Verfremdung des Gegenstands durch die Handschrift abwägen. Es reichte, befand das Modell und ließ den Zeichner sitzen. Dass er wenigstens einmal lange genug lächeln würde, damit er die Stellung der Lippen erfassen könne, hatte der Porträtist vergeblich gebeten. Die Eltern bekamen das Bestellte; für die Miene des Filius konnten sie den Zeichner nicht verantwortlich machen. Kann man wissen, ob das Bild je die Wand schmückte, um seinen verlorenen Blick in die Stube zu werfen? Bei nächster Gelegenheit hätte man ein neues Bild machen lassen. Die ergab sich nicht mehr.
Die Unterschiede zwischen den Ansichten AHs und Mustons könnten sehr wohl in einem handwerklichen Gefälle begründet sein. Im Anfertigen von Porträts mit dem gewünschten Anschein von Naturtreue war Muston freilich ungeübt. Die Hauptarbeit an dem Wandschmuckbild bestand in der Schraffur der Haut, der Haare, des Gewandes. In der Sitzung am Modell würde der Zeichner sich darauf beschränkt haben, die wesentlichen Merkmale festzuhalten, um die Texturen sofort im Anschluss oder im Atelier auszuführen – je nach aufgewendeter Sorgfalt, die sich ohne Original kaum prüfen lässt.
Die Gefälligkeit der Textur spielte für Muston keine Rolle. Aber er verstand sich aufs Zeichnen überhaupt. Amateur, Dilettant, Autodidakt, aber erfahren im beiläufigen Erfassen der sichtbaren Umwelt in Bildzeichen, das er wie Schreiben vornahm. Er malte nicht gegen Bezahlung Wunschgesichter, sondern bemühte sich, Gegenstände, Szenen, Gesichter in charakteristischen Strichen zu erfassen. Weniger schöner Anschein trieb ihn an als protokollarische Wahrhaftigkeit.
Vom förmlichen Porträt unterscheidet sich das Privatbild vornehmlich in der Lebhaftigkeit der Miene. Das Bildnis für die Stubenwand mutet bereits wie schwarz gerahmt an; die Skizzen von einer Rast am Wegesrand zeigen ein lebendiges Modell. So unähnlich sie mit dem Bildnis von AH sind, gleichen sich die drei Köpfe von Mustons Hand gerade in den Merkmalen, die sie von jenem unterscheiden. Spricht ihre Flüchtigkeit und Vorläufigkeit gegen die Notizbuch-Skizzen, darf die Federzeichnung im Brief als ebenso offiziell, ernsthaft und überlegt gelten wie das Werk des Routinemalers.
AH mochte in der fotorealistischen Wiedergabe der Züge geübt gewesen sein und imstande, während der Sitzung auch mehr von dem Modell zu erfassen, als dieses ihn sehen lassen wollte – aber die intimere Kenntnis Mustons des Sujets glich das aus. Allein die Texturen lassen das Bild von AH echter erscheinen als es wirklich sein mag. Die demgegenüber spärlichen Federstriche Mustons beruhen zweifelsohne auf genauerer Beobachtung. AH kannte den Kopf in genau der Perspektive, aus der er ihn zeichnete, und genau so lange, wie er dafür brauchte. Muston hatte den Schädel, das Gesicht aus allen erdenklichen Ansichten, hatte ihn in Bewegung mit rollenden Augen gesehen und die Stimme gehört; er hatte auch ins Innere dieses Kopfes geblickt. Hinsichtlich der Züge, die sich ohnehin nicht fixieren lassen, sind Mustons Ansichten dem Wandschmuckbild überlegen. Und worin sie vom diesem abweichen, stimmt mit den wenigen wörtlichen Überlieferungen von Büchners Aussehen überein.
Erscheinungsbilder
»Wenn er sprach und seine Stimme sich erhob, dann glänzte sein Auge«, ließ sich der engste Freund und Mitverschwörer vernehmen, um seine Voreingenommenheit zu begründen: warum er den Flüchtigen auf dem Weg des Verbrechens begleitete. Die Schilderungen der Persönlichkeit schwanken zwischen den Extremen. Als so mürrisch diejenigen Büchner charakterisierten, von denen er sich fern hielt, so überschwänglich gepriesen wurde »seine liebenswürdige Persönlichkeit, seine ausgezeichneten Fähigkeiten, von welchen ich hier freilich keinen Begriff geben kann«, fühlte man sich hingerissen »bis zur Verblendung« und seufzte: »Was hätte ich nicht für ihn getan, wovon hätte er mich nicht überzeugt?!« Wichen die einen vor ihm zurück, fielen andere ihm bei der ersten Begegnung um den Hals.
»Es war jedoch nicht seine Art, sich andern ungeprüft und voreilig hinzugeben«, erinnerte sich ein Schulfreund aus dem Shakespeare-Lesezirkel im Buchenhain, »er war vielmehr ein ruhiger, gründlicher, mehr zurückhaltender Beobachter.« Das Gegenteil galt auch: »Wo er aber fand, dass jemand wirklich wahres Leben suchte, da konnte er auch warm, ja enthusiastisch werden.« Ein mächtiges Schwanken der Gemütswaage bemerkte auch ein ihm übel gesinnter Zeuge aus den Verschwörerkreisen: »Büchner schien die mit aller Vehemenz übersprudelnde jugendliche Kraft, welche sich hier im Zerstören gefiel, während sie sonst eben so leicht die ganze Welt liebend zu umarmen sucht.«
Der Schulfreund weiter: »Ich sehe im Geiste sein Angesicht, ähnlich einem alten Bilde Shakespeares, von bürgerlich gediegnem, tatkräftigem, aber auch liebenswürdig übermütigem Ausdruck. Es lag darin Zurückhaltung, Entschlossenheit, skeptische Verachtung alles Nichtigen und Niederträchtigen. Die zuckenden Lippen verrieten, wie oft er mit der Welt im Widerspruch und Streit lag.« Und noch ein zweites Mal versieht dieser Zeuge Büchner mit dem Attribut »tatkräftig« und relativiert damit seine eigene Darstellung des »zurückhaltenden Beobachters«.
Die meisten Angaben über Büchners Aussehen stammen direkt oder indirekt von seinen Widersachern und haben den Vorzug der Schonungslosigkeit. Mit 1,72 Meter, die das Behörden-Signalement vom August 1834 ausweist, entsprach er Soldatenmaß, dem meist verwendbarsten Durchschnitt. Wie »blond« seine Haare waren, muss offen bleiben. Auf dem Wandschmuckbild erscheinen sie deutlich dunkler als auf Mustons Skizzen. Liegen sie dort sorgsam onduliert am Schädel, stehen sie hier zu allen Seiten ab und muten heller und wie schütter an.
Die »sehr gewölbte« Stirn des Steckbriefs wurde von allen Beobachtern hervorgehoben Als »kühne Stirn mit dem Apollo-Bogen« bedichtete sie seine Schwester Louise; als »mächtige, breite« beschrieb sie ein Freund. Muston schwärmte: »Ich bezweifle, dass man einen schöneren Kopf als den seinen finden könnte; Goethe hatte keine so schöne Stirn«.
Die »starke« Nase springt auf keiner der Zeichnungen geradezu aus dem Gesicht. Diese Angabe war so bedingt wie die »frische« Gesichtsfarbe, die der Verfolger ins Formular eintragen ließ, vielerlei heißen kann: keine krankhafte Blässe ebenso wie Anzeichen von Bluthochdruck. »Kinn: rund«, listet das Signalement auf, »Angesicht: oval«. Die Merkmale dienen mehr dazu, einen Verdächtigen auszuschließen, als den Gesuchten zweifelsfrei zu identifizieren.
Öffentlichkeit wurde nicht gesucht, sondern gemieden. Die Publikation des Steckbriefs diente nicht mehr der Fahndung, sondern als Bekanntmachung der Landesverweisung. Konnte man ihn nicht einsperren, sperrte man ihn förmlich aus. Und ächtete so weit damit möglich seine Familie, wo sie nicht längst unmittelbarer betroffen war. Man wartete fast ein Jahr damit, nachdem man die äußeren Angaben zu Protokoll genommen hatte, und korrigierte nichts.
An illustrierte Handzettel, Plakate oder Zeitungsanzeigen war nicht zu denken. Wo immer man Bilder in außergewöhnlichen Fällen verbreitete, trug es nur zum Ruhm der Gesuchten bei und erschwerte den Fang eher als ihn zu erleichtern. Was Bürgersinn bedeutete, verstand noch lange niemand. War das ein sechster Sinn, den sich nur Reiche anfüttern können? Der Sinn für schöne Künste, für Philosophie?
Einen Zollposten weiter war man außer Reichweite eines verfänglichen Druckwerks. Weil es niemand kannte und es ohnehin keine große Rolle spielte, was zuletzt 100 Familien unter den 700.000 Großherzogtümlern anging und eine Handvoll am geheimen Inquisitionsverfahren beteiligte Beamte in Harnisch brachte. Kaum dass man die eigenen Grenzposten mit frischen Steckbriefen und fortlaufenden Informationen über den Gesuchten beliefern konnte, hätte man sie gehabt.
Eine Bleistiftzeichnung war nicht vervielfältigbar. Wer einen Kupferstecher in Bezahlung nahm, hatte ein Amt, und es gab Verwendung für ein offizielles Bildnis. Anonymität war billig im Überwachungsstaat und leicht zu haben, sobald man ihn verließ. Die Zeiten waren langsam, und wer schnell genug rannte, entkam. Ein falscher Name, gefälschte aber glaubwürdige Papiere, mehr brauchte es nicht, um ein anderer zu werden. Falls es überhaupt nötig war, vorübergehend, unterwegs, bis in einen weit genug entfernten Staat, in dem schon andere aus der Nachbarschaft untergekommen waren oder es niemand scherte, woher man kam.
Um so weniger weit konnte man gehen von dort, wo man sich gerade aufhielt, wo der Zufall, der väterliche Plan oder die Not einen hingestellt hatten, und keinen Schritt tun, ohne von unsichtbaren Augen belauert zu werden. Gehalten an Ketten aus Konventionen, aus einer Maschine aus Menschenteilen zwischen Gemäuern, die ein längst abgelaufenes Lied von einer Walze, die einen Sprung hatte, abspielten. Wie Schiffbrüchige im Sturm sich an Verhaltensweisen klammerten, die endgültig abgedankt hatten und sich nicht durch bürgerliches Blut erfrischen würden, solange das Überlebte auf dem Floß das alte Kommando beibehalten wollte. Bis sie endgültig scheiterten oder sich vor der Rettung der Letzten gegenseitig auffraßen.
Nirgendwo entkam man dem Räderwerk, außer in der Natur. Wo Muston ihn zeichnete, statt im Atelier oder der Stube, für deren Wand das AH-Bildnis vorgesehen war – in Freiheit statt im Elternhaus vor eine Musterung gestellt. Mit »klein« begnügt sich das Signalement für den Mund. Wie bei der Stirn ergänzte Muston seine Zeichnung von Büchners Gesicht durch Worte: »Sein feiner Mund, sardonisch, zärtlich und leidenschaftlich, war geschaffen für die Kunst der Rede wie für den Witz und die Küsse.« Die Denkerstirn und der geschürzte Mund mit den »zuckenden Lippen« bestimmten dies Gesicht.
Schiefe Waage
In ihrer Pressemitteilung verzichtete die Behörde auf die zunächst festgestellten veränderlichen Kennzeichen des Bartwuchses: »etwas am Kinne und schwacher Schnurrbart«. Mit einem Anflug von Schnauzer zeigte AHs Wandschmuckbild den 17-Jährigen. Kein Jahr vor dem Signalement und noch nicht Student, auf der Wanderung mit Muston, war er glattrasiert. Allein die Haare waren länger, bedeckten die Ohren und fielen bis in den Nacken.
Herrschaften, Adlige wie Bürger im Großherzogtum, waren glattrasiert; beliebt waren Backenbärte, die am Hals entlang bis unters Kinn wuchsen und mit den Stehkragen das Gesicht wie auf dem Oval einer Porträtminiatur oder als eine Maske umrahmten. Den Schnurrbart sah man meist an Soldaten. Unter den zeitgenössischen Porträtbildnissen aus Büchners Umfeld trägt nur einer Haare auf der Oberlippe. Seltsamerweise ist es der eine Generation ältere Wilhelm Schulz, der Büchner als Autor von Flugschriften in Hessen vorausging, dem er früher oder später auf seinem Weg hätte begegnen müssen, wäre dieser nicht zuerst in Haft gewesen, dann ins Ausland entkommen – wo sie sich doch begegneten. Und der Freund dem Sterbenden beistand.
Eine Kombination von Schnauz- und Kinnbart trug einer, dem Büchner nie persönlich begegnete, der wenig ältere Karl Gutzkow, der den Druck seines ersten Theaterstücks besorgte. Auch er ein Oppositioneller. Er ging für seine Auffassungen ins Gefängnis: ein Monat dafür, dass er in einem Roman eine Frau sich hatte entkleiden zu lassen, um sich dem Geliebten nackt zu zeigen.
Die Angaben »etwas« und »schwach« könnten heißen, dass die Haare im Gesicht des 20-Jährigen nur spärlich sprossen. Ein Bart aus Fusseln oder einer, der zum Strich geschnitten war, wie auf Kopien des Schmuckbildes deutlicher zu sehen ist als auf diesem selbst. Dazu am Kinn eine Spitze aus Haaren. Eine Barttracht, wie sie dem Teufel anstand, mit dem die Kalendersprüche illustriert waren.
Mustons Zeichnungen weisen eine Seltsamkeit auf, die hierher gehören könnte. Beide Kopfbilder zeigen unterhalb des Kinns eine dicht schraffierte Zone. Im Notizbuch erstreckt sie sich an der rechten Wange hinauf und wirkt, als sei etwas überkritzelt; auf der Federzeichnung könnte sie nur Schatten bedeuten. Unverkennbar ist die Kinnpartie gespalten – was weder auf dem AH-Bildnis zu sehen noch dem Steckbrief zu entnehmen ist.
Der schwarze Fleck am Kinn könnte auch ein Spitzbart sein, zu dem zwischen der Begegnung mit Muston und den Eintragungen im Signalement ein Schnauzbart hinzugekommen wäre. Barttrachten auszuprobieren war zu allen Zeiten für Männer in Büchners Alters nicht weiter sonderbar. Die Angaben des Signalements sind die letzten, die es zu geben scheint. Der sorgfältige Bericht von Caroline Schulz über sein Ableben sagt nichts über Rasuren.
Das Signalement schloss mit den »besonderen Zeichen«. Sie zeigen eine Gestalt, die nicht zum Image des feurigen Demagogen passt. Hauptquelle der amtlichen Beschreibung war der Hauswirt des Delinquenten, Herr Rentamtmann Bott, dessen einziger Mieter Büchner war. Wie der Verfolger ausdrücklich vermerken ließ, fanden die Nachforschungen in aller Heimlichkeit statt. Um kein Gerede zu erzeugen, wurden weder Kommilitonen noch Freunde befragt.
Der leidenschaftliche Redner, als den ihn Schulkameraden und Mitverschwörer erlebten, trat in den protokollierten Beobachtungen des Hauswirts nicht auf. Vielmehr sieht man einen buchstäblich linkischen Burschen, der vergrätzt und vergrübelt durch die Gasse stolpert. Er »geht etwas einseitig« mit einem »düsteren, nach der Erde gesenkten Blick«.
Das Formular bot auch eine Begründung: »dem Anscheine nach kurzsichtig, trägt zuweilen eine Brille«. Nichts sonst weiß man über Augengläser. Muston zeichnete Büchner sitzend, ein Buch in der Hand, auf einem Stein. Eine Lesebrille brauchte er also nicht? Seine Augen »konnten wegen ihrer Kurzsichtigkeit oft matt und glanzlos erscheinen, was noch vermehrt wurde durch das träumerische Hinbrüten«, schrieb Schwester Louise aus der Erinnerung. Nichts von der Korrektur einer starken Beeinträchtigung der Sehkraft durch eine Brille.
Ein Exeget hat in den Skizzen Mustons einen »Silberblick« gesehen, ein leichtes Schielen, das durch eine Brille kaum wirksam korrigiert werden konnte. Als »grau« verzeichnete das Signalement die Augenfarbe; Familie und Freunde sahen sie »blau«. Der Hauswirt, an dem sein Mieter mit »nach der Erde gesenktem Blick« vorbei huschte, wird wohl nur eine Helle der Augen bemerkt haben.
Als von »kräftiger und schlanker Statur« beschrieb ihn das Signalement. Seine »schlanke« und »biegsame« Gestalt hielt die Schwester fest, die bei seinem Tod 16 war und ihn zuletzt zwei Jahre vorher gesehen hatte, »mit fast mädchenhaften Zügen« und »schlanken, weißen Händen«. Wilhelm Schulz erlebte ihn als »von schlankem und feinem, aber nicht unkräftigem Wuchse« und obwohl »in manchen Leibesübungen wohl erfahren, hatte er doch etwas eigentümlich Zartes und Weiches«. Ein Exeget fasste zusammen: »ein großer, hell- und dünnhäutiger, etwas linkisch-schlaksiger und ohne Brille ziemlich desorientierter, gelichteter krauser Blondkopf«.
Erkenntnis aus Abfall – Ein Individuum – Messerstecher – Wirtschaftsleben – Volkserhebung – Mordgeschichten – Zellentraum – Psychopathologie – Präparation – Papparbeiten – Drehorgel – Fehltritte – Charivari – Metternich und Sand – Sand und Kotzebue – Sturmläufe – Knochen zählen – Frankenstein – In Goldstadt – Lazarus
3. Aufzug: Die Gasse
Fechtgänge – Scheusale – Deutsche Indifferenz – Wachensturm – Ein Meineid – Auf der Hut – Gießener Verhältnisse – Hass und Verachtung – Außenseiter – Hochzeitsvorbereitungen – Quellenproblematik – Gassenbiegung – Räubergeschichten – Freiheit und Ordnung – Freies Wort – Verräterschaften – Flugschriften – Verabredungen – Mystifikation – Revolutionsgebilde – Leichenliebe – Osterreise – Gesellschaft der Geächteten – Der Landbote
4. Aufzug: Nach Offenbach
Bursch heraus – Eisenstirn und Nasenbruch – Geräusch im Gebüsch – Nach Offenbach – Kuhls Stunde – Chuzpe – Ermittlungen und Echo – Abgang – Verraten und ausverkauft – Weidigs Marter – Nachricht aus dem Jenseits
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