Aufzeichnungen im Schatten des Corona-Virus
→ Erste Folge ab 28. März 2020
→ Zweite Folge ab 23. April 2020
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9. Juli 2020: Nachdem die Lieblingspostille der Altnazis und ihrer Erben, das Stader Tageblatt, sich bereits den Corona-Leugnern angedient hat (→ Aufstand der Einfältigen), bietet sie nun einen bis hierhin unbekannten Virologen auf, um die eindringliche Warnung des renommierten SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach vor einer Abschaffung der Maskenpflicht für „hochgefährlich“ zu erklären.
Hochgefährlich nicht für die Gesundheit der Bevölkerung, sondern für die Konten der Geldscheffler, denen die Tageblatt-Redaktion täglich so tief wie möglich in den Darm kriecht und von denen sie sich bezahlen lässt. Wenn die zweite Welle der Infektionen durchs Land rollt, wird natürlich keine*r dieser Ehrenmänner und -frauen sich dafür verantwortlich fühlen. Stattdessen wird im Tageblatt irgendeine Randgruppe angeprangert werden, die in der Zeitung ohnehin nie eine Stimme erhält.
In derselben Ausgabe des Schandblatts wird der Erste Bürgermeister von Hamburg zitiert, der sich gegen eine Abschaffung der Maskenpflicht ausspricht. Mithin kann ich froh sein, dass ich die braune Hochburg Stade hinter mir gelassen habe und nun das Weltgeschehen von der liberaleren Großstadt aus betrachte.
Das Tageblatt verfährt wie die AfD, die eine App verbreitet, die vor Nutzern der Corona-Warn-App der Bundesregierung warnt. (→ Der Standard) Die Seuche und Solidarität waren gestern, heute betreiben die Herrschaften wieder ihre Lügenpolitik.
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Das sichtbare Zeichen der Seuche ist die Maske, die in gewissen geschlossenen Räumen aufzusetzen ist. Daran, wie sie getragen wird, lässt sich ablesen, wie ernst die Infektionsgefahr genommen wird.
Aus Gründen, die nichts zur Sache tun, bin ich täglich vielfach mit der U-Bahn unterwegs. Bei jeder Fahrt gibt es mehrere, die mit der Maske nicht die Nase bedecken, und immer wieder einige, die sie ganz abziehen, weil sie offenbar nicht für ein paar Minuten darauf verzichten können, zu essen oder zu trinken.
Auf twitter wird dafür eine „toxische Männlichkeit“ verantwortlich gemacht. Der Umgang mit der Maske ist den Ideologen in die Hände gefallen. Meiner Beobachtung nach sind es sowohl Männer wie Frauen, Alte wie Junge, die sich der Maskenpflicht verweigern. Arschlöcher gibt es in jeder Alters- und Bevölkerungsgruppe. Aber der Befund passt Hetzern eben nicht ins Konzept.
Ach ja, und dann ist da noch diese Corona-Warn-App. Sollte mich nichts angehen, denn der Besitz von Smartphones ist für Armengeld-Bezieher nicht vorgesehen. Dass ich dennoch über ein solches Maschinchen verfüge, entspricht nicht dem Willen des Gesetzgebers.
Und wahrhaftig hatte ich die App installiert. Vollkommen überflüssig, denn dort, wo ich mich aufhielt, kam ich niemandem nah genug, um mich anzustecken.
Das ist inzwischen anders. Aber da ich seit 14 Tagen darauf warte, dass ich in meiner Wohnung über Strom verfüge, muss ich mit der Akku-Ladung sparsam umgehen und verplempere sie nicht für die Warn-App, die, wie nun bekannt wird, auf meinem Gerät im Sparmodus ohnehin nicht funktioniert hätte.
Inzwischen steigt die Zahl der Infektionen rapide an. Wen wunderts? Mich nicht. Ich sehe täglich Händeschütteln, Umarmungen, Gedränge. Und in Kitas und Schulen soll bald alles wieder „normal“ sein. Normal heißt: ignorant. Wir tun, als wäre die Seuche vorbei, und dann wird sie schon verschwinden. Gute Nacht, Deutschland.
Ein Lokal am Spielbudenplatz in Hamburg geriert sich als Zentrale des Widerstands gegen Corona. Nicht, dass man sich hier etwelche Mühe gäbe, die Seuche abzuwenden. Vielmehr wird an der Fassade allerhand rhetorischer Aufwand betrieben, zu leugnen, dass es überhaupt eine Seuche gibt und sie als Erfindung einer ominösen Verschwörung zu erklären.
Das ist also in der Groß- wie in der Kleinstadt, denn dem Vernehmen nach haben sich am Samstag, 25. 7., in Stade erneut die Corona-Leugner von „Norona“ ungestört und mit behördlicher Genehmigung und Polizeischutz auf dem Pferdemarkt versammeln können.
Für den 1. August ist ein Großdemonstration in Berlin angekündigt, bei der das Ende von Corona verkündet werden soll. Die Seuche soll die Erfindung der jüdischen Weltverschwörung sein, und die Verweigerer von Schutzmasken seien die Juden von heute. Wie derartige Hirnkrämpfe entstehen, ist etlichen Büchern über die Geschichte des Dritten Reichs zu entnehmen.
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„Ideologen liefen gemeinsam mit Frustrierten“, heißt es im → Spiegel über die nach Polizeiangaben 20.000, die am 1. August in Berlin das „Ende der Pandemie“ und ihren „Tag der Freiheit“ begingen.
Um wen es sich bei den „Ideologen“ handelt, scheint klar: Neonazis. „Die Frustrierten kommen nach ihrer Wahrnehmung im politischen Geschehen nicht richtig vor. Familien, Ältere, aber auch viele junge Leute, die sonst eher auf Festivals gehen.“
Wovon aber zum Teufel sind diese Leute denn frustriert? Dass es ihnen materiell so gut geht, dass sie normalerweise konsumieren können, was das Zeug hält, und in einer Überflussgesellschaft leben – und sich nun seuchenbedingt ein paar Monate einschränken mussten? Sie können doch auch wieder reisen und müssen, wenn sie aus einem Corona-Risikogebiet zurückkehren, nicht einmal die Tests selbst bezahlen, die durch ihr Verhalten notwendig geworden sind.
Sie können anstandslos demonstrieren und dabei Abstandsregeln missachten und auf Masken verzichten, ohne dass die Polizei eingreift.
Vor 1933 gab es ein eben solches Bündnis von Ideologen und Frustrierten. Freilich war der Frust ein anderer. Es gab Entbehrungen und tägliche Demütigungen. Die Deutschen zahlten die Zeche für den Krieg, den sie vom Zaun gebrochen hatten.
Heute gibt es nicht den geringsten Grund für Frust. Im Gegenteil geht es den Leuten offenbar viel zu gut. So hervorragend, dass sie bereits das Tragen einer Maske bei bestimmten Gelegenheiten als drastische Einschränkung ihrer Freiheit empfinden.
Wohlgenährt und gut ausgestattet sind sie alle, gleichgültig, welche Partei sie wählen. Und es ist das „System“, gegen das sie antreten, das ihnen ihr behagliches Leben sichert.
Die Seuche hat sie an das erinnert, was sie sonst verdrängen können: dass das Leben eine prekäre Angelegenheit ist, gegen deren Wechselfälle keine Versicherung schützt.
Der Hass auf Flüchtlinge rührt daher ebenso wie die Verachtung für alle, die keine kleinbürgerlichen Sofaträume hegen. In Berlin rebellieren wie vor 1933 die Spießer, die ihre persönliche Freiheit bereits bedroht sehen, wenn sie auf der Autobahn nicht bedingungslos rasen können sollen.
„Ich habe keinen Bock mehr auf Corona“, meint im Radio eine junge Frau, die zu der Meute gehört, die sich am Wochenende in Hamburg unbedingt auf offener Straße besaufen will. Verwöhnte Blagen, wo man hinschaut, von 16 bis 66.
Die „Frustrierten“ haben in Wahrheit keine echten Sorgen. In ihren Leben fehlt offenbar etwas, das ihnen das „System“ nicht bietet. Also folgen sie Rattenfängern wie Kalbitz oder Hildmann, die ihnen einen Sinn verheißen, für den ehedem die Religion zuständig war. Und die Formel ist dieselbe wie 1933: „Die Juden sind unser Unglück.“
Jude ist eine Marke, die jedem angeheftet werden kann. Heute sind es Merkel und Drosten, und morgen sind andere dran. Gute Nacht, Deutschland.
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Zwei Meldungen aus Hamburg vom 5. August:
Die Maskenpflicht in Bus und Bahn soll → verstärkt kontrolliert werden.
Regelmäßige Durchsagen und Beiträge im Bahn-TV allein reichen nicht. Noch in jedem Wagen, in denen ich in den vergangenen Wochen saß, waren mehrere, die ihre Nase unbedeckt ließen, und zuletzt immer wieder einer oder eine, die keine Maske trugen, gern unter dem Vorwand, essen und trinken zu müssen. Der dreisteste Fall war einer mit umgehängter Maske, der einen Lolli lutschte. Ermahnungen von anderen Fahrgästen gab es nicht, und auch ich fühlte mich nicht zum Blockwart berufen.
Die zweite Meldung betrifft den Innensenator, den Politiker, der für Ordnung und Sicherheit in der Stadt zuständig ist. Er hat die Übernahme seines Amtes mit einer Feier begangen, die nun als → Verstoß gegen das Seuchenschutzgesetz gewertet wurde.
Was dem Ochsen frommt, geht Jupiter am Arsch vorbei, sagten die Lateiner. Und so sieht es offenbar auch der Erste Bürgermeister der Freien und Hansestadt, der meint, Herr Grote habe sich nicht für sein Amt disqualifiziert.
Das ist Wasser auf die Mühlen der Corona-Leugner. Gute Nacht, SPD.
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Noch sind die Deutschen körperlich der Krankheit entgangen, aber im Kopf … Während eine zweite Welle der Infektionen heranzurollen scheint, wird die Wiedereröffnung der Fußballstadien erörtert. Die Corona-Leugner feixen: alles gar nicht so schlimm, wenn Tausende sich wieder anspucken und umarmen können sollen.
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Der HVV hat die Ansage in Bahn und Bus geändert: nun wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Schutzmaske auch die Nase bedecken muss. Ab kommender Woche werden Bußgelder für Maskenmuffel fällig. Überfällig.
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Die Gesellschaft ist gespalten, in arm und reich, in links und rechts. Die Seuche hat einen neuen Riss hinzugefügt, der quer zu den bisherigen Trennlinien verläuft. Jene, die sich durch die Schutzmaßnahmen ihrer Freiheit beraubt sehen, die Maske als Maulkorb begreifen und Corona zum Anlass nehmen, den Sturz des „Systems“ zu fordern, demonstrieren am 29. August zum zweiten Mal in Berlin.
Sofern sie nicht schon vorher Neonazis waren, reden sie nun wie die Nationalsozialisten vor ihrer Machtübernahme. Sie gebärden sich als blindwütige Fanatiker, die keinen Einspruch zulassen, sondern nur bedingungslose Gläubigkeit kennen und allen anderen den Verstand absprechen.
Was NPD, PEgdIA und AfD nicht gelungen ist, hat die selbst erklärte Querfront geschafft: Massen ziehen durch die Straßen der Hauptstadt und sind bereit, auch mit Gewalt ihre Ziele durchzusetzen. Dass diese Ziele ausschließlich destruktiv sind, teilen sie mit den Nationalsozialisten und ihren bisherigen Erben. Anders als diese geben sie sich nicht einmal den Anschein, noch am politischen Diskurs teilzunehmen.
Sie wollen, dass keine Chemtrails mehr versprüht werden und ominöse Eliten aufhören, Kinderblut zu trinken. Das wird nicht geschehen, weil sich Projektionen nicht auf politischem Weg aus der Welt schaffen lassen.
Wie lange wird es also dauern, bis die Querfrontler erkennen, dass sie nichts bewirken? Und was dann? Sie werden nicht einfach verschwinden, sondern allenfalls nicht mehr auf der Straße auftreten. Werden sich, wie bei NPD, PEgIdA und AfD andere, genuin politische Kräfte ihre Ziele assimilieren?
Oder werden von den Zehntausenden, die gegen Windmühlenflügel in Berlin antreten, einige zu Amokläufern oder Attentätern werden, weil ihnen kein anderer Weg mehr offen bleibt, sich zur Geltung zu bringen?
Mit Chemtrails, um ein Beispiel aufzugreifen, wurde ich 2004 erstmals aus öko-veganen Kreisen konfrontiert. An Corona war da noch nicht zu denken. Seitdem schalte ich dabei auf Durchlauf.
Die Schwurbler haben jedes Recht zu sagen, wonach immer ihnen der Sinn steht. Aber für mich besteht keine Pflicht, ihnen zuzuhören.
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Jene, die die Seuche leugnen und die Verweigerung jeder Sicherheitsvorkehrung als ihre politische Freiheit reklamieren, sind nur die Spitze des Eisbergs. Je länger das Virus umgeht, desto nachlässiger wird damit verfahren. Im Interesse der (Gast-)Wirtschaft ist die Bildung von Hotspots genehmigt worden. Am 17. September wird vermeldet, dass zwar ein Lokal im Hamburger Schanzenviertel geschlossen wurde, weil Beschäftigte und Gäste sich infiziert haben, aber die Gästelisten nichts taugen, weil sie falsche Namen und Adressen enthalten.
Zugleich steigen die Infektionszahlen insgesamt drastisch auf den höchsten Wert seit April an. Eine Impfung ist weiterhin nicht in Sicht. An die zwei Jahre werde man mit dem Virus leben müssen, erklärten Virologen, als es los ging. Das wurde rasch wieder vergessen, und statt sich auf eine lange Zeit einzustellen, wurde schon nach wenigen Wochen wieder nach „Normalität“ gerufen.
Statt die Verhältnisse auf die neuen Bedingungen umzustellen, wurde jede Gelegenheit genutzt, die alten wiederherzustellen. Schulen wurden geöffnet, die auf den Umgang mit der Seuche nicht eingerichtet waren, und nun müssen die ersten wieder geschlossen werden. Allenthalben wird kein Abstand gehalten, Hände geschüttelt, umarmt – und die AfD im Bundestag macht es vor.
Eine Massenveranstaltung nach der anderen wird abgehalten. Bei Demonstrationen wird selbstverständlich nicht einmal eine Teilnehmerliste geführt, die den Nachvollzug der Infektionsketten ermöglicht, und es lässt sich nur mutmaßen, inwiefern diese mitverantwortlich sind für den Anstieg der Erkrankungen.
In einer insgesamt aufgeheizten Stimmung wird nicht mehr argumentiert, sondern nur noch bedingungslos gehetzt. Die gesellschaftliche Übereinstimmung, die in Verbindung mit der typisch deutschen Disziplin dafür sorgte, dass in den ersten Wochen der Pandemie die Todesfälle ausblieben, die in anderen Ländern verzeichnet wurden, ist geschwunden.
Ausgangssperren sind Deutschland bisher erspart geblieben. Aber sie drohen weiter, weil es allzu vielen schwer fällt, Verzicht zu üben auf das, was die Seuche befördert.
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„Sollte sich die Zahl der Infektionen weiter auf dem aktuellen Niveau bewegen, müssen ab Montag auch Mund-Nase-Bedeckungen bei allen sonstigen Veranstaltungen in geschlossenen Räumen und in Gebäuden mit Publikumsverkehr und an öffentlichen Plätzen getragen werden, an denen es zu größeren Ansammlungen und Enge komme.“ So berichtet der NDR für Hamburg am 8. Oktober.
Wieso soll die Maskenpflicht erst ab Montag in geschlossenen Räumen gelten? Ich bin davon ausgegangen, das sei bereits so. Und um welche öffentlichen Plätze soll es sich handeln? Mönckebergstraße, Spitalerstraße, Rathausmarkt, Hoheluftchaussee ‐ wo es täglich zu Ansammlungen und Enge kommt? Und wie soll damit umgegangen werden? Wird die Polizei die Schlagstöcke zücken?
Nichts gegen die Anti-Corona-Maßnahmen, aber ein deutliches Mehr an demokratischer Transparenz könnte schon sein. Aber an der mangelt es der politischen Klasse auch sonst. So beflügelt man die Corona-Leugner, die mit dem Grundgesetz in der Hand Wind machen.
Zeigt sich hier der Abstand zwischen der politischen Klasse und dem gemeinen Volk, indem der Senat nicht wirklich weiß, was in der Stadt vorgeht und am grünen Tisch Maßnahmen beschließt, ohne eine konkrete Vorstellung von der Umsetzung zu haben?
Aus Stade wird berichtet, dass dort bei den Schildern nachgerüstet wurde, die darauf hinweisen, dass auf dem Wochenmarkt eine Maske zu tragen ist. Bereits im März stellte ich fest, dass die Reichen und Schönen auf ihrem Markt keinen Abstand halten. Offenbar haben sie sich weiterhin nicht um das geschert, was sie anderen verordnen.
Und natürlich sind sie munter in der Weltgeschichte umher geflogen und haben für Virenimport gesorgt. Die Hauptleidtragenden der Seuche sind natürlich nicht sie, die gegebenenfalls für besondere medizinische Behandlung bezahlen können, sondern die Abgehängten, die in Sammelunterkünften untergebracht sind: Saisonarbeiter, Obdachlose, Flüchtlinge und Altenheiminsassen.
Die Seuche ist alles andere als ein Gleichmacher vor dem Tod. Vielmehr bringt sie die sozialen Unterschiede umso stärker zur Geltung. Wie gegenwärtig durch Verordnungen eines weltenthobenen Senats, der offenbar nicht weiß, was in seiner Stadt vor sich geht, und Maßnahmen in den Raum stellt, ohne sie zu erläutern oder sich Gedanken über ihre Umsetzung zu machen.
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Glück gehabt. Ab Montag, 12. Oktober, gilt auf 14 Straßen und Plätzen in Hamburg eine Maskenpflicht. Mein heimatliches Revier entlang der Hoheluftchaussee gehört nicht dazu. Auf der Liste stehen der Steindamm, der Ballindamm, die Reeperbahn und überhaupt der Großteil des Rotlichtreviers auf St. Pauli, außerdem das Schulterblatt. Seltsamerweise nicht betroffen sind die Haupteinkaufsstraßen Mönckeberg- und Spitalerstraße sowie rund um den Bahnhof Altona und das Areal zwischen Rathausmarkt und Gänsemarkt. Dass hier weniger Gedränge herrscht als etwas auf dem Ballindamm kann nur glauben, wer dort nie unterwegs war. So sinnvoll die Maßnahme ist, so willkürlich erscheint die Zusammenstellung der Liste.
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„Die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommerns hat mit ihrer neuen Verordnung zum Umgang mit Corona-Hotspots Verwirrung gestiftet“, meldet der NDR am 11. Oktober aus dem einen Bundesland, und aus dem anderen: „Kontaktlisten bedeuten viel Aufwand für die Gastronomen. Doch nach einer Abfrage des NDR in Niedersachsen werden sie von den Behörden kaum abgefragt.“
Je länger die Seuche dauert, desto chaotischer scheint der Umgang damit zu werden. Statt die Bevölkerung darauf einzustimmen, dass die Krise lange dauern würde, führte die Politik bereits wenige Wochen nach Beginn Diskussionen über Lockerungen der Schutzmaßnahmen. Inzwischen sehen weite Kreise die Seuche so locker, dass die Infektionszahlen sprunghaft ansteigen.
Denen, die die Seuche schlichtweg leugnen und die Schutzmaßnahmen zur Einschränkung ihrer Freiheitsrechte erklären, arbeiten Politik und Behörden zu, indem sie Verordnungen erlassen, dessen Sinn sich nicht unmittelbar erschließt, und die zu erläutern sie offenbar für unnötig halten, als befände sich das Land in einem Außnahmezustand, der die Demokratie außer Kraft gesetzt hätte, oder sei in Zeiten des Nationalsozialismus oder des Kaiserreichs zurückgefallen, wo es nur brave Untertanen gab.
Und die Presse, die so gern auf ihre Freiheit pocht, unterstützt dieses Verhalten. Kritik an der willkürlichen Auswahl der Straßen und Plätze, auf denen in Hamburg eine Maskenpflicht gelten soll, ist nicht zu hören. Sollte es schlicht daran liegen, dass das Pressepersonal sich in der eigenen Stadt nicht auskennt und stets nur im Auto von Termin zu Termin hetzt und nie länger auf Straßen und Plätzen aufhält? Offenbar gilt den Journalismus in der „Weltstadt“ dieselbe Ignoranz wie für den in der Kleinstadt, in der ich zuletzt beobachten konnte, dass die Presse-Darsteller in einer Parallelwelt leben, die kaum Berührungspunkte mit der Wirklichkeit ihrer Leserschaft hat.
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15. Oktober: Die zweite Welle ist da, die Infektionszahlen sind so hoch wie am Beginn der Pandemie-Aufzeichnungen. Und nun? Die Politik ist ratlos, die Bürger irritiert. Ich reise nicht und besuche keine Veranstaltungen. Aber die Menschenmengen in den Straßen kann ich nicht meiden, und im Supermarkt tragen die Kassiererinnen keine Maske. Gestern bin ich ausnahmsweise und nicht auf meine Kosten mit dem Taxi gefahren: waren im Fond noch Aerosole der vorigen Fahrgäste verstreut? Allmählich wird es überfällig, dass die Gesellschaft das Improvisieren wie das Jammern einstellt und sich auf ein längerfristiges Leben mit der Seuche einstellt. Aber immer noch kommen mir allzu viele zu nah wie ehedem im März.
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Die Lage wird immer dramatischer und unübersichtlicher. Die Neuinfektionen erreichen täglich neue Höchstwerte, die Politik wirft immer neue und unterschiedliche Verordnungen aus, die mal von den Gerichten kassiert werden, mal nicht. Es rächt sich, dass nicht von Anfang an unmissverständlich klar gemacht wurde, dass die Seuche den Alltag für lange Zeit mitbestimmen wird. Stattdessen wurde so getan, als ginge die Welt unter, wenn Fußballspiele und Konzerte ausfielen.
Außer in den Schlachthöfen haben sich die Arbeitsplätze nicht als Infektionsherde erwiesen, und offenbar geht auch von Kitas und Schulen keine sonderliche Gefahr aus. Bei Alkoholexzessen und durch Urlaubsreisen bilden sich hingegen Hotspots. Himmelherrgottnochmal, dann sollen die Leute halt mal eine Weile darauf verzichten!
Tut mir Leid für die Musiker, die nicht auftreten können, aber davon geht die Welt nicht unter. Wenn daraus ein Kulturcrash konstruiert wird, läuft mir die Galle über. Wir leben schließlich nicht mehr im 19. Jahrhundert, als Musik nur live verfügbar war. Literatur entsteht und wird rezipiert, auch wenn keine Lesungen stattfinden. Ich war seit Jahren nicht mehr im Theater und bin dadurch keinen Deut barbarischer geworden.
Hätte die Seuche tatsächlich Verhaltensweisen so nachhaltig verändert wie vielfach vorgegeben wird – würden die Infektionszahlen nicht ansteigen. Vielmehr hat man viel zu früh so getan, als sei Corona bereits überwunden und den Alltag von vorher wieder aufgenommen.
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Mehr als 10.000 Tote bundesweit.
Hamburg ist Risikogebiet. Der Winterdom ist abgesagt worden, der Fischmarkt wird nicht wie geplant wieder eröffnet. Höchstens zehn Personen aus zwei Haushalten dürfen sich treffen. Die Politik schildert die Lage als dramatisch und appelliert an die Vernunft der Bürger.
Aber: Der Coronas wegen im April abgesagte verkaufsoffene Sonntag wird am 25.Oktober nachgeholt. So ernst kann die Situation dann wohl doch nicht sein, wenn zum Kaufrausch aufgefordert wird.
Die Corona-Leugner triumphieren ob dieser schizophrenen Politik, die den Lockdown androht und zugleich auffordert, die Einzelhandelsgeschäfte zu stürmen.
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In Hinsicht auf die Corona-Pandemie besteht eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen der Staatsmacht und der Mehrheit der Bevölkerung. Man ist sich einig, dass die Seuche existiert und sie bekämpft werden muss. Über die Art und Weise des Umgangs damit besteht schon weniger Einigkeit, aber darüber wird immerhin geredet.
Und wie in den vergangenen Monaten zu sehen war, werden Entscheidungen revidiert und Maßnahmen angepasst. Das ganz normale Prozedere in einer Demokratie. Dass die Zahl der Toten erst jetzt die 10.000-Marke überschritten hat, ist eine Frucht der Übereinstimmung zwischen Politik und Bevölkerung.
Von Anfang an waren aber auch Leute unterwegs, denen der erzwungene Ausnahmezustand nicht passte, und die ihn in etwas umdeuteten, mit dem nicht die Natur die Welt geschlagen hatte, sondern als etwas behaupteten, das ihrem speziellen Land von bestimmten Personen und Gruppen angetan werde.
Die hygienischen Verhältnisse hatten die Pest verursacht. Aber damals hatte man keinen Begriff von Hygiene. Also wurden die Juden verantwortlich gemacht. Die damaligen Mythen sind heute wissenschaftlich aufgeklärt, aber für viele ist wissenschaftliches Denken so fremd wie ehedem, und sie ziehen es vor, sich die Welt nach ihren eigenen Bedürfnissen zurecht zu fantasieren.
Juden stehen wieder obenan auf der Liste der Bösen. Wobei es keine Rolle spielt, ob es sich um Juden handelt oder um solche, die dazu erklärt werden. Die Kanzlerin ist demnach eine Jüdin, und sie übt diktatorische Macht aus, um das Staatsvolk mit einer Seuche zu quälen, die es gar nicht gibt.
Die Kommentarspalten auf facebook sind voll von denen, die ihre Einbildungen für heilig halten und sie mit missionarischem Eifer verbreiten. Sie haben das Recht auf freie Religionsausübung, aber leider halten sie ihre Predigten für eine wahrere Wissenschaft als die der Wissenschaftler. Sie haben das Recht auf freie Meinungsäußerung, aber leider halten sie ihre Ansichten für Tatsachen und alle, die ihnen nicht bedingungslos zustimmen, für verblendete Idioten. Sie halten sich für einzig wirklich Freien und alle anderen für Sklaven.
Solange sie nur reden oder Kommentare auf facebook posten, ist der Schaden, den sie anrichten können, begrenzt. Zu meiner Meinungsfreiheit gehört, dass ich ihnen nicht zuhören muss. Inzwischen aber begnügen sie sich nicht mehr damit, in ihren Zirkeln zu schwurbeln und sich gegenseitig darin zu bestätigen, dass sie die Heiligen der letzten Tage sind.
Inzwischen werden täglich Vorfälle berichtet, in denen Maskengegner gewalttätig werden. Anschläge gegen Kunstwerke auf der Berliner Museumsinsel werden mit den Corona-Leugnern in Verbindung gebracht, die Anschluss gefunden haben an andere Verschwörungsmythen und den Neonazismus. Und falls sie nichts damit zu tun haben, ist es jedenfalls soweit, dass man es ihnen zutrauen muss.
Nun also ein Brandschlag auf das Robert-Koch-Institut als Symbol der Bekämpfung der Seuche, die es nicht geben soll. Wenn Meinungsverschiedenheiten sich gewalttätig äußern, ist der Dialog vorbei.
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Als die Virologen zu Beginn der Pandemie vorrechneten, dass man mindestens zwei Jahre lang mit dem Virus würde leben müssen, hätte die Politik sich und die Bevölkerung darauf einstellen müssen. Stattdessen wurde nach wenigen Wochen bereits eine Rückkehr zur Normalität an die Wand gemalt und mit Lockerungen gelockt. Unterdessen bildete sich die Front der Corona-Leugner und Schwurbler, die bei der ganzen Chose überhaupt nicht mitziehen wollen.
Statt die Schulen für einen dauerhaften Umgang mit der Seuche zu rüsten, wurde darauf hingearbeitet, Fußballspiele stattfinden zu lassen. Zuletzt wurde die Maskenpflicht auf Straßen und Plätze ausgeweitet, obwohl dort allenfalls eine Ansteckungsgefahr besteht, wenn die Leute sich längerfristig zusammen rotten. Das taten sie ohnehin längst wieder, im öffentlichen wie privaten Raum. Es wurde sich umarmt und keine Hand ungeschüttelt gelassen. Wer auf Abstand achtete, kam sich schon paranoid vor.
Monate lang war Corona ein Gespenst. Niemand kannte wen, der betroffen war. Das hat sich geändert, die Einschläge kommen näher. Zu spät. Die Normalität war wieder hergestellt. Von den Masken abgesehen, lebte es sich wieder wie im Februar. Und erst, als das Vorbinden der Maske in den Bahnen mit Bußgeldern bedroht und kontrolliert wurde, taten es endlich auch die 20 Prozent der Passagiere, die es bis dahin nur für eine Formalität gehalten hatten oder für ein Abzeichen vermeintlicher diktatorischer Verhältnisse.
Die Mehrheit verhält sich nach wie vor vernünftig. Sie bedarf keiner sonderlichen Aufforderungen durch die Politik. Jene aber, die sich unvernünftig und verantwortungslos verhalten, werden von dieser nicht angesprochen. Weil die Politik einer Beißhemmung unterliegt und nicht benennen mag, wer das Virus verbreitet, wird ein Lockdown beschlossen, der pauschal wieder alle in Haftung nimmt, die bereits im Frühjahr verdächtig waren, als man noch nicht genau wissen konnte, wie sich das Virus verbreitet.
In Gastwirtschaften, Theatern, Kinos oder Museen werden die Hygieneregeln eingehalten. Die paar Bars, in denen man sich nicht darum scherte, wurden rasch geschlossen. Das Problem sind private Räume, in denen Familien und Freundeskreise sich als Virenschleudern betätigen. Das öffentliche Leben lahmzulegen ist eine Sackgasse. Im ab kommender Woche geschlossenen Restaurant hätten sich die Gäste an Regeln zu halten gehabt, die sie bei der privaten Zusammenkunft ungestört missachten können.
Der Staat kann nicht alles richten. Indem er es nun auf Teufel komm heraus versucht, schießt er sich selbst ins Knie. Der öffentliche Raum ist zwar kontrollierbar, für ihn können Verordnungen erlassen werden. Aber das Virus verbreitet sich dort, wohin kein Ordnungsamt und keine Polizei hinschauen. Mit administrativen Maßnahmen, die über das hinaus gehen, was seit Monaten praktiziert wurde, wird sich die Ausbreitung des Virus nicht eindämmen lassen.
Was allein hilft ist, dass all jene, die sich einer Veränderung ihrer Verhaltensweisen verweigern und im privaten Umgang nicht auf Abstand achten und für die Lüftung der Räume sorgen, in denen sie sich aufhalten, ihrer Verantwortung inne werden. Die Politik kann da nicht mehr tun als appellieren.
Mit dem, was die Regierung für November beschlossen hat, weil sie meinte, unbedingt etwas Drastisches beschließen zu müssen, hat sie die Vernünftigen vor den Kopf gestoßen und den Unvernünftigen Auftrieb verliehen.
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Die Kontakte müssen reduziert werden, meint die Bundesregierung zu Recht. Das ist zunächst einmal Sache der Einzelnen. Da kann der Staat wenig ausrichten – es sei denn, indem er, wie jetzt geschehen, bestimmte Zusammenkünfte verbietet. Doch wie weit damit eine Reduktion der Kontakte erreicht wird, hängt von Faktoren ab, die sich nicht pauschal regulieren lassen.
Seit März, seit Corona die Welt im Griff hat, habe ich an drei Orten gelebt und meinen Alltag auf dreierlei Art unter Seuchenbedingungen einrichten müssen. Ganz ohne mein Zutun unterschied sich dadurch auch die Zahl meiner Kontakte. In Geschäften, Gastwirtschaften oder Theatern habe ich mich gleichmäßig viel oder nicht aufgehalten. Von wesentlichem Einfluss war vielmehr schlicht die Größe der Orte.
Im 50.000 Einwohner großen Stade hatte ich entsprechend mehr Umgang als in Bispingen mit seinen knapp über 6000 Einwohner. Genauer gesagt: in Bispingen war es möglich, niemandem zu begegnen außer beim notwendigen Gang in den Supermarkt. In der Millionenstadt Hamburg bin ich von Menschen als potenziellen Virenschleudern umgeben, sobald ich die Straße betrete. Nur um Stade oder Bispingen zu verlassen, bestieg ich Bahn und Bus; in Hamburg bin ich alle paar Tage in öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs.
Beim aktuellen Lockdown für November spielen die Unterschiede der Ansteckungsgefahr keine Rolle. Es bleibt unberücksichtigt, dass die Mehrheit der Deutschen auf dem Land lebt und sie die Probleme der Großstädte allenfalls betreffen, wenn sie Berufspendler sind. Je nachdem, wo jemand lebt, spielt es eine entscheidende Rolle, wie viele mögliche, notwendige und entbehrliche Kontakte man unterhält. Im Spiegel der Seuche treten die Unterschiede der Lebensverhältnisse deutlicher hervor – um durch flächendeckende administrative Maßnahmen wieder nivelliert zu werden.
Nichts Genaues weiß man nicht. Zu 75 Prozent sind die Infektionsketten ungeklärt. Wenn aber unklar ist, wer sich wann und wie mit dem Virus infiziert, sind alle Maßnahmen, um es zu verhindern, Schüsse ins Blaue.
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Bisher ist Panik ausgeblieben. Am lautesten und hysterischsten waren tatsächlich jene, die behaupten, die Seuche existiere nicht und sei eine Erfindung der Mächtigen, um die Bevölkerung zu versklaven. Ihnen entsprachen die Party-People, die wie auf dem Vulkan tanzten und auf ihre jugendliche Unsterblichkeit vertrauten. Mit der zweiten Welle und dem verzweifelten Lockdown breitet sich das Unbehagen aus. Frankreich, Belgien, Großbritannien sind bereits ärger dran; in den USA und Brasilien wird unverändert gestorben. Die Intensivbetten könnten bald knapp werden. Es gibt kein Verdrängen mehr, kein Entkommen. Die Zeit gelassener Vernunft ist vorbei.

Hamburg, Hoheluftchaussee, zwölf Uhr mittags am 2. November: wo sich sonst Passanten drängen, gähnt die Leere. So viel hat es gebracht, dass Restaurants, Spielhallen etc. geschlossen sind. Aber das öffentliche Leben war ohnehin das geringere Problem. Auf der Straße, im Supermarkt, in der Gaststätte griff eine gewisse soziale Kontrolle. Abstand und Maske missachtet wurden vor allem im privaten Rahmen, von denen, die nicht aufs Feiern verzichten mochten und dabei unter Alkoholeinfluss alle Hemmungen verloren. Dass die Straßen leer sind, könnte nur bedeuten, dass sich die Wohnungen jetzt erst recht füllen.
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Inzwischen beweist sich wieder einmal das, was Ulrich Völklein in den 1980ern die „grünbraune Schwippschwägerschaft“ nannte: Alexander Gauland von der AfD und Boris Palmer von den Grünen meinen, dass es genüge, die Risikogruppen zu schützen, um der Seuche Herr zu werden. Dabei schwebt ihnen vor, dass Ältere nur zu bestimmten Zeiten ihre Wohnung verlassen und Einkaufen gehen dürfen, damit die scheinbar immune Partymeute so weiter machen kann wie bisher. Karl Lauterbach von der SPD rechnet vor, dass 40 Prozent der Bevölkerung als Risikogruppe gelten können. Das ergäbe mal eine ziemlich gerechte Spaltung der Gesellschaft, in der Gemeinsinn mehr denn je gefragt wäre.
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Wenn ich gleich in Hamburg einen Bus besteige und keine Maske trage, riskiere ich ein Bußgeld. Die Polizei ist vielerorts angewiesen, Maskenverweigerung zu verfolgen.
Wenn ich mich in Leipzig mit anderen zusammen rotte, mit denen ich mich nach Maßgabe des aktuellen Lockdowns gar nicht treffen darf, keine Maske trage, „Freiheit“ und „Corona-Diktatur“ schreie, steht die Polizei mir zur Seite, lässt mich gewähren und greift nicht einmal ein, wenn ich im Namen der Meinungsfreiheit Journalisten verprügele.
Deutschland am 9. November: der Mob wittert Morgenluft.
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Wie wäre es, wenn alle Corona-Leugner die Ernsthaftigkeit ihres Anliegens damit bezeugen, indem sie eine Patientenverfügung unterschreiben, wonach sie im Falle einer Covid-19-Infektion auf intensivmedizinische Behandlung verzichten? Wenn ansteht, ob einer der Verschwörer oder jemand, der sich an die Hygieneregeln gehalten hat, an das Beatmungsgerät angeschlossen wird, würde das die Entscheidung der Ärzteschaft gewiss erleichtern. Und falls die Corona-Schwurbler dazu nicht bereit sind – sollen sie künftig einfach das ungewaschene Maul halten.

„Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) stimmte die Menschen in Deutschland darauf ein, dass sie noch lange mit persönlichen Einschränkungen leben müssen“, lese ich in der Hamburger Morgenpost. Ach nein? Die Ansage hätte er im Frühjahr machen können und müssen. Als die Pandemie begann, hätte die Politik den Virologen vertrauen können, die auf eine lange Wegstrecke zur Überwindung der Ansteckungsgefahr verwiesen.
Ich hatte mich darauf eingestellt, zwei Jahre mit der Seuche leben müssen, und ich war erschrocken, dass die Politik der Bevölkerung weis zu machen versuchte, mit einem begrenzten Lockdown sei alles getan. Die Lockerungen, mit denen alsbald gelockt wurden, waren für die Katz. Und der „Lockdown light“, der aus unerfindlichen Gründen bis Ende November terminiert wurde, wird ebenfalls allenfalls vorübergehende Effekte zeitigen.
Immerhin wurden die Weihnachtsmärkte bereits abgesagt, aber die privaten Zusammenkünfte zu Weihnachten werden vermutlich wie gehabt stattfinden. Unterdessen wird verbreitet, es gäbe einen Impfstoff. Es gibt noch keinen, jedenfalls ist er noch nicht zugelassen und noch lange nicht in ausreichender Menge produziert. Aber die Meldung wird tagelang hin und her gewälzt, als sei damit das Ende der Seuche besiegelt. Schlichtere Gemüter werden sich entsprechend verhalten und tun, als sei sie es.
Auf facebook lese ich täglich, was die Verharmloser und Leugner der Seuche absondern. Sie bringen nur auf den Punkt, was die Mehrzahl der Politiker von Anfang an gesagt hat.
Man wird „noch lange mit persönlichen Einschränkungen leben müssen“: das klingt wie ein Pfeifen im Wald. Denn was bisher eingeschränkt wurde ist das öffentliche Leben. Die Straßen, die in den ersten Tagen des aktuellen Lockdowns wie leer gefegt waren, füllen sich wieder. Was in den privaten Räumlichkeiten passiert, entzieht sich der Beobachtung. Unwahrscheinlich, dass die Leute sich selbst einschränken, wenn die Ansagen der Politik unklar und widersprüchlich sind.
Die Maskenpflicht in Bus und Bahn war monatelang in Kraft, aber von allen ernst genommen wurde sie erst, als Bußgeld angedroht wurde und Kontrollen stattfanden. Auf die Vernunft der Masse zu vertrauen ist vergeblich.
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Traumtänzerei oder doch Corona-Diktatur? Den Medien sind Vorschläge zur Verschärfung der Schutzmaßnahmen durchgestochen worden, die am 16. November beschlossen werden sollen.
Wie vernünftig ist es, die Bürgerschaft zur Verringerung ihrer Kontakte aufzufordern, wenn gleichzeitig Großdemonstrationen von Corona-Leugnern als Superspreader-Events angekündigt sind?
„Kinder und Jugendliche seien dazu anzuhalten, sich nur noch mit einem festen Freund in der Freizeit zu treffen.“ Was bringt das, wenn schlecht belüftete Schulen weiter geöffnet bleiben?
„Private Zusammenkünfte mit Freunden und Bekannten sollten sich generell nur noch auf einen festen weiteren Hausstand beschränken.“ Mehr als ein Appell kann das wohl nicht sein, oder? Wie soll das kontrolliert werden?
Fürs Protokoll: ich treffe nie mehr als eine Person gleichzeitig, und seit März ist dabei nichts angebrannt. Diese Art von Kontakten weiter einzuschränken und fürderhin nurmehr eine bestimmte Person zu treffen, sehe ich überhaupt nicht ein, solange es erlaubt sein soll, sich zu mehreren zusammen rotten.
„Treffen in der Öffentlichkeit sollen nach den Vorstellungen des Bundes künftig nur mit den Angehörigen des eigenen Hausstandes und maximal zwei Personen eines weiteren Hausstandes gestattet sein.“ Ich sehe jeden Tag auf der Straße Gruppen, die gegen diese Vorgabe verstoßen. Wie will man das verhindern? Indem die Polizei dazwischen geht?
„Auf private Feiern solle zunächst bis zum Weihnachtsfest verzichtet werden.“ Die Appelle haben bisher nichts gefruchtet. Was lässt die Politik glauben, daran würde sich etwas ändern? Und an Weihnachten wird sich wieder in die Arme gefallen und ins Gesicht geatmet?
Die Infektionsketten sind zu zwei Drittel ungeklärt. In zwei Fällen hatte ich Umgang mit einer Person, die ihrerseits Umgang mit einer Person hatte, die sich angesteckt hatte – am Arbeitsplatz. Öffentlich bekannt wurden Infektionen in Schulen, in der Gastronomie und in Schlachthöfen. Wie sinnvoll die Einschränkung privater Kontakte sein mag, handelt es sich um Kosmetik, wenn es dabei bleibt.
Die Politik stochert im Nebel und schießt mit Schrot.
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Neun Monate hatte die Regierung Zeit, aber sie hat sie nicht genutzt.
Jetzt sollen also die Risikogruppen mit besonderen Schutzmasken versorgt werden. Aber nur eine pro Woche, und bezahlen sollen sie auch dafür. Tscha, Regierung, da scheiße ich drauf. In meinem Budget als Hartz-IV-Bezieher ist kein Maskenkauf vorgesehen.
Also kann ich krepieren? Wenn die Ärzte die Wahl haben, mich oder einen privat versicherten Corona-Leugner an das Beatmungsgerät anzuschließen, steht ihre Entscheidung ohnehin von vornherein fest.
Und falls einmal ein Impfstoff da ist – wer bekommt ihn wohl? Ich gewiss nicht, jedenfalls nicht umsonst. Und da ich ihn nicht bezahlen kann …
Auf öffentliche Verkehrsmittel soll ich verzichten. Na, dann kann der Klimawandel ja kommen, wenn Autofahrer wie gehabt bevorzugt werden. Ohne Bus und Bahn komme ich nicht weit. Soll ich ja auch nicht. Ich soll zuhause verfaulen, weil ich nur das Sozialsystem belaste, während sich die Aktien-Schmarozer à la Wirecard wie gehabt satt fressen.
Allmählich kommen wir also dahin, wo wie schon immer waren: in einer zynischen Gesellschaft, in der Solidarität von denen beschworen wird, die sich darüber erhaben glauben.
Die Stimmen werden lauter, die Risikogruppen weg zu sperren, damit die „Mitte der Gesellschaft“ Weihnachten feiern kann. Versucht es nur. Ich werde den verbleibenden Rest meines Lebens nicht damit verbringen, mich auf das sozial verträgliche Frühableben einzustellen.
Solange Corona-Leugner von Politik und Polizei verhätschelt werden, befinde ich mich im Widerstand gegen jede weitere Einschränkung meiner Grundrechte. Die Regierung hat es geschafft, mit ihrem hirntoten Geschwurbel die Covidioten ins Recht zu setzen.
Nein, es herrscht keine Corona-Diktatur. Der Kapitalismus zeigt nur seine menschenverachtende Fresse.
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Wovor hat die Politik mehr Angst? Vor der Seuche oder dem Verlust von Wählerstimmen? Offenbar vor Letzterem, wie das monatelange Appeasement gegenüber Corona-Leugnern anzeigt. Nun also wird abgewiegelt, wenn es darum geht, ob Silvester stattfinden kann. Die Leute hätten doch sowieso schon so viel Frust, da könne man ihnen nicht auch noch das Geböller verbieten, befindet der Städte- und Gemeindetag. Interessantes Menschenbild, das dabei zutage tritt: wer Frust hat, muss Krawall machen und sich in Alkohol ertränken.
Wenn es denn nur der Krach und der Suff wären. Silvester ist vor allem eine Nacht, in der in den Notaufnahmen der Krankenhäuser Ausnahmezustand herrscht, weil die Kombination von Alkohol und Feuerwerk massenweise zu Verletzungen führt. Denselben Krankenhäusern, die, man erinnere sich, vor einer Überbelastung durch Covid-19-Patienten geschützt werden sollen, weshalb die Bevölkerung sich ansonsten einschränken muss. Silvester soll das alles nicht mehr gelten. Bars wurden geschlossen, aber an den Hamburger Landungsbrücken dürfen sich am 31. Dezember wieder besoffene Horden zusammen rotten und mit Knallkörpern um sich werfen können?
Demnächst werden vielleicht weitere Einschränkungen für den Alltag beschlossen – und die Infektionszahlen sinken, damit der Superspreader-Event stattfinden kann? Falls die Silvester-Exzesse wie in den Niederlanden untersagt werden, wird es reichlich Uneinsichtige geben, die das ignorieren, aber mit denen könnte die Polizei fertig werden. Falls Silvester wie gehabt stattfinden kann, werden alle in Mitleidenschaft gezogen, die darauf verzichten können. Appelle an die Vernunft kann sich die Politik zukünftig sparen, wenn sie Saufgelage mit Böllern für unverzichtbar erklärt.
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Am Dienstag, 22. November, war ich zum ersten Mal in der Hamburger Innenstadt, seit dort in einigen Straßenzügen eine Maskenpflicht besteht. Ich bin ein aufmerksamer Bürger und gemeinhin gut informiert, deshalb wusste ich, dass ich in der Spitalerstraße eine Maske tragen muss. Wäre ich kein Einheimischer und hätte ahnungslos den Hauptbahnhof verlassen, hätte ich nichts gemerkt. Kein Schild wies mich darauf hin, und ich kann nur raten, ob jene, die keine Maske trugen, aus Unkenntnis oder Trotz handelten.
Ich sah nicht wenige ohne Maske, und auch die, die eine trugen, bewegten sich so, als sei es nicht außerdem angezeigt, Abstand zu halten. Auch nicht in dem Geschäft, in dem ich eine dringende Besorgung zu erledigen hatte. Freilich war es nicht sonderlich gut besucht, so dass ich mit Slalomgängen vermeiden konnte, in die Aerosolaura von anderen zu geraten. Auf den Bänken saßen Leute ohne Maske dicht beieinander, und an einer Weihnachtsbude standen sie unmaskiert an.
Der Berufsverkehr war vorüber, als ich mit der U-Bahn heim fuhr. Aber am Bahnhof Hoheluft geriet ich ins Gedränge, und auf dem Weg zum Supermarkt war der Gehweg enger als in der Spitalerstraße. Hier jedoch besteht keine Maskenpflicht. Ich band mir auch keine um, sondern begnügte mich damit, Abstand zu halten.
Demnächst startet das Weihnachtsgeschäft. Es ist nicht anzunehmen, dass sich die Verhaltensweisen bis dahin der Lage angepasst haben werden. Eine Maskenpflicht für gewisse Straßen zu bestimmten Zeiten zu verkünden ist jedenfalls für die Katz, wenn diese vor Ort weder bekannt gemacht noch durchgesetzt wird.
(Als ich Mitte Dezember wieder in der Spitalerstraße vorbei komme, prangen dort auf dem Boden unübersehbare gelbe Markierungen, die auf die Maskenpflicht hinweisen. Inzwischen hatte eine Zeitung darüber berichtet, wie gut versteckt die bisherige Beschilderung war.)
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