Bericht von der Wanderzeit
„Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh‘ ich wieder aus. / Der Mai war mir gewogen / Mit manchem Blumenstrauß.“
Am Bahnhof von Schneverdingen steht ein Obelisk. Auf seinen Seiten wird nach Berlin, Hamburg, Bremen und Hannover verwiesen sowie zu zwei Orten, von denen ich noch nie gehört habe und die nicht in Deutschland zu liegen scheinen.
Ich bin mit einem Ticket des Hamburger Verkehrsverbundes von Stade über Harburg und Buchholz hierher gelangt. Noch befinde ich mich als Nicht-Autofahrer nicht im völligen Abseits, in der tiefsten Provinz. Noch verbindet mich ein Schienenstrang mit den deutschen Städten auf dem Obelisken.
Ich habe mir das Ziel nicht ausgesucht, es blieb mir kein anderes übrig auf meiner Reise ins Ungewisse.
„Ich kann zu meiner Reisen / Nicht wählen mit der Zeit, / Muss selbst den Weg mir weisen / In dieser Dunkelheit.“
Es ist der vierzehnte Tag meiner aktuellen Tour. Des Menschen Leben ist kein Haus, zitiert ein prominenter Reisender, Bruce Chatwin, eine tibetische Weisheit, sondern eine Reise. Insofern ist meine gegenwärtige nur eine weitere Etappe.
Die Abreise war überfällig. Fast 27 Jahre habe ich in Stade gewohnt, die längste Zeit, die mich an einen Ort gebunden hat.
„Was soll ich länger weilen, / Dass man mich trieb hinaus?“
Als Journalist und Historiker habe ich die Stadt und ihre Verhältnisse genauer kennen gelernt als die allermeisten, blieb aber als Beobachter ein Außenseiter. Was ich mitzuteilen hatte, wollte in der Stadt niemand hören. Die Honorare für meine Texte kamen aus Hamburg, Bremen oder Berlin. Nachdem sie ausblieben und freie Autoren wie ich ausgestorben waren, hatte mich die Stadt, in der ich unerwünscht war, als Armengeldbezieher am Hals.
Ich arbeitete ab, was über dem Artikelschreiben gegen Bezahlung unerledigt geblieben war — Abhandlungen über → Georg Büchner und → Heinrich Himmler zum Beispiel. Hernach betätigte ich mich auf diesem Blog als ehrenamtlicher Stadtschreiber.
Drei Jahre befasste ich mich wieder mit den heimischen Angelegenheiten, die ich während meiner Reisen nach 1834 und 1945 komplett ausgeblendet hatte. Drei Jahre, in denen ich mir vergegenwärtigte, wie aussichtslos meine Lage war.
Solange ich über eigenes Einkommen verfügte, konnte ich mir Unabhängigkeit erlauben. Als Armengeldbezieher war ich den Schikanen des Amtes ausgeliefert, die mir den Aufenthalt erschwerten und schließlich ganz verleideten.
Nach eineinhalb Jahren ohne Meldeadresse wurde ich zum 1. Mai auch faktisch obdachlos. Vierzehn Tage verweilte ich noch in der Stadt. Ich verfügte über einen Schlafplatz mit Steckdose, um mein Smartphone aufzuladen, aber ohne sanitäre Einrichtungen.
Ich streifte bereits als Fremdling durch die Gassen, bis endgültig klar wurde, dass meine Zeit abgelaufen war. Für den Stromer, Streuner und Strauchdieb war in Stade kein Platz.
Bis auf einen, der für mich nicht in Frage kam. Ich hätte mich in eine Sammelunterkunft einweisen lassen können, um darauf zu warten, dass mir eine Behausung zugeteilt wird, bevorzugt an entlegener Stelle, von wo ohne Auto und Fahrrad kein Entkommen möglich ist.

Für einen Fußgänger entlegen ist auch der Ort, an den es mich verschlagen hat. Statt von Schneverdingen mit zwei Bussen hin zu gelangen, werde ich jedoch mit dem Auto abgeholt, um für vierzehn Tage im Haus meines ältesten Freundes Quartier zu beziehen.
Unbehaustsein ist meine Heimat.
„Keiner mag ihn hören, / Keiner sieht ihn an; / Und die Hunde brummen / Um den alten Mann. / Und er läßt es gehen / Alles, wie es will, / Dreht, und seine Leier / Steht ihm nimmer still.“
Aus den anvisierten 14 Tagen in Bispingen sind knapp acht Wochen geworden. Inzwischen ist es Juli, und ich habe eine Wohnung in Hamburg bezogen, an die ich nur durch außergewöhnlich gute Beziehungen gelangt bin, über die durchschnittliche Obdachlose nicht verfügen. Die Jobcenter in Stade und Hamburg-Lokstedt haben in einer Mischung aus Inkompetenz und Bosheit ihr Möglichstes getan, um mich weiter wohnsitzlos zu halten, und ich werde wie so oft in der Vergangenheit einen Rechtsanwalt einschalten müssen, um mich ihrer Schikanen zu erwehren. Täglich sehe ich in der Innenstadt, an den Bahnhöfen und in den Bahnen jene, die von der Gesellschaft ausgesondert worden sind und keine Lobby haben, die für sie die Stimme erhebt.
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In der Frühjahrs-Ausgabe 2021 der Zeitschrift der Lehrerbau-Genossenschaft bei uns ist meine Wohnautobiografie erschienen.


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