Spießer als Rebellen: Corona-Widerstand in Stade
Der Kreisverband Stade der AfD schien verschwunden, untergetaucht, aufgelöst. Seit die Flüchtlingskrise keine mehr ist, haben die Alternativen außer mit Unfug vor allem auf sich aufmerksam gemacht, indem sie als Nachfahren der Nationalsozialisten auftraten. Mit wirklichen Problemen wie Corona- und Wirtschaftskrise sind die Polit-Fantasten überfordert.
Zu Corona fällt der AfD erneut nur Unfug ein. Der KV Stade schwimmt mit im anschwellenden Strom der Verschwörungstheorien, die die Seuche als Erfindung ausgeben.
Eine gewisse Kreativität darf man der AfD durchaus zusprechen. Mit Bollerwagen und als Sandwich(wo)men zog die Partei am Samstag, 9. Mai 2020, an dem das Gedränge wieder so war wie im Corona-Vormärz, durch die Geschäftsgassen von Stade zwischen Holzstraße und Fischmarkt.
Selbstdarstellung der AfD-Homepage
Bundesweit gingen allerhand Leute auf die Straße, um gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu protestieren und eine damit einhergehende Einschränkung der Grundrechte zu beklagen.
Die AfD verteilte Grundgesetze und stellte auf einem Schild einen mysteriösen Vergleich oder Zusammenhang zwischen Corona und → Contergan her.

Nachdem die Neonazi-Partei abgezogen war, versammelten sich, wie schon am 2. Mai, 50 Personen auf dem Pferdemarkt, um zwei Stunden schweigend dazustehen. Keine Rede, keine Handzettel, nur ein paar Schilder mit Belegen für Ungenanntes, das sich mir nicht, wie womöglich von den Veranstaltern erhofft, telepathisch erschloss.

Das Publikum erhält keine Botschaft, keine Erzählung angeboten. Wie die Protestierenden lediglich ihre Vorurteile durch Fake-News bestätigt sehen wollen, sollen die Passant/innen offenbar ahnend assoziieren können, wofür oder wogegen die in Abstand wahrenden Fahrradreifen Stehenden schweigend antreten.
Verbiesterte Spießer und Krüppel der Generation Internet, die Wirklichkeit und Politik bloß zweidimensional vom Monitor kennen, verstummen, wenn sie als Rebellen auf die Straße ziehen. Höchstenfalls halten sie Schilder hoch oder kleben sie an die Laternen.
An die Laternen … woran erinnert mich das?


Wenn der Irrsinn aus dem Netz sich anschickt, die Gassen von Stade zu erobern, muss man sich zunächst also vielleicht nicht besorgen. Auf dem Pferdemarkt stehen sie nur verloren herum.
Auch dass zwei Gruppierungen, die anscheinend dasselbe meinen, unabhängig voneinander losziehen, könnte optimistisch stimmen.
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Erhellendes über die Corona-Widerständler bei → Die Kolumnisten
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12. Mai: Um wen genau es sich bei den Demonstranten handelt und was sie wollen, ist offenbar nicht nur in Stade rätselhaft. In den Medien und den Sozialen Netzwerken werden sie abwechselnd verteufelt oder verteidigt, ähnlich wie vordem bei PEgIdA, bis die neue Volksbewegung in der AfD aufging.
Sie sind also da, 50 Personen, eine für Kundgebungen in Stade durchaus bemerkenswerte Anzahl. 50 Personen, die sich ohne erkennbare Struktur, ohne für Außenstehende erkennbare Mobilisierung, ohne Vor- und Nachlauf im Internet bisher zwei Mal im öffentlichen Raum zusammen gefunden haben. Die keinen Polizeieinsatz provoziert haben, der ihnen mehr Aufmerksamkeit verschafft, aber auch Anlass gegeben hätte, über den Auftritt aufzuklären.
Was immer sie wollen, sind sie mir unheimlich durch ihr geheimnistuerisches Gebaren. Wer öffentlichen Raum beansprucht, muss sich erklären. Herumstehen und Schweigen kommt nur bei einer Mahnwache in Betracht. Wer sich auf dem Marktplatz versammelt, um zu schweigen, hat dort nichts zu suchen und kein politisches Gewicht zu beanspruchen. Wer sich öffentlich nur an Eingeweihte richten will, sollte zu Hause bleiben.
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Die Corona-Leugner aus Stade verbreiten ihre Botschaft inzwischen lauter und vernehmlich auf You Tube („Norona Stade“). Unter anderem wird dazu aufgefordert, die etablierten Medien abzuschalten und auf gewisse Telegram-Kanäle umzusteigen. Ach ja, „und wir müssen wieder lernen, unser Herz zu öffnen“, forderte eine Rednerin, die durch Telegram anscheinend zu ihrem Gott gefunden hat. Auf offenen Widerspruch stießen die Thesen der Verschwörungstheoretiker im Hanselstädtchen jedenfalls nicht. Die YouTube-Videos wurden eingestellt von jemand, der einer Gruppe namens „Patrioten“ zugerechnet wird, einer → „Vorfeldorganisation von IB und AfD“.
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Am 27. Juni 2020 haben auch die überbezahlten und korrupten Schnarchnasen vom Stader Tageblatt bemerkt, was seit Wochen vor ihrer Haustür vorgeht. Freilich ist ihnen nichts Besseres eingefallen, als den Corona-Leugnern nach dem Mund zu reden.
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Ich habe mir nicht alle Reden angehört, die von den „Norona“-Rebellen auf dem Pferdemarkt gehalten wurden und bei YouTube eingestellt sind, aber genug, um das Muster zu erkennen. Ich müsste noch einmal nachzählen, aber es waren mehrheitlich Frauen, die, ausgehend von persönlichen Erfahrungen, Zweifel anmeldeten an dem, was ihnen als Wirklichkeit vorgemacht werden solle.
Lauter kleine Descartes, denen ein Dämon etwas vorgaukelt, so dass sie erst einmal festen Boden unter den Füßen suchen müssen. Beim französischen Philosophen endete das bekanntlich mit dem „cogito ergo sum“.
Ein löbliches Unterfangen soweit. Das Zweifeln ist der Ursprung der Philosophie, so wie ich sie einmal erlernt habe, mit besonderer Berücksichtigung von Descartes Meditationes und Wittgensteins Über Gewissheit.
Am Ursprung der Demokratie steht die freie Rede auf dem Marktplatz. Und die „Noronisten“ belegen, wie das funktioniert. Sie können an einem späten Samstagnachmittag allen, die es nicht hören wollen, ihre Gedanken vortragen. So unausgegoren sie auch sein mögen.
Um auf die Philosophen zurück zu kommen: Descartes schildert den Gang seines Zweifels, um zu einer Schlussfolgerung zu gelangen, während bei Wittgenstein der Weg das Ziel ist und der Zweifel nie aufhört. Descartes meinte, eine unveränderliche Wahrheit entdeckt zu haben, während Wittgenstein daran zweifelt, dass es eine solche gibt.
Die letzten Zeilen des Über Gewissheit posthum betitelten Konvoluts, die letzten von seiner Hand lauten: »Aber wenn ich mich auch in solchen Fällen nicht irren kann, – ist es nicht möglich, dass ich in der Narkose bin?« Wenn ich es bin und wenn die Narkose mir das Bewusstsein raubt, dann rede und denke ich jetzt nicht wirklich. Ich kann nicht im Ernst annehmen, ich träume jetzt. Wer träumend sagt »Ich träume«, auch wenn er dabei hörbar redete, hat so wenig recht, wie wenn er im Traum sagt »Es regnet«, während es tatsächlich regnet. Auch wenn sein Traum wirklich mit dem Geräusch des Regens zusammenhängt.
Wer bis hierhin folgen konnte, wird wissen, dass ich nur zu illustrieren versuche, auf welchem dünnen Eis sich die „Noronisten“ bewegen, wenn sie sich daran machen, ihre Zweifel an dem zu artikulieren, was Wirklichkeit genannt wird. Und sie tun es am falschen Ort.
Der Pferdemarkt zu Stade ist weder eine Telegram-Gruppe noch ein Universitätshörsaal. Zumal jene, die dort die Öffentlichkeit daran teilhaben ließen, wie sie allmählich ihre Gedanken verfertigen, sämtlich offenbar gerade erst damit angefangen hatten. Angefangen mit dem selbständigen Denken. Das Publikum wurde Zeuge einer Erweckung.
Zweifeln ist elementar. Was die „Noronisten“ unternehmen zielt auf Zersetzung. Etwa ihr wiederkehrendes Muster der Manipulation durch die Medien. Sie kritisieren das nicht; sie tun, als hätten sie erstmals entdeckt, dass es eine Welt hinter ihrer Alltagsfassade gibt, und sie müssten nun wie Wanderprediger den Rest der Welt davon überzeugen.
Der Karton war angeschlagen, und sie haben eine der Sonnenbrillen eingesteckt. Sie können die Schrift an der Wand lesen. Wäre natürlicher einfacher, wenn sie Brillen verteilen könnten. Stattdessen tragen sie keine Masken. (Was sie auf den Videobildern vom Pferdemarkt freilich nicht von den Passanten unterscheidet …)
Bei der Brille muss mir Joseph Smith einfallen, der Gründer der Mormonen, den ein Engel mit einer solchen ausstattete, damit er das Buch lesen konnte, dass er ihm diktiert hatte. Statt Descartes auf Dämonenjagd der passendere Vergleich.
Sie zweifeln nicht, sie wollen vielmehr verzweifelt an etwas glauben, das einen möglichst großen Gegensatz zu dem bildet, was ihnen bis hierhin als Wirklichkeit erschienen zu sein schien. Den Videos nach hatten sie jedenfalls die ersten Jahrzehnte einigermaßen überstanden, ohne heftig mit der Realität zu kollidieren. (Die Videos sind von keinen Medienmachern manipuliert, aber das macht sie nicht wahrer; ich kann mich nur auf den Anschein von Minuten stützen.)
Für Descartes war der Dämon, der ihm eine Scheinwelt vorgaukelte, ein Gedankenexperiment. Die überwiegend jungen Leute auf dem Pferdemarkt glauben wirklich an dämonische Mächte.
So wenig wie irgendeine Quasselbude ist der Pferdemarkt eine Kirche. Genehmigt wurden die Veranstaltungen als politisch. Und hier enden Verständnis und Mitgefühl. Ich habe mir die Selbsterfindungsprozesse nur virtuell und freiwillig zu Studienzwecken angetan. Wäre ich zufällig persönlich zugegen gewesen, hätte ich für mich das Recht in Anspruch genommen, öffentlich Widerspruch einzulegen und wäre der einen oder dem anderen ins Wort gefallen.
Die „Noronisten“ tun harmlos, und für Polizei und Staatsanwaltschaft mag nichts Beanstandenswertes gesagt oder getan worden sein. Aber wer mitten in einer Ausnahmesituation, die bereits an den Grundfesten der Gesellschaft rüttelt, zu weiterem Umsturz aufruft, muss sich politisch zur Rechenschaft ziehen lassen.
In Stade ist das offenbar in jeder Form versäumt worden. Das bekannte Muster: ignorieren, verschweigen und verleugnen, bis es sich weiter ausgewachsen hat. Und dann „Wehret den Anfängen!“ brüllen.
Eine Rednerin betonte gleich zu Anfang, weder rassistisch noch rechtsextrem zu sein. „Aber ich!“, wäre mir wahrscheinlich rausgerutscht, hätte ich dabei gestanden. „Und Antisemit bin ich auch!“ Würden die Leute aufhören, einander Buttons aufzukleben, sondern diese selbst in Zweifel zu ziehen, wäre mehr gewonnen als durch das Aufkleben.
Im Ernst: der Führer des Ganzen ist ein Neonazi. So heißen die nun einmal für weitere tausend Jahre, die in diesem Lande an das NS-Ahnenerbe anschließen, ob sie es laut sagen oder selbst nicht merken. Letzteres werde ich gern für die eine oder den anderen, die sich auf dem Pferdemarkt in den Kopf schauen ließ, in Rechnung stellen. Und je empörter sie jede Verwandtschaft von sich weisen, desto tiefer stecken sie drin.
Zersetzend, sagte ich, sei das Zweifeln der „Noronisten“, und setzte auf den Nachklang der LTI bei dem Wort, weil die Nationalsozialisten den Zweifel auszulöschen versuchten, indem sie ihn zersetzend nannten, während sie dabei waren, die reale Welt in Trümmer zu legen und so viele Leben zu eliminieren wie sie konnten.
Deutlich wurden sie auf dem Pferdemarkt nur im Zweifel. Sie malten keine Hakenkreuze in die Luft, von Hohlerde und Neu-Schwabenland war keine Rede. Darin sind Neonazis seit Jahrzehnten geübt: sich auf die Zunge zu beißen, wenn es zur Sache geht. Mit dem Aufstieg der AfD und ihrem Durchmarsch in den Sozialen Medien haben sich die Grenzen des öffentlich Sagbaren zwar verschoben, aber die Strafgesetze sind geblieben.
In AfD-Versammlungen ebenso wie bei den „Noronisten“ wird das Wesentliche ausgespart. Weil irgendein Feind immer mithört. Also muss man Kreide fressen und es bei Andeutungen belassen. Dank ihrer Galionsfiguren auf Telegram sind die Elemente der Verschwörung bekannt, die sie noch nicht mit Mikrofon auf dem Pferdemarkt laut aussprechen.
Für die Gläubigen ringsum reicht es, und der eine und die andere, die aus denselben oder ähnlichen Internetquellen schöpfen und zufällig vorbei kommen, wird beifällig nicken.
Eine Blase nur, sagen die Verharmloser, aber eine, die größer wird. 50 Leute über Monate sind für Stader Verhältnisse eine beträchtliche Zahl, die öffentlichen Raum politisch für sich beansprucht. Bisherige Reichsnachfolger bekamen selten so viele zusammen, und wenn, dann wurde die halbe Stadt für ihren Auftritt gesperrt.
Während eine Seuche das öffentliche Leben bestimmt, nutzt eine andere die Gunst der Stunde und die abgelenkte Aufmerksamkeit, um sich breit zu machen. Geht mich alles nichts mehr an, könnte ich denken, weil ich diese spezielle Stadt hinter mir gelassen habe, in der das deutsche Grauen an vielen Stellen eine feste Größe ist. Eben: nur diese Stadt, die in ihrer Mittelmäßigkeit typisch ist für das ganze Land.
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