Ein Beitrag zur Kleinstadtweltbildkunde

Alle ereifern sich für oder gegen die AfD und ihre Propaganda zur Rettung des Abendlandes, aber über ihr Personal vor Ort ist außer Selbstdarstellungen nichts bekannt, führte ich schon vor einiger Zeit aus und könnte es heute wiederholen. (→ Gestalten im Schatten) Dasselbe gilt für viele, allzu viele Personen des öffentlichen Lebens, die bereits jetzt über die Geschicke der Gegend bestimmen und es nicht nur beabsichtigen wie die Alternativen.

In den maßgeblichen Kreisen kennt man einander natürlich und weiß, was die Leute wirklich umtreibt, die in der Öffentlichkeit stets nur als selbstlose ehrenamtliche Agenten des Gemeinwohls auftreten. Zu diesen Kreisen gehören indes auch jene, die Öffentlichkeit überhaupt erst herstellen. Also erfährt die Bevölkerung über ihre Machthaber nur gerade das, was diese sie wissen lassen wollen.

Die Täuschung fällt leicht. Die Öffentlichkeit in einer Kleinstadt ist eng begrenzt, insofern sich der Großteil der Bevölkerung vorwiegend im Auto zwischen Heim und Arbeitsplatz bewegt. Öffentlichen Raum betreten sie allenfalls samstags in der Inneren Stadt. Bei manchen öffentlichen Veranstaltungen kommen ein paar hundert Leute zusammen; das Gros der Events wird von wenigen Dutzend Leuten besucht, und oft sind es immer dieselben, die sich an bestimmten Orten treffen. Partiell- und Parallelöffentlichkeiten mit wenig oder keinen Berührungspunkten.

Das öffentliche Gerede ist entsprechend begrenzt und hangelt sich fast ausnahmslos an dem entlang, was durch Medien vorgegeben wird. In der Kleinstadt sind es zwei Zeitungen und sehr gelegentlich ein öffentlich-rechtlicher Sender, die Themen aufgreifen oder seltener setzen. Allein der Sender ist nicht in die maßgeblichen Kreise eingebunden und in seiner Berichterstattung vergleichsweise unabhängig.

Was die gemeine Bürgerschaft über die Personen und ihre Verstrickungen wissen kann, deren Entscheidungen ihren Alltag mitbestimmen, lässt sich umreißen, indem man die Perspektive des Historikers einnimmt und sich vor Augen führt, was dieser frühestens in 30 Jahren als Zeitgeschichte zur Kenntnis nehmen wird. Historiker werden Zugang zu Quellen haben, die heute verschlossen sind, aber die Zeugnisse dessen, was als Öffentlichkeit gelten kann, werden dieselben sein, die den Zeitgenossen zur Verfügung standen.

Hinsichtlich des Personals sind sie von erschütternder Dürftigkeit. Die Personen des öffentlichen Lebens, deren Gesichter alle Tage abgelichtet werden, deren Namen mehrfach in derselben Zeitungsausgabe stehen, existieren als Privatpersonen praktisch nicht. Vielmehr fällt es auf, wenn eine von diesen mit privaten Details auf sich aufmerksam macht. Etwa wenn ein Kommunalpolitiker für eine Kommunalwahl mit einem Video wirbt, das ihn im Urlaub in Griechenland zeigt.

Narrenhausen (Zeichnungen: urian)

Insofern der virtuelle öffentliche Raum in der Kleinstadt von Anfang an bürokratisch behindert und in 20 Jahren unentwickelt blieb, zieht das Video kleinste Kreise und wirft öffentlich keine der Fragen auf, die sich dazu stellen. Das Wahlvolk, längst daran gewohnt, Unbekannten ihre Stimme zu geben, bekommt nicht mit, wenn diese einmal hinter die Fassade blicken lassen, die aus Namen, Berufsbezeichnung und Foto besteht. (→ Die Lücke im Web)

Ein heimlich aufgenommenes Video von führenden österreichischen Politikern als Privatpersonen machte kürzlich erst Schlagzeilen und hatte Konsequenzen. Rasch wieder vergessen wurde die Kluft, in die es hinein sehen und hören ließ, den möglichen Abgrund zwischen privater und öffentlicher Person. So unerlaubt es sein sollte, heimlich Videos aufzunehmen, gleich zu welchem guten Zweck, so erlaubt ist es, das Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem Gesicht zu erkunden. Etwa, wenn die Person ein Video von sich selbst veröffentlicht.

Doch das unterbleibt in der Kleinstadt. Wer könnte auch daran rühren? Mangels etwelcher Untersuchungen angewiesen auf eigene Beobachtungen und Erfahrungen gehe ich davon aus, dass außer der Hälfte der Wahlbevölkerung, die sich bei der letzten Kommunalwahl der Stimmabgabe enthalten hat, auch von denen, die votiert haben, ein erheblicher Teil sich kaum die Namen der Kandidaten gemerkt hat.

Jedes Gespräch, privat oder öffentlich, das öffentliche Angelegenheiten betrifft, wird entweder weitgehend anonymisiert geführt, soweit es beteiligte Personen betrifft, oder entlang der Informationen, die von den maßgeblichen Kreisen zugelassen werden. Es gibt drei wesentliche Milieus: eines, das ganz auf das angewiesen ist, was von den Akteuren der jeweiligen Sachverhalte angeboten wird; eines, das Verbindungen in das Milieu der Akteure hat; und schließlich das Umfeld der Akteure selbst.

Die Akteure und ihnen angeschlossene Milieus schweigen öffentlich über alles, was sie angeht. Der Rest der Bevölkerung wird gegängelt. Das gelingt mal mehr, mal weniger gut. Im Ganzen funktioniert die Kontrolle der öffentlichen Meinung reibungslos. Nur sehr selten reden die Leute nicht über das, worüber sie reden sollen.

So überschaubar die Kleinstadt räumlich ist, so begrenzt sind die virtuellen Spielräume. Ein früherer Bürgermeister bezifferte die maßgeblichen Kreise auf 300 Personen. Die Angabe war ihm nur so heraus gerutscht, und er wurde nicht aufgefordert, sie näher auszuführen. Meinte er nur die Akteure oder auch dessen Umfeld? Bei einer Bevölkerung, die sich den 50.000 nähert, kommt es auf ein paar hundert nicht an, um den Abstand zu markieren.

Kleinstadtwelt (Zeichnung: urian)

Historiker würden ganz zwanglos eine Liste der Führungselite anlegen können, die ohne Mühe vollständiger wäre, als jede, die ich heute anhand des veröffentlichten Materials erstellen könnte. Eine Handvoll Akten, und Verbindungen würden sich schließen lassen, über die ich hier und heute nur spekulieren kann. Aus den Fällen, in denen ich Zusammenhänge verfolgen konnte, kann ich einiges hochrechnen. Aber beim Meisten habe ich nicht nur nicht die Möglichkeiten des Historikers, sondern vor allem nicht seine Freiheit.

Auch wenn ich so korrekt wie ein Historiker einem Sachverhalt einen Namen zuordne, muss ich bei seiner Nennung in der Gegenwart mit Widrigkeiten rechnen, die dem Nachgeborenen gleichgültig sein können. Wenn ich in einer öffentlichen Angelegenheit den dazu gehörigen Namen einer Person des öffentlichen Lebens nenne, habe ich gefälligst nur das Abziehbild zu kopieren. Andernfalls ich mich auf private Anfeindungen durch die Person des öffentlichen Lebens und ihr Umfeld einzustellen habe. (Wohlgemerkt: gerade wenn juristisch alles einwandfrei ist.)

300 oder 700 Leute, über deren Geschlechtszuordnung nur spekuliert werden kann, mit oder ohne Umfeld. Wer mitreden will, spielt mit oder nicht. Alle anderen sind sowieso draußen. Punktum.

Zum wiederholten Male lese ich heute binnen kurzem von einer Person des öffentlichen Lebens und ihren Aktivitäten. Ich kenne das Abziehbild in allen Einzelheiten; einige der frühesten Striche stammen von mir. Ein Muster für eine der Personen, deren Namen zu nennen ich mir untersagen muss, um nicht Hölle und Verderbnis auf mein Haupt zu beschwören.

An der Person ist soweit nichts besonders oder auffällig, es könnte eine andere sein; allein könnte ich bei dieser ein Profil zeichnen, das weit über das Abziehbild hinaus ginge. Dergleichen geschieht alle Tage: über Personen des öffentlichen Lebens wird mehr bekannt, als ihre PR-Abteilung wissen lässt. Sofern sie sich mit Journalisten einlassen und diese wissen, was sie tun, ist das demokratische Normalität.

Nicht so in der Kleinstadt. Da ist ein Amtsträger erschrocken, wenn ihm nicht dieselben belanglosen Fragen wie eh und je gestellt werden, deren Antworten er als bekannt voraussetzt. Wenn die Regeln des Spiels gebrochen werden, das man seit dem Kaiserreich spielt, wobei der Nationalsozialismus keine wesentliche Unterbrechung darstellte, sondern es von denselben Akteuren bis zu ihrem Tod fortgesetzt wurde.

In der Öffentlichkeit treten die Akteure maskiert auf. Ihnen selbst mag es bisweilen anders vorkommen, aber tatsächlich ist die handgreifliche Öffentlichkeit, in der sie sich bewegen, stets eine eng begrenzte. Die Akteure schöpfen lediglich ihr Umfeld aus. Fallweise kommen mehr, andere, neue Personen hinzu, aber die meisten waren nie auf einer Versammlung, einer Veranstaltung, einer Demonstration und haben von alledem, was als Öffentlichkeit inszeniert wird, nur Fotos und selten einmal Videos gesehen.

Die Zahl der Postings im Internet, die öffentliche Angelegenheiten betreffen, ist überschaubar. Einer, wenn nicht der größte Aufreger der Stadt mit hunderttausenden Zugriffen war das Video einer Polizeikontrolle. (→ Das »Prügelvideo« von Stade) Öffentlicher Raum in jeder Hinsicht. Aber das publizierte Material könnte einen Historiker wahlweise zur Verzweiflung bringen oder zum Lachen über eine Bevölkerung, die sich so leicht hinters Licht führen lässt.

Das Zerrbild von Öffentlichkeit im Verhältnis zur Wirklichkeit ist dasselbe wie vor mindestens 50 Jahren, als ich in der Gegend aufwuchs und bei einer Gelegenheit eigene Anschauungen gewann von einem öffentlich erörterten Sachverhalt. Neben anderem trug das dazu bei, dass ich in dem Bereich arbeitete, in dem Öffentlichkeit in der Demokratie hergestellt wird. Ich beschäftigte mich mit der Transformation von Wirklichkeit in Worte und Bilder. Nicht das übliche Verfahren. In vielen Bereichen werden lediglich Worte und Bilder umgewandelt, während die Wirklichkeit anderswo ist.

Nachdem ich in Großstädten unterwegs war und dabei viele Wege zurück gelegt hatte, die andere vermieden, und Begegnungen hatte statt Telefonate zu führen, gelangte ich in eine Kleinstadt, in der die Medienvertreter ihre Büros nur wie unter Zwang verließen und allenfalls, um die stets selben Orte aufzusuchen. Ihre eigene Stadt kannten sie vornehmlich vom Durchfahren. Über den Verkehr der Autos waren sie besser im Bilde als über den der Menschen.

Von denen außerhalb ihrer Kreise wussten sie keinesfalls mehr als ihre Leserschaft, die nicht weit über die eigenen Kreise hinaus reichte; jedenfalls waren die Publikationen nur an diese adressiert. Den Rest der Bevölkerung kannten sie bestenfalls aus herrschaftlicher Perspektive oder vom Hörensagen. Näherer Umgang ausgeschlossen. Dann und wann ein Interview mit Foto, eine Stunde Termin, schönen Tag noch, bei geringer Wahrscheinlichkeit, den Betreffenden wieder zu begegnen.

Personen des öffentlichen Lebens in der Kleinstadt haben es freilich schwerer als in der Großstadt, wo ein Senator das Rathaus verlassen kann, ohne dass es jemand bemerkt. Andererseits suchen dieselben Personen die geschützten Öffentlichkeiten, die keine Großstadt bietet. Bei jeder Veranstaltung in der Großstadt muss mit unerwünschten Gästen gerechnet werden; in der Kleinstadt bleiben die Kreise der Veranstalter stets unter sich.

In der Großstadt ist mehr Offenheit in der Öffentlichkeit möglich. In der Kleinstadt-Öffentlichkeit ist Offenheit nur für begrenzte Kreise vorgesehen. Alle anderen sind gar nicht vorgesehen. Sie haben keine Stimme zu haben.

Sie werden nicht zu Veranstaltungen eingeladen, bei denen Sachverhalte erörtert werden, die sie betreffen. Falls sie überhaupt davon nicht erst im Nachhinein davon erfahren, können sie nur unter Protest teilnehmen. Was sie betrifft wird aber ohnehin bestmöglichst unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt.

Der Ausschluss der Öffentlichkeit ist an sich das probateste Mittel der maßgeblichen Kreise, ob förmlich oder informell. Es sich über weit mehr als hundert Jahre bewährt, und ist inzwischen so normal, dass es der Öffentlichkeit weniger auffällt, wie routinemäßig sie ausgeschlossen wird, als dass es Skandal macht, wenn etwa Zahlen von öffentlicher Hand verwendeter Gelder, die öffentlich erörtert gehören, tatsächlich veröffentlicht werden. Die Absurditäten, an denen man selbst mitwirkt, geben wiederum den Akteuren Anlass für verächtliche Äußerungen über jene, die einem auf den Leim gegangen sind.

Die Wirklichkeit ist unterdessen wie gehabt anderswo. Damit die Verschiebung gelingt, bedarf es Personen des öffentlichen Lebens, die im Zwischenbereich der Täuschung existieren. Sie spielen so wenig mit wie alle anderen Ausgeschlossenen, aber sie werden von den Akteuren eingesetzt, um den Ausgesonderten die Illusion der Teilhabe zu ermöglichen.

Nützliche Idioten könnte man sie nennen, weil sie nicht mehr als ihr Abziehspiegelbild in der Öffentlichkeit als Lohn für ihre Mühe erhalten. Zu bestimmen haben sie nichts und werden nicht zu Rate gezogen, wenn es um das geht, weshalb sie an dem Spiel teilzunehmen sich vormachen. Aber sie beruhigen wiederum ihr näheres Umfeld und schotten die Akteure gegen Proteste aus der weiteren Umgebung ab.

Weltbildkunde (Zeichnungen: urian)

Ich könnte Abschnitte des Tableaus zeichnen, mit Personen und Verbindungen, Zwiebelschale für Zwiebelschale, von innen nach außen, soweit es die Öffentlichkeiten betrifft, die Beziehungen zwischen den realen Personen und den Abziehbildern, die sie selbst und die von ihnen umlaufen. Aber ich könnte meine Skizze keinesfalls veröffentlichen. Ich müsste mich hüten, ihre Existenz zu behaupten und das Original, falls ich eines anfertigte, verstecken und allenfalls Vorsorge treffen, dass ein Historiker es auffinden könnte; in einem der öffentlichen Archive würde es jedenfalls nicht aufbewahrt werden.

Etliche Akteure sind in Männerbünden organisiert, andere bilden inzwischen geschlechterübergreifende Banden, aber um eine Verschwörung handelt es sich nicht. Es gibt kein Skript, keine Aufnahmerituale und keine abgestimmte Lenkung und Steuerung. Ein nicht unerheblicher Teil der Akteure hat die eigene Rolle geerbt und folgt einem mehr vorgelebten als vorgeschriebenem Programm. Oft sind sie sich selbst nicht bewusst, wie stark sie in der Rolle verhaftet sind und überschätzen den Eigensinn ihrer Person.

Verschwörer, die sich in die Karten schauen lassen, sind schlechte Verschwörer. Die gelungensten Verschwörungen sind ohnedies nicht die, die ständiger Geheimhaltung bedürfen, sondern solche, die unangesprochen, selbstverständlich und vor aller Augen ablaufen. Jene, bei denen die Verschwörer nicht enttarnt werden können, weil sie aufrichtig erwidern, von keiner Verschwörung zu wissen, an der sie hätten mitwirken können.

Sie haben einfach keine Ahnung, wie es ist, nicht zum Kreis der Auserwählten zu gehören. Wie die Welt unter anderen Umständen aussieht und sich anfühlt. Unter denen, die in ihren Kreisen keine Stimme haben.

Eben wird ein Projekt der Bürgerbeteiligung beendet, das selbst in den Kreisen, die damit angesprochen werden sollten, keine Resonanz fand. Macht nichts, die Erfolgsartikel der Zeitung als Leistungsnachweis für die Beteiligten sind schon geschrieben. Das Unternehmen, das ich eingehender beobachtet habe (→ Gepanzerte Gedanken), dokumentiert die Verblendungsversuche wie die Selbstverblendung der maßgeblichen Kreise. Obwohl nicht Bürger, sondern lediglich Besitzbürger teilnahmen und alle übrigen nicht einmal angesprochen wurden, sind die Akteure überzeugt, etwas vollbracht zu haben, das nicht im Einklang steht mit den Vorgaben der maßgeblichen Kreise.

Mein Einspruch verhallte nicht einfach, er wurde umgedeutet. Weil man sich nicht vorstellen wollte, dass es noch eine andere Welt als die eigene gibt, wurden die Aussagen des Besitzlosen als die eines Besitzbürgers verstanden. Und alles konnte wie gehabt Eiapopeia sein.

Blick vom Parkhaus Mitte über Stade (Foto: urian)