Aufzeichnungen im Schatten des Corona-Virus

Sollte ich also jetzt über mein Sterben nachdenken?

Werden diese Bemerkungen Randnoten einer Episode sein oder meine letzten Worte?

Daniel Defoe hat die Pest in London überlebt; aber das konnte er nicht wissen, als er mit seinen Notizen begann. Er schrieb im Angesicht von Toten. So arg ist es in Stade in diesem März 2020 noch nicht.

In 60 Jahren Erinnerung finde ich zwei Vergleiche für die gegenwärtige Lage, die hinken könnten: Tschernobyl 1986 und Nine Eleven 2001.

Die Radioaktivität, die durch die Havarie des sowjetischen Atomreaktors frei wurde, verbreitete sich gen Westen und über die ganze Welt. Eine unsichtbare Gefahr wie heute die Seuche.

Experten orakelten über das Wetter und wie die Strahlung aus den Wolken regnete. Der Sand von Kinderspielplätzen wurde ausgetauscht, weil er kontaminiert sein konnte, und gewisses Gemüse, das die Radioaktivität besonders gut speichern können sollte, war unverkaufbar.

Ich war Lektor für Sachbücher, und im Verlag gingen täglich Erfahrungsberichte über die Katastrophe ein, vor allem von Müttern, die die Zukunft ihrer Kinder zerstört glaubten. Heute würden sie als Blog veröffentlicht; damals gelangte keiner der Texte als Buch an die Öffentlichkeit.

Die Angst, die ein paar Wochen lang umging und von einem Teil der Medien geschürt wurde, legte sich alsbald wieder, und es dauerte bis 2011, als eine erneute Katastrophe die Gefährlichkeit der Atomkraft demonstrierte, bevor in Deutschland Konsequenzen gezogen wurden. In dem Land, das sich 1986 bei der Panikmache hervorgetan hatte.

Zwar war die Strahlenwolke von Tschernobyl ein globales Phänomen, aber anderswo ging man gelassener damit um und amüsierte sich über die German Angst. Offenbar zu Recht: von den Strahlenschäden, die besorgte Mütter an die Wand gemalt hatten, ist später nie mehr die Rede gewesen.

Tschernobyl war ein internationales Problem, das nicht zuletzt aufgrund der noch bestimmenden Konfrontation zwischen Kommunismus und Kapitalismus vielfach nicht als solches aufgefasst und angegangen wurde. Die Attentate vom 11. September 2001 waren lokale Ereignisse, die gleichwohl weltweit die Stimmung beeinflussten.

In den ersten Tagen, nachdem der Himmel über New York eingestürzt zu sein schien, war man auch in weiter Ferne nicht nur rhetorisch betroffen und empfand sich als ein paar Tage lang als davongekommen. Tschernobyl verschwand rasch aus den Schlagzeilen, mit islamistischem Terror wurden noch vor kurzem welche erzeugt.

Die Vergleiche könnten hinken, weil ich heute nicht abschätzen kann, wie lange der Virus die Welt in Atem halten wird. Ob Covid-19 sich auflöst wie die Strahlenwolken aus der Ukraine oder ob die politische Instrumentalisierung so lange anhält wie nach Nine Eleven.

Seuchentagebuch (Bild: urian)

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Für ausgesonderte Einzelgänger ist der Ausnahmezustand der anderen der Normalfall. Daher vorerst keine Klagelieder.

Wo mit öffentlichem Leben Konsum gemeint war, herrschte Feiertags-Totenstille, bevor die Geschäfte schlossen. Der Virus hat bis auf Weiteres die Zivilisation auf ihr Mindestmaß reduziert und sie auf eine Bewährungsprobe gestellt. Das bis dahin vorherrschende Klimawandel-Geschwätz hat bekanntlich keine Auswirkungen gehabt. Der Seuche ist es dagegen ernst.

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Stade 18. März 2020

Die ersten Infizierten sind jene, die überall dabei sein müssen zu glauben, die Händeschüttelsüchtigen und Betriebsnudeln. „Superspreader“ sind die Stützen der Gesellschaft.

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Ich meide seit langer Zeit Menschenansammlungen und verspüre kein Bedürfnis, einer Gruppe anzugehören. Gespräche mit mehr als einer Person arten leicht in Geschwätz aus und sind entbehrlich. Meine einzige Kontaktperson ist oft nur die Kassiererin im Supermarkt.

„Du musst mehr unter die Leute“ wurde mir bisweilen geraten von jenen, die nicht allein sein können. Das hat sich wohl erledigt, wie?

Ich habe mich längst so verhalten, als seien Versammlungen von mehr als zwei Personen außer zu notwendigen Verrichtungen verboten.

Die Abstandsregeln einzuhalten ist in der Inneren Stadt von Stade kein Problem und erfordert lediglich eine Achtsamkeit, die Autofahrern als Fußgängern allerdings schwer fällt; ohne Fahrbahnmarkierungen und Ampeln sind sie desorientiert.

Mittwochs und samstags ist es rund um den Pferdemarkt, als sei alles wie gehabt. Auf dem Straßenpflaster sind zwar Markierungen angebracht, aber zwei Meter Abstand sind beim Gang zwischen den Ständen des Wochenmarktes nicht einzuhalten. Warum die Veranstaltung der Reichen und Schönen (→ Marktblumen) trotzdem stattfindet, beantworten die Mächtigen nicht. Insofern ist alles wie gehabt.

Der Opernball wurde in der Stadt, die nie eine Oper hatte, abgesagt. Aber ganz ohne Privilegien kann es kein Social Distancing geben. Auf dem Wochenmarkt zeigen die Bürger dem Gesindel, dass für sie andere Regeln gelten. (→ Personalstrukturgeschichte)

Heute 149 Tote.

Die Radfahrer scheren sich nicht um Abstandsregeln und sind wie gewohnt im Slalom zwischen den Passanten unterwegs. Die wenigsten Bürgersteige sind geeignet, Abstand zu halten, aber es lässt sich auf die Straßen ausweichen, wo weniger als zuvor Autos Platz beanspruchen.

Seuchenspezifische Delikte wie Atemschutzmaskendiebstahl und der Verkauf von Wunderelixieren lassen die Kriminialitätsrate steigen.

Kann man sich im Vorbeigehen anstecken? Dann wären die Familienverbände, die sich unverdrossen wie gehabt panzerartig durch die Gassen der Inneren Stadt bewegen und keine Chance für einen Mindestabstand lassen, gefährlich.

„Polizeibeamte aus dem Landkreis Stade und Unterstützungskräfte der Bereitschaftspolizei aus Lüneburg mussten am Freitag und Samstag mehrfach einschreiten und Bürgerinnen und Bürger sowie Geschäftsinhaber auf die geltenden Beschränkungen im Landkreis Stade im Rahmen der Corona-Krise hinweisen.“

In Buxtehude mussten ein Blumengeschäft, mehrere Sonnen-, Kosmetik und Nagelstudios sowie ein Einrichtungshaus zur Schließung aufgefordert werden. Auf der Skateranlage in Harsefeld und auf einem Basketballfeld an der Oberschule versammelten sich „junge Leute“ zu „sportlichen Aktivitäten“. Mehrere Imbisse und ein Nagelstudio in Stade hatten den Schuss nicht gehört, und in einem Parkhaus wurde eine Gruppe aus sechs Personen angetroffen.

„Insgesamt hielten sich die die Bürgerinnen und Bürger sehr gut an die Beschränkungen und waren den Umständen entsprechend relativ entspannt. Konflikte mit den Ordnungskräften waren nicht zu verzeichnen.“

Freitag, 27. März. Die Sonne lacht. Beginnt der Lagerkoller? In der Inneren Stadt von Stade sind so viele Passanten wie lange nicht unterwegs, und die Polizei zeigt Präsenz auf dem Pferdemarkt. Erstmals begegnen mir Kinder allein oder in Gruppen, die sich wie freigelassen benehmen. Die Achtsamkeit der Passanten lässt nach, und immer wieder muss ich einen Bogen machen, weil die anderen Nähe geradezu zu suchen scheinen.

Auf dem Wochenmarkt herrscht am Samstag, 28. März, ein Betrieb, als seien die Abstandsregeln außer Kraft gesetzt.

Seuchengewimmel Stade (Foto: urian)

Wenn alle zu Hause bleiben, übernehmen die Wölfe das Land. Nein, das habe ich nicht auf facebook gefunden, sondern eben selbst logisch erschlossen, nachdem ich einen auf YouTube gespeicherten TV-Film gesehen habe, der die Wolfspopulation zum Aufhänger für eine dramatische Geschichte nimmt.

In Anbetracht der Seuchengefahr mutet das jahrelange Wolfsgeheul von Politik und Medien umso mehr an als das, was es von Anfang an erscheinen konnte: Panikmache. Wie sicher kann ich sein, dass Politik und Medien hinsichtlich der Seuche lauterer handeln? Sind die Redaktionen von BILD und Stader Tageblatt plötzlich kompetent und vertrauenswürdig geworden? Ist die SPD mit einem Mal eine Partei, die andere als ihre eigenen Machtinteressen vertritt?

Gibt es eigentlich Corona-Witze? Habe noch keinen gehört. Nicht mein Metier, Scherze zu machen. Sollte es aber geben, oder? Sind die Satiriker sämtlich verstummt und ihre Sendungen abgesetzt? Während ein gewisser Söder sich anschickt, das ganze Land zu regieren. Brave new world mit alten Lastern.

Der Rechtsstaat funktioniert. Noch. Auch das Gericht in Stade hat Zugangsbeschränkungen erlassen, aber Zuhörer sind bei Prozessen weiterhin erlaubt. Das öffentliche Gerichtswesen war eine der ersten Errungenschaften der vor allem von Juristen betriebenen bürgerlichen Demokratisierung (→ Revolutionär aus Stade). Zwar haben Politik und Medien das längst vergessen und der Bürgerschaft dazu allerhand ihnen Genehmes vorgemacht. Aber immerhin: wer sonst nicht auf den Gedanken käme, einen Gerichtssaal freiwillig zu betreten, kann es weiterhin tun. Noch?

Bislang 389 Infizierte gestorben.

Seuchen sind Bewährungsproben der Hygiene und haben stets zur Veränderung von Verhaltensweisen geführt. Mithin kann es kein Zurück zu den vorherigen Zuständen geben, falls die Corona-Pandemie überstanden sein wird.

Die Ausbreitung von Pest und Cholera verwies auf hygienische Mängel der Lebensverhältnisse. Nachdem sich diese dauerhaft verändert hatten, verschwanden die Epidemien aus der Medizingeschichte. Nicht Medikamente, sondern Kanalisation war das Heilmittel.

Mit Covid-19 ist es einem Erreger erstmals gelungen, die ganze Welt anzustecken und zwar in kürzester Zeit. Pandemie war bisher ein theoretischer Begriff, zu dem es keine der heutigen vergleichbare praktische Erfahrung gab.

Insofern ist auch das Expertentum der Experten limitiert. Alle Welt steht einem Unbekannten gegenüber.

Diese Seuche markiert eine Schattenseite der Globalisierung. Der Erreger ist nicht lokal oder national eingrenzbar; er war um die Welt geflogen, bevor man ihn bemerkte.

Von der Pest waren nicht zahllose Städte betroffen, weil der Erreger sich zwischen ihnen verbreitet hätte, sondern weil die Bedingungen für seine Ausbreitung allenthalben ähnlich waren. Die hygienischen Verhältnisse in New York sind nicht wesentlich anders als in Stade; allein der Verkehr der Menschen ist ein anderer. An der Unterelbe ist das Virus mit dem Flugzeug eingetroffen.

Ist es Ironie oder Schicksal, dass 2019 das Wort von „Flugscham“ aus ökologischen Gründen aufkam und nun der Flugverkehr mit epidemiologischen Argumenten fast zum Erliegen gekommen ist?

Nach Corona wird sich etwas ändern müssen, wenn die Krise sich nicht wiederholen soll. Worin die Veränderungen im Einzelnen bestehen, wird sich erst im weiteren Verlauf und nach dem Ausgang der Pandemie zeigen. Sicher ist jedoch, dass es kein plumpes Zurück zu den Verhältnissen vor Corona geben kann.

Die aktuellen Eingriffe in den Alltag werden sich nicht nach ein paar Wochen oder Monaten erledigt haben, sondern sich auf die eine oder andere Weise verfestigen müssen. Das Abstandsgebot könnte der erste Punkt eines Nach-Seuchen-Knigge bleiben.

Die Olympischen Spiele sind auf den Sommer 2021 verlegt worden. Dann soll alles wieder gut sein und der gewohnte Zirkus weitergehen.

Manche können den heute in Österreich verfügten Atemmaskenzwang im Supermarkt und auf der Straße gar nicht erwarten, indem sie keinen Abstand halten und nicht einmal daran zu denken scheinen. Ihre übliche Achtlosigkeit wird umstandslos gefährlich.

Ich stehe allein im freien WLAN vor dem Schwedenspeicher, niemand weit und breit, als plötzlich jemand auf mich zukommt, um mir irgendein Flugblatt oder eine Broschüre anzudrehen. Bevor er auf zwei Meter an mich herangekommen ist, mache ich einen Schritt zurück und rufe „hau ab“. Unter anderen Umständen hätte ich ihn ignoriert. Heute ist seine Aufdringlichkeit mehr als nur unverschämt. Auf jemand zugehen ist ungehörig geworden.

So wie die Deutschen die Rassenhygiene erfunden haben und in der Krise Klopapier horten, glauben sie auch, dem Virus mit sinnlosen autoritären Anordnungen entgegnen zu können. In → DIE ZEIT wird dargestellt, wie die Seuchenbekämpfung bereits jetzt mancherorts den Rechtsstaat aushöhlt.

Seuche in Stade (Foto
Schlange vor der Post in Stade 31. März 2020

Ich bin ausnehmend ungesellig und entbehre nichts von dem, was derzeit unter- und abgesagt ist. Manches hat mich nie berührt, einiges geradezu abgestoßen, und von vielem war und bin ich ausgeschlossen, weil es nur die höheren Stände angeht.

Es gibt reichlich Gelegenheiten, bei denen sich die Leute ausschließlich aus gesellschaftlichen Gründen versammeln; nicht zum Vergnügen, nicht aus Bedürfnis, sondern aus Notwendigkeit: weil die Teilnahme zur Positionierung in der Gesellschaft gehört.

Je länger der Ausnahmezustand dauert, desto klarer wird, was entbehrlich ist und worauf zukünftig verzichtet werden kann. Jedenfalls könnte die Seuchenzeit dazu genutzt werden, das etablierte Getriebe zu revidieren.

Natürlich fiebert eine Mehrheit dem Zeitpunkt entgegen, wenn die Fußballstadien wieder öffnen. Nicht einmal, weil sie selbst je eines betreten hätten, sondern weil die Übertragungen der Spiele ihre Hauptzerstreuung war. Davon wurde vor dem Ausnahmezustand am meisten geredet, als würde der Welt etwas Wesentliches abgehen.

Vorab sorgte man sich um Opernball und Olympische Spiele. Man schwätzte über Spiele und dachte nicht ans Brot. Wenigstens sollte der Ausnahmezustand bewusst machen, wie entbehrlich diese Veranstaltungen sein könnten.

Freilich ist vorauszusehen, dass, falls die Welt nicht untergegangen sein wird, ab dem Zeitpunkt X nach Kräften so weiter gemacht wird, als sei nie etwas geschehen. Als sei die Seuche von außen eingeschleppt worden und hätte nichts mit dem Zustand der Welt zu tun.

Ohne hier und jetzt zu einer abschließenden Beurteilung zu gelangen, steht fest, dass nichts von nichts kommt.

1. April. Der erste Corona-Tote im Landkreis wird vermeldet.

Sobald ich vor die Tür trete, gerate ich ins Wochenmarkt-Getümmel rund um den Pferdemarkt und habe keine Chance auf Abstand, weil allzu viele ebenso hektisch und achtlos unterwegs sind wie gehabt. In zwei Wochen haben die ländlichen Autofahrer nicht gelernt, sich wie städtische Passanten zu verhalten. Ein paar Gassen weiter muss ich nicht mehr darauf achten, wer unaufmerksam ist. Bis auf Radfahrer, versteht sich, für die Abstandsregeln wie gehabt nicht gelten.

732 Tote bundesweit.

In Lübeck wird überlegt, Zugangskontrollen für Wochenmärkte einzurichten. Anlass sind Beschwerden von Marktbesuchern, dass die Abstandsregeln nicht eingehalten würden. Ob in Stade nachgedacht wird, erfährt die bereits vor der Corona-Krise kastrierte demokratische Öffentlichkeit natürlich nicht. Der Lokalanzeiger widmet sich lieber Sportvereinsinterna.

Screenshots Stader Tageblatt
Mit Abstand oder ohne Anstand: Fotos aus dem Lokalanzeiger. Beim NABU (unten) ist man offenbar immun.

In den Berichten der Zeitgenossen erscheinen die europäischen Großstädte bis ins 19. Jahrhundert hinein als gigantische Kloaken. Louis-Sébastien Mercier nennt das Paris der 1780er Jahre ein „Amphitheater von Latrinen“.

Eine Säuberung des öffentlichen Raums findet gegenwärtig auf gänzlich neue Art statt. Nicht von Kot und Urin, sondern von Menschen werden die Straßen gereinigt.

Obwohl keine Ausgangssperre verhängt wurde, werden täglich auf facebook jene verhetzt, die nicht den ganzen Tag zu Hause bleiben. Ich gefährde niemanden, wenn ich allein umher streife und Abstand wahre. Dass ich allein umher streife, war denen, die nichts lieber tun, als sich zusammen zu rotten und den Herdentrieb zu heiligen, vor Corona verdächtig; nun tun sie außerdem so, als hätten sie bei ihrem Hass auf jene, die nicht wie sie sind, die Volksgesundheit auf ihrer Seite.

Lokalanzeiger (Foto: urian
Die Propagandisten autoritärer Verhältnisse triumphieren

Der Landrat ruft dazu auf, Osterausflüge zu unterlassen. Allerdings ist nicht damit zu rechnen, dass die Massenmenschen, die nicht allein sein können, den Abstand wahren, sobald sie ihre Behausung beziehungsweise ihr Auto verlassen. Sie werden sich wie gewohnt dorthin begeben, wohin alle anderen streben. Rund um die Parkplätze werden sich Menschentrauben bilden. Zwar wäre Platz genug, um sich mit gehörigem Abstand zu ergehen, aber dazu sind die automobilen Herdentiere unfähig, so dass es besser ist, wenn sie zu Hause bleiben, als befände sich das Land unter einer Diktatur, die ein Ausgangsverbot verhängt hätte.

Samstag in Stade: Das Spazieren an der Elbe hat der Landrat verboten; die Leute sollen stattdessen in die wieder eröffneten Baumärkte und Gartencenter gehen. Wo sich mehr Viren verbreiten – ist nicht die Frage. Vor dem Corona-Hintergrund wird unverschämt wie stets die immergleiche korrupte Politik betrieben. Wem der Landrat trotz Kontaktsperre die Hand geschüttelt hat, kann sich jede/r selbst ausmalen.

Wurden die bisherigen Anordnungen auf facebook bislang kaum oder weit überwiegend zustimmend kommentiert, regt sich gegen die Verfügung, die Elbe zu meiden, Widerspruch. Fragen werden aufgeworfen, auf die keine Antwort zu erwarten ist.

Die Herrschenden, die zu gewöhnlichen Zeiten einen Dialig mit der Bürgerschaft nur für ausgewählte Kreise wie die Bezieher des Lokalanzeigers simulieren, gebärden sich im Ausnahmezustand vollends autoritär. Der Landrat hält es nicht für nötig, den Sinn seiner Verfügungen auf der Homepage des Kreises zu erklären, und begnügt sich damit, Phrasen abzusondern.

Unterdessen hat der Rat der Stadt Stade wieder eine Sitzung abgesagt. Eine Begründung bleibt den Beziehern des Lokalanzeigers vorbehalten, der brav über Ratssitzungen in anderen Gemeinden berichtet hat, die ansteckungsfrei abgehalten werden konnten. In Stade wird Corona als Vorwand benutzt, um die kümmerlichen Reste von Demokratie einzustampfen, und die Parteien machen unterschiedslos mit.

Pferdemarkt Stade 4.4.20 (Foto: urian)

Klare aber irreführende Ansagen erschweren den Umgang mit der Krise. Es geht nicht darum, zu Hause zu bleiben, sondern die Verhaltensweisen der Lage anzupassen. Weshalb am Samstag, 4. April, auf dem Wochenmarkt nahezu dasselbe Getümmel zu beobachten ist wie ehedem, indem die meisten es den anderen überlassen, auf den Abstand zu achten, den sie daheim in den vergangenen Wochen nicht gelernt haben.

Das zweite Todesopfer im Landkreis, nach einer 79-Jährigen eine 97-Jährige, die sich im selben Pflegeheim in Stade befand. Corona setzt den notorisch prekären Verhältnissen in den einschlägigen Einrichtungen die Krone auf. Mal sehen, wer sich später daran erinnert.

Ein inzwischen früh verstorbener CDU-Jungspund machte ehedem mit der Forderung nach einem „kassenverträglichen Frühableben“ von sich reden. So wird weiterhin von vielen gedacht, die sich auch sonst nicht scheuen, andere für den eigenen Vorteil über irgendeine Klinge springen zu lassen. Mal sehen, wer damit noch auffällt.

5. April: 1318 Tote.

Hafen Stade 5.4.20 (Foto: urian)
Frühling am Stader Hafen 5. April

Der Lokalanzeiger füllt seine Spalten auch zu gewöhnlichen Zeiten mit Sport-Berichten und kennt gegenwärtig kein weiteres Thema außer Corona. Da ist den Journalismus-Darstellern der Landesjägermeister und Landtagsabgeordnete der CDU Helmut Dammann-Tamke gefällig und dreht Locken auf der Glatze. Während die Deiche für Menschen gesperrt werden, fordert er eine „Schutzzone entlang der Deiche gegen den Wolf“. Angesichts einer realen Gefahr entlarvt sich so ein Angstmacher in der Politik.

Todesfälle am 6. April: 1494.

Pferdemarkt Stade 6.4.20 (Foto: urian)
Platz wäre genug, aber Herdentiere haben Platzangst: Pferdemarkt Stade 6. April.

Eine Joggerin, die ganz in ihrem staatstragenden Sport aufgeht und keinen Abstand kennt, hustet mich an. Drei Mädels, die nicht im selben Haushalt leben, latschen wie alle Tage tratschend durch die Gegend und überlassen den Abstand anderen. Das Paar, das miteinander beschäftigt ist, läuft in mich hinein, als ich vor der Tür des Bäckers warte, bis die enge Gasse vor dem Tresen frei wird.

Stade Zeughaus 6.4.20 (Foto: urian)
Dokument eines noch nicht abgeschlossenen Lernprozesses – Stade Zeughaus 6. April

Greise schieben ihre Rollatoren mit gesenkten Köpfen an tobenden Kindern vorbei. Dieselben Blindschleichen wie üblich sind an diesem sonnigen Montag in der Inneren Stadt von Stade unterwegs.

Fischmarkt Stade 6.4.20(Foto: urian)

Der Corona-Krisenstab in Niedersachsen hat beschlossen, dass die Waschstraßen wieder öffnen dürfen: „Wir lassen die Nutzung von Autowaschanlagen wieder zu, sowohl dienstlich als auch gewerblich. Wir haben uns überzeugen lassen, dass es hier praktisch zu keinen Nahkontakten zwischen Personen kommt“.

Kann das überhaupt eine Krise sein, wenn die deutschen Spießer wie gehabt ihre Karren polieren?

Für die AfD sind diese Seuchenzeiten verheerend. Während sich, eigentlich ganz in ihrem Sinne, eine Volksgemeinschaft konstituiert, die sich um die Gesundheit des Volkskörpers sorgt, stellt sich die Neonazi-Partei ins Abseits und leugnet, dass es überhaupt ein Problem gibt.

Vollkommen versagt die einzige Strategie der AfD, das Anprangern von Sündenböcken. Die Eliminierung dieser oder jener Gruppe aus dem Volkskörper, die sonst als Allheilmittel propagiert wird, greift nicht. Flüchtlinge, Juden oder Linke kommen als Erreger nicht in Betracht. Verdächtig wären allenfalls Ski-Urlauber.

Von der Pandemie wird der kleinkarierte spießbürgerliche Egoismus der AfDler überfordert. Die weltweite Seuche lässt ihren engstirnigen und -herzigen Nationalismus als die Kaspermaske erscheinen, der er immer schon war. Die AfD gibt durch demonstrative Ignoranz der Abstandsregel nur ein schlechtes Beispiel mehr.

Seuche Stade 8.4.20 (Foto: urian)
Mittags am Markttag. Von der Holzstraße bis zum Fischmarkt gilt kein Abstand.

Während die Herdentiere das Abstandhalten noch üben, wird über das Ende des Ausnahmezustands diskutiert. Damit die Kunden des Wochenmarkts vom 8. April den Schuss hören, wird wohl die Todesrate gestiegen sein müssen.

Altländer Viertel Stade 7.4.20
Eis macht immun, oder?

9. April: 2107 Tote.

Die größte Sorge gilt den Oster-Ausflügen, weil die Herdentiere sich womöglich versammeln werden, denn sie streben stets dorthin, wo die anderen sind. Familienverbände, die seit einem Monat aufeinander hocken und unfähig sind, Abstand zu halten, wenn sie ihre Burgen verlassen. Leute, die lebenslang daran gewohnt sind, andere zu vereinnahmen, müssen offenbar von der Polizei ermahnt werden, es zu unterlassen.

Vier Wochen waren nicht genug, damit aus Herdentieren Individuen werden. Ohne an Seuche gedacht zu haben, beschrieb Edgar Allan Poe den Man of the crowd, den Massenmenschen, als den „Geist und das Urbild des tiefsten Verbrechens“: „Er flieht vor dem Alleinsein.“

Den für mich nächst erreichbaren Abschnitt der Elbe habe ich schon im vergangenen Jahr nicht mehr aufgesucht, weil es unmöglich geworden ist, sich dort allein aufzuhalten: ringsum lärmten Gruppen oder andere Einzelne drängten sich auf. Nun darf ich mich dort gar nicht mehr aufhalten, weil die Behörden den Bereich abgesperrt haben, damit die Massenmenschen fern bleiben.

Um die Abstandsregel zu verinnerlichen, müsste der Ausnahmezustand noch Monate dauern.

Mit jedem weiteren sonnigen Tag werden einige Gassen der Inneren Stadt von Stade zu eng für die allzuvielen, die achtlos durch die Gegend latschen, als hätten nur die anderen Abstand zu halten, sowie die Radfahrer, die ohnedies keine Regel anerkennen. Ganz zu schweigen von den Autofahrern, die die relative Passantenfreiheit nutzen, um in der Fußgängerzone herum zu kurven – wie übrigens auch die fußlahme Polizei.

Zwar leben wir im Schatten des Todes, aber Eisdielen und Blumengeschäfte dürfen schon wieder Umsatz machen. Luxuriös geht man in Deutschland zugrunde. Beschränkungen werden aufgehoben, bevor sie begriffen sind.

Informationen über Corona-Maßnahmen werden im Landkreis Stade von den Behörden nicht oder verklausuliert an die Bürgerschaft weiter geleitet, um das Geschäftsmodell des Lokalanzeigers nicht zu gefährden. Was alle angeht, erfahren nur die Bezieher der Pseudo-Presse. In der Krise müssen sich die Herrschenden für ihr Handeln noch weniger rechtfertigen als sonst, und nur die Bezieher des Lokalanzeigers könnten bemerken, wie die politische Klasse die Seuche nutzt, um die Demokratie ganz außer Kraft zu setzen. Und die machen dabei gern mit, indem sie das Blatt kaufen.

Drinnen allein ist es allemal gesünder als draußen, wo die achtlosen Herdentiere herumlaufen.

Nachdem alle Veranstaltungen unter Beteiligung der öffentlichen Hand im Landkreis bis Ende Juni abgesagt sind, könnte man zwischenzeitlich evaluieren, wer diese danach noch braucht. Ich habe noch nie eine besucht und kenne nur entfernt wen, der es je getan hat. Wie viele davon dienen nur der Selbstdarstellung der Kreise, die sie veranstalten, und sind lediglich private Versammlungen derer, die leichten Zugriff auf staatliche Kassen haben? Was bis Ende Juni nur die Maßgeblichen Dreihundert entbehren, könnte gleich als abgeschafft gelten.

Nachdem zunächst wie das Kaninchen auf die Schlange gestarrt wurde, kommt allmählich Bewegung in das Gerede über Corona. Offenbar gibt es verschiedene Optionen im Umgang mit der Pandemie, und in einer Demokratie sollten diese erörtert werden.

Eben noch stand der Weltuntergang an, nun sollen die Schulen wieder geöffnet werden. Ist mithin alles gar nicht so schlimm, und wir werden verarscht? Vier Wochen freiwilliger Isolation wären umsonst, wenn ein auch zu anderen Zeiten primärer Verteiler von Viren wieder ans Netz ginge.

Ich habe mir während meiner Kindheit allerhand Krankheiten wie Masern und Windpocken in der Schule eingefangen, und als ich die Röteln hatte, war meine Mutter schwanger; hätte sie sich angesteckt, wäre es dem Embryo übel ergangen. Sind den Epidemiologen die Verbreitungswege des gewöhnlichen Grippe-Virus bekannt? Offenbar; warum sonst wären die Schulen überhaupt geschlossen worden?

Sobald die Sonne schien, waren wieder allenthalben spielende Kinder unterwegs, die sich einen Scheißdreck um Abstandsregeln scherten. Alsbald also sollen sie sich wieder in überfüllte Busse und Bahnen zwängen?

Corona in Deutschland ist nicht wie Krieg. Aber es wird so werden, wenn die Bürgerschaft sich nicht noch eine lange Weile so verhält, als befände sie sich im Krieg. Der gegenwärtige Ausnahmezustand ist relativ komfortabel. Er kann nur härter werden, wenn er nicht in der aktuellen Form ausgehalten wird.

Baumärkte, Autowaschanlagen und Eisdielen sind wieder offen: so sieht kein Leben im Schatten des Todes aus. Also können die Schulen wieder den Betrieb aufnehmen, denken allzu viele. Braucht es ein Massensterben wie heute in New York oder wie bei der Cholera-Epidemie 1892 in Hamburg, damit Abwiegler, Verharmloser und Ungeduldige den Schuss hören?

Wäre die Digitalisierung des Schulwesens nicht von der Politik über Jahrzehnte verpennt worden, würde sich das Problem deutlich weniger drastisch stellen. Insoweit ist Corona wie Krieg, der die älteren männlichen Jugendlichen der Schule entzieht; nur dass sie nichts aufs Schlachtfeld geschickt werden, sondern sich bloß nicht zusammen rotten sollen.

Stade Schwedenspeicher 11.4.20 (Foto: urian)
Auch das ist Corona: kaum Passanten unterwegs, aber Autos parken in der Fußgängerzone.

Fünf Todesfälle im Landkreis Stade, fast alle im selben Alten- und Pflegeheim.

Todesfälle Stade screenshot NDR

Ach ja, bevor ich es vergesse: die wichtigste Meldung des Lokalanzeigers am 11. April: „Trotz eines Mangels an Erntehelfern ist in diesen Tagen die Ernte auf den niedersächsischen Spargelfeldern angelaufen.“

Das Wohlbefinden der maßgeblichen Kreise ist nicht in Gefahr. Wenn es ganz arg kommt, beziehen sie halt einen Corona-Bunker, in dem sie nicht auf Champagner und Kaviar verzichten müssen. Meine Kotze sei die Soße für euren Spargel.

Warum erst jetzt Merkblätter in mehreren Sprachen aufgelegt werden, während die digitale Kommunikation der Behörden wie und je erbärmlich ist … in der Krise sind dieselben Hanseln am Werk wie ehedem.

Was eines der Merkblätter sinnfällig macht: es ist in Plattdeutsch verfasst.

CoronaMerkzettel Landkreis Stade

Meine längst verstorbene Mutter gehörte zur letzten Generation der im Niederdeutschen Aufgewachsenen. Platt war ihre Muttersprache, und mit dem Hochdeutschen als Umgangssprache kam sie erst in ihrer Hamburger Lehrzeit in Berührung.

Ich verstand Platt, sprach es aber nicht, auch nicht mit ihr. Sie hat nie ein Wort in Platt geschrieben und allenfalls mal einen Kalenderspruch gelesen. Die Entzifferung des Corona-Merkzettels hätte ihr Mühe gemacht und fällt mir leichter, nachdem ich mich in den frühen 1990ern mit Plattdeutsch als Kunstsprache befasst habe.

Der von gewissen Kreisen betriebene Kult des Plattdeutschen ist ein Produkt reaktionärer Gesinnung mit braunen Einsprengseln. Mögen die Herrschaften dieses Steckenpferd mit Lesungen und Wettbewerben an den Schulen reiten – auf ernst gemeinten Merkblättern hat dieser Firlefanz nichts zu suchen und schon gar nicht gleichrangig mit den anderen Sprachen.

Mir ist gerade nicht danach, diesen Schwachsinn noch zu adeln, indem ich seinen latenten Rassismus eingehend ausführe. Wie gesagt: die Bewältigung der Krise liegt in den Händen der bewährten Kräfte.

In der Krise kommunizieren die Herrschenden mit der vermeintlich demokratischen Bürgerschaft so schlecht wie sonst. SPD, Grüne und Linke im Kreistag beklagen sich, dass die Verwaltung nicht mit ihnen redet. Alle zusammen schweigen sich gegenüber den Bürgern über Sinn und Zweck der laufenden Corona-Verfügungen aus.

Der Landrat, der seine Statements zwar der Presse übermittelt, sich aber auf der eigenen Homepage nur bürokratisch korrekt verklausuliert äußert, soll einen Satz gesagt haben, der Unmut hervorrief: „Für den September sind alle herzlich eingeladen, die Erntezeit im Alten Land zu erleben.“ Das wurde so verstanden, dass sich vorher kein Fremder an der Elbe blicken lassen solle.

„Das WOCHENBLATT bat den Landrat um eine Stellungnahme, wie er seine umstrittene Äußerung interpretiert und ob er die Kritik aus dem Alten Land für berechtigt hält. Roesberg ließ die Redaktion über seine Pressestelle wissen, dass er sich dazu bereits in der Tagespresse geäußert habe. Die WOCHENBLATT-Leser dürfen seinen Standpunkt also nicht erfahren.“

Die Tagespresse: das ist der Lokalanzeiger, der den Reichen und Mächtigen seit dem Kaiserreich bei der Unterdrückung der Meinungsfreiheit zur Hand geht, und dessen Kunden die einzigen Bürger sind, deren Belange den Landrat interessieren. Die Pressestelle des Landrats ist übrigens ein früherer Redakteur der Tagespresse.

In Zeiten von Schutzmasken legt die politische Klasse von Stade die Maske demokratischer Wohlanständigkeit ab und macht ganz ungeniert unter Ausschluss der Öffentlichkeit, wonach ihr ist.

Die Vernunft hat sich durchgesetzt, und die Schulen bleiben geschlossen. Aber mehr Geschäfte dürfen ihren Betrieb wieder aufnehmen. Womit die Innere Stadt von Stade zur Gefahrenzone wird.

Selbst jetzt, während lediglich Bäcker, Drogerien und zwei Supermärkte geöffnet haben, ist es oft zu eng in den Gassen, um den Abstand zu wahren. Zumal durch Paare, Familienverbände und Radfahrer, die ganz auf sich fixiert sind und nicht achten, wo und wie sie sich bewegen.

Es ist nicht anzunehmen, dass das zuständige Ordnungsamt weiß, was vorgeht. In der Hökerstraße haben ein Bäcker und eine Eisdiele geöffnet. Sie liegen einander gegenüber, und sobald sich hier oder dort eine Schlange bildet, bleibt nicht annähernd genügend Platz, um anstandlos zu passieren.

Die Polizei, die im Streifenwagen durch die Fußgängerzone patrouilliert und damit lediglich den Platz für Passanten verringert, weiß ebenso kaum, was abgeht.

Von Achtlosen sind schwerlich Maßnahmen mit Augenmaß zu erwarten.

Noch gibt es förmlich keine Lockerungen, da lassen täglich mehr Mütter ihre Kinder zwischen den Passanten spielen, die ihnen nicht entkommen können.

Eben notiere ich dies, da begrüßen sich zwei Paare lärmend mit Händeschütteln und Umarmung.

Maskenmüll (Foto: urian)
Und ein neues Müllproblem gibt es auch.

„Es genesen mittlerweile mehr Leute, als sich neu infizieren. Damit sei der Ausbruch in Deutschland beherrschbar geworden“, verheißen laut Der Spiegel der Bundesgesundheitsminister und das Robert-Koch-Institut.

„Aber die Deutschen müssen lernen, mit der Dauerkrise zu leben.“ Das kann wohl nicht heißen, alsbald so weiter zu machen wie bisher. Doch genau darauf wird es hinaus laufen.

Am 20. April sollen die Geschäfte wieder öffnen, deren Schließung wesentlich war für die Eindämmung des Virus. Dann wird der Platz fehlen, um den Paaren und Familienverbänden, die die Abstandsregel nicht verinnerlicht haben, auszuweichen, weil sie wieder in Massen auftreten.

Die Infektionszahlen werden unweigerlich wieder ansteigen. Und wenn nicht – dann wurde die Bevölkerung offenbar getäuscht. „Mit der Dauerkrise leben“ kann nicht bedeuten, das Verhalten von Anfang März wieder aufzunehmen. Anscheinend soll jedoch genau das geschehen.

War die Krise also nicht nur keine Katastrophe, sondern nur eine Schein-Krise? Hier wäre die Stelle, um eine Verschwörungstheorie anzubringen, die ich mir erspare.

Wenn die politische Klasse aus ihrem Raumschiff eine „Rückkehr zur Normalität“ verkündet, betrifft das die gewöhnliche Bürgerschaft eigentlich nicht. Oder nur auf jene verquere Weise, indem der Bundesgesundheitsminister und sein Gefolge sich in einen Aufzug zwängen, als hätten sie von keiner Abstandsregel gehört.

screenshot Jens Spahn

18. April: 4110 Tote.

Einige Politiker in Stade stehen mit der Demokratie auf Kriegsfuß und wollen partout nicht, dass der Rat tagt. Im Wochenblatt wird geschildert, wie Corona zum Vorwand genommen wird, um mit der elenden Parteienwirtschaft Schluss zu machen. So schwätzte schon der Kaiser, als er die Nation auf Krieg einschwor: er kannte keine Parteien mehr, nur Deutsche, gute Deutsche, gehorsame Deutsche.

Der Lokalanzeiger geht mit gutem Beispiel voran und enthält seiner Leserschaft das Kasperletheater selbst vor. In seinen Spalten gibt es nur brave Deutsche, die sich allenfalls um Sportveranstaltungen und Schützenfeste sorgen und die Politik gern der Obrigkeit überlassen, zu der sie sich selbst zählen.

Homo Virus (Zeichnung: urian)

Offenbar hat vor allem die Abstandsregel die Ausbreitung des Virus eingedämmt. Schutzmasken spielten keine Rolle. Nun will man rasch zurück zur Normalität und setzt dabei auf Masken. Eine Pflicht zum Tragen einer Maske soll es aber vorerst nicht geben, weil nicht ausreichend Masken zur Verfügung stehen.

Die Maske suggeriert eine Sicherheit, die sie nicht gewährleistet. Mit Maske aber ohne Abstand wird der Virus nicht zurück gedrängt werden. Es wird nichts übrig bleiben, als die gesellschaftlichen Verkehre für längere Zeit auf Abstand einzuregeln.

Ab Montag, 20. April, soll durch die Öffnung von Geschäften „Normalität“ zurückkehren. Es wird also allenthalben Gedränge geben, und die Maskenträger werden sich ohne Abstand geschützt glauben.

Die Lockerungen der Kontaktsperre sollen widerrufen werden, falls die Infektionsrate wieder ansteigt. Davon ist auszugehen. Statt voreilige Normalität zu verkünden, wäre es weitsichtiger, zu lernen, mit dem Abstand umzugehen. Aber das würde die gewohnte Normalität verändern, und davor scheint die Politik sich mehr zu ängstigen als vor der Krankheit.

Dass es im Landkreis Stade keine Journalisten, sondern vor allem als Mediendarsteller angestellte Bürokraten gibt, belegt ein Artikel im → Wochenblatt.

Ein Redakteur betritt nach vier Wochen im Home Office erstmals wieder die Buxtehuder Innenstadt und beschreibt die Veränderungen des öffentlichen Lebens, die er solange ignoriert hat – wie er zu anderen Zeiten nichts wahrnimmt, was sich außerhalb seiner Arbeitsplatz-Scheuklappen befindet. So genannte Journalisten im Kreis Stade sind Wesen ohne Neugier und Eigeninitiative. Mit irgendeiner Realität haben ihre Berichte allenfalls zufällig zu tun.

20. April: Weniger Virenschleudern in der Stader Innenstadt unterwegs als befürchtet, aber in gewissen Gassen zu viele. In der Holzstraße, rund um den Pferdemarkt und in der Hökerstraße ist kein Abstand zu halten, und die meisten merken es nicht einmal, am wenigsten die mit Kindern oder die, die sich mit Maske für immun halten. Wo die Gehsteige ohnehin keine zwei Meter breit sind, ist kein Ausweichen auf die Straße mehr möglich. Einige Geschäfte haben weiterhin geschlossen, sonst wäre es vollends wie vor Corona. Die Kanzlerin warnt vor der Leichtfertigkeit, die die Autofahrer als Passanten an den Tag legen.

Holzstraße Stade (Foto: urian)
Holzstraße Stade 18. März / 20. April 2020

„Besonders die Stoffläden waren gefragt – die Menschen möchten sich mit selbstgenähten Schutzmasken ausstatten.“ Traulich kündigt der Lokalanzeiger seinen Bericht über den Montag der Lockerungen auf facebook an.

„Ein verhaltener Auftakt mit durchweg fröhlicher Note: Die Innenstädte in Stade und Buxtehude haben sich am Montag wieder mit Leben gefüllt, schon am Morgen haben Kunden in den offenen Geschäften wieder gekauft. Die Geschäftsleute berichten von einem guten ersten Tag des Wiedereinstiegs.“

Davon, dass bei der Rückkehr zur Normalität die Abstandsregeln außer Kurs gesetzt wurden, werden vielleicht nur die Bezieher des Blatts in Kenntnis gesetzt – oder auch nicht. Jedenfalls kündet davon das Foto, mit dem der Bericht illustriert wird.

Stader Tageblatt 20.4.20

„[W]ir haben gestern schon beobachtet, dass die Menschen unvorsichtiger geworden sind“, sagt der Gesundheitsexperte der SPD Karl Lauterbach am 21. April im → Deutschlandfunk

„Darüber hinaus sind viele jetzt schon dabei, neue Forderungen zu stellen, anstatt, dass man abwartet, ob die Lockerungen, die wir jetzt gemacht haben, ob wir die leisten können oder ob die schon zu weit gehen, wird schon nach neuen Lockerungen gerufen. Somit bin ich insgesamt sehr pessimistisch, ich hätte selbst sogar die Lockerungen, die wir jetzt gemacht haben, noch nicht beschlossen, ich hätte versucht, länger durchzuhalten, um die Zahl der neuen Fälle soweit herunterzudrücken, dass man jeden neuen Fall neu verfolgen kann, so ähnlich, wie man das in Südkorea gemacht hat, aber da hat man sich nicht dafür entschieden. Daher haben wir das früh gelockert, wir haben alles auf Kante gelegt, es darf nicht zu neuen Fällen kommen, man ist sonst sehr schnell wieder beim exponentiellen Wachstum, dann müssten schon wieder die Lockerungen, die man beschlossen hat, zurückgenommen werden. Das wäre für Wirtschaft und für die Menschen sehr demoralisierend, das ist aber etwas, was durchaus jetzt passieren kann, wenn wir noch mehr lockern oder wenn die Vorsichtsmaßnahmen zu schnell verloren gehen.“

Unterdessen ist das Oktoberfest in München abgesagt worden. Offenbar wird davon ausgegangen, dass die Kontaktsperre noch in einem halben Jahr nötig sein wird. War das nicht längst klar?

Einen Monat hat die Anti-Corona-Einheit gedauert; jetzt stoßen die Interessengegensätze wieder aufeinander. Der Punkt ist: wie viele Tote ist die „Normalität“ wert? Wie viel Krankheit hält die Gesellschaft ohne Umgestaltung aus?

Selbst bei größter Achtsamkeit ist es unmöglich, in den Geschäftsgassen der Inneren Stadt nicht ins Gedränge zu kommen, weil die Mehrheit der Leute nur „Zu Hause bleiben“ und nicht „Abstand halten“ gehört zu haben scheint.

Es war allerdings absehbar, dass jene, die sich wie der oben erwähnte Wochenblatt-Redakteur verhalten haben, als sei eine Ausgangssperre verhängt worden, nun wie entfesselt durch die Gegend latschen. Dagegen muss dann wohl eine Maskenpflicht eingesetzt werden.

Die Politik hat versagt. Statt deutlich zu machen, dass die Eindämmung der Krankheit mit dauerhaften Einschränkungen verbunden sein wird, hat sie nach gerade einmal vier Wochen die Illusion einer zügigen Rückkehr zu einer nicht näher bestimmten „Normalität“ befördert. Um die unvermeidlichen wirtschaftlichen Einbrüche abzufedern, wurde der Einzelhandel ohne Rücksicht auf hygienische Optionen wieder zugelassen und erst danach eine Maskenpflicht verordnet, die eben jene Sicherheit suggeriert, auf die man keine Rücksicht nimmt.

Ab Montag sind die Schulbusse in Niedersachsen wieder voll. Darin werden Masken getragen, während beim Schulbetrieb darauf verzichtet wird und kein Abstand gehalten werden kann. Um Bildung geht es dabei nicht, sondern die Schulen dienen lediglich als Verwahranstalten für die Kinder, damit die Eltern sich wieder der Erwerbsarbeit hingeben können.

Unterdessen verbreitet sich der Irrglaube, man müsse dem Virus nur die Alten und Schwachen opfern, um den Gott Wirtschaft milde zu stimmen. Hauptsache, für die Mehrheit läuft alles wie gehabt weiter. (Siehe → Die Zeit)

Wenn nur die Hälfte dessen stimmt, was die Virologen über die Krankheit bis jetzt wissen, wird es in Deutschland doch noch zu dem Massensterben kommen, das bislang abgeblockt werden konnte.

Die Wirtschaft und die Normalität sind endgültig hin. Keine Maskenpflicht wird sie restaurieren.

Im Landkreis Stade ist die bekannte Zahl der Infizierten kontinuierlich gesunken. 17 sind es an diesem 22. April. Dass die Zahl nicht wieder steigen wird, nachdem seit zwei Tagen der Betrieb in den Geschäftsgassen der Stader Innenstadt mit Sonnenschein stärker ist als zu Beginn der Krise, wird niemand ernsthaft annehmen.

Sechs Tote sind bisher zu verzeichnen. Wurde bisher jeder Todesfall vermeldet, wird der sechste nur en passant erwähnt. Wieder im Altenheim? Wie alt, mit Vorerkrankungen? Geht die Bürger nach Ansicht von Politik, Verwaltung und Presse nichts an.

Noch sind die Kreise der Infizierten und Toten klein. Noch kenne ich niemand, der jemand kennt, der an Corona erkrankt ist. Noch ist in Deutschland kein Prominenter gestorben und hat die Gefahr als Fanal dargestellt.

Wie hoch muss die Sterberate sein, damit unmissverständlich klar geworden sein wird, dass ein Entkommen ohne Verhaltensänderung unmöglich ist?

Die maßgeblichen Herrschaften, die auf Teufel komm raus die Normalität wieder herstellen wollen, kennen diese gar nicht. Ich bezweifle, dass sie sich dieser Tage persönlich davon überzeugt haben, was ihre Verordnungen anrichten. So wenig wie der oben erwähnte Wochenblatt-Redakteur, der sich nach einem Ausflug nach Buxtehude als Geisterstadt wieder im Home Office befindet, um seinen Beruf auszuüben, indem er die Presseerklärungen der Behörden abschreibt.

Der Wochenmarkt ist wie gehabt die größte Virenfalle von Stade. Das könnte selbst die Polizei bemerken, die im Automobil durch die Fußgängerzone patroulliert und lediglich zur Abstandsverringerung beiträgt: mittwochs und samstags können die Beamten nicht über den Pferdemarkt fahren.

Fortsetzung → Seuchentagebuch 2

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