Meinungsbildung im digitalen Zeitalter

Am Sonntag, 13. Januar 2019, entdeckte ich auf facebook ein knapp zweiminütiges Video, das einen Polizeieinsatz im Altländer Viertel von Stade zeigt. Einen wirklichen Einsatz, keine Fernsehinszenierung; vor allem deshalb mutet es befremdlich an. Eine Minute lang prügeln zwei männliche Polizisten sich mit einem Bürger und einer Bürgerin.

Was vorgefallen ist, wie es zu der Schlägerei kam, darüber erfahre ich nichts. Ein Privat-Post von jemand, der sich keine Gedanken gemacht hat, welche Wellen die Veröffentlichung schlagen könnte – und geschlagen hat.

Die Kommentarspalte des Posts wird von Hetzern dominiert. Hier schreien sie von »Polizeigewalt«. Am nächsten Tag, als traditionelle Medien aufgreifen, was seit Samstag in den Sozialen Medien an die 100.000 Mal wahrgenommen wurde, kommen in den Kommentaren zum Artikel des Stader Tageblatt jene zu Wort, die am liebsten mit der Polizei geprügelt hätten. Und so schreiben sie auch: in miserablem Deutsch, durchsetzt mit Icons, und angetrieben von blinder Ordnungswut.

Hier wie dort finden sich alle in ihren Vorurteilen bestätigt und sehen auf dem Video nur, was sie sehen wollen. Die Aufnahme ist der Anlass, eine alte Geschichte zu erzählen.

Was vor und nach dem Video geschah, um was für eine Situation es sich handelte, bleibt allen, die sich eine Meinung dazu gebildet haben, unklar. Eine »Verkehrskontrolle« sei »eskaliert« heißt es. Damit ist die Szene höchstenfalls markiert, aber nicht erklärt.

Prügelvideo Stade Screenshots

Unterdessen ist das Video von facebook verschwunden. Auf YouTube ist es noch für angemeldete Benutzer einsehbar. Alle anderen müssen sich auf das verlassen, was ihnen darüber verbal mitgeteilt wird, und das ist, wie gesagt, durch Vorurteile gefiltert.

Warum das Video entfernt wurde, darüber darf die gemeine Bürgerschaft rätseln. Verletzung von Persönlichkeitsrechten? Die können suspendiert werden, wenn sie einen Vorfall von besonderem öffentlichen Interesse betreffen, und das trifft auf ein »virales« Video wohl zu. (Erkennbar sind die Personen nicht; das Tageblatt illustriert mit einem unbearbeiteten Screenshot des Videos.)

Der Bericht im Lokalanzeiger besteht aus Zitaten des Pressesprechers der Polizei. Die Geschichte zum Video wird nicht erzählt. Über das Geschehnis weiß die Leserschaft so wenig wie vorher.

Ein paar Klicks bei google News zeigen, dass die Redaktion des Tageblatt zu dem Vorfall vor der eigenen Tür wie üblich keine Recherchen angestellt, sondern wie ein halbes Dutzend anderer Medien eine Meldung der dpa kopiert hat. Die ausführlichste Berichterstattung liefert übrigens BILD. Boulevard-Reporter schreiben keine Agentur-Meldung ab, sondern löchern den Polizeipressesprecher ein Mal mehr.

Prügelvideo Stade Screenshots

»Die Ermittler wollen nun auch die Kommentare in den sozialen Netzwerken prüfen und gegen die Urheber gegebenenfalls Verfahren einleiten«, heißt es. Wegen welches Tatvorwurfs diese Nachforschungen angestellt werden, behält die »unabhängige« Presse in aller Freiheit für sich. Die Einschüchterung muss genügen. Kann sich jede(r) nach Gutdünken schuldig fühlen, falls er/sie das Maul aufmacht. (Keine Sorge, Hetze gegen andere Bevölkerungsgruppen als Polizisten ist der Polizei weiterhin die Mühe nicht wert.)

Beim Tageblatt hat man immerhin noch eine Ahnung davon, was eine Zeitungsgeschichte ist, so selten man welche verfasst. Aber man ist schwerfällig und hat eigentlich vergessen, wie es richtig geht.

Am Dienstag, vier Tage nach dem Video-Post tut die freie Presse so, als hätte sie eine Story. Aber es ist, wie immer, nur eine weitere Verlautbarung des Polizeipressesprechers. Sie verbalisiert vor allen, was auf dem Video zu sehen ist. Noch immer keine Geschichte, nur die Versicherung, die Polizisten hätten sich korrekt verhalten.

»Das Internet hat die Zeitungsbranche in eine Existenzkrise gestürzt. Ratschläge gehen dahin, den ›Lokaljournalismus‹ zu stärken.« So notierte ich unlängst in einer Anmerkung über das Tageblatt. Die ungeschriebene Video-Geschichte demonstriert, warum die Lokalzeitung von Stade das Papier nicht wert ist, auf das sie gedruckt wird.

Zunächst plappert sie nach, was die Polizei die Presseagentur hat wissen lassen, dann lässt sie wiederum nur den Pressesprecher der Behörde zu Wort kommen. Von den Produzenten des Göttinger Tagblatt oder der Süddeutschen Zeitung, die über das »Prügelvideo« aus Stade berichtet haben, wäre nicht mehr zu erwarten. Wozu aber ist der Standortvorteil nütze, wenn nicht dazu, eine bessere, eine vollständigere Geschichte erzählen zu können? In einer Stadt von knapp 50.000 Einwohnern kann ein(e) Journalist(in) nicht jede(n) kennen, sollte aber keine drei Tage brauchen, um mehr als eine Quelle für einen Bericht aufzutreiben.

Das Paar, das sich mit den Polizisten prügelt, ist stadt- und übrigens auch polizeibekannt. Anhand des Videos würde man sie nicht erkennen; wer sie jedoch kennt, kann sie identifizieren. Kein Problem, sie nach ihrer Sicht der Sache zu befragen.

Den Video-Filmer, der als Zeuge für das, was seiner Aufnahme vorausging und folgte, in Frage kommt, kenne ich zufälligerweise; und wenn nicht, bräuchte ich mich an der Straße im Altländer Viertel, die nicht mehr Breslauer heißen soll, nur umzuhören.

Zwei Stimmen für die Geschichte, von der die Bürgerschaft nur eine zu hören bekommt, die der Staatsmacht. Zur Wirklichkeit gehören alle drei. Was ich von den Aussagen zu halten habe, kann ich redlicherweise erst einschätzen, wenn ich alle Ansichten kenne. Nachdem das Video gelöscht ist, bleiben nur die Angaben der Polizei, die ich als getreues Abbild der ganzen Realität annehmen soll.

Körperverletzung, Beleidigung, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte sind die Straftaten, über die irgendwann ein Gericht zu entscheiden hat. Wer meint, er könne darüber anhand des Videos urteilen, versteht von Wirklichkeit nichts. Vom Ausgang des Prozesses wiederum wird das gemeine Publikum voraussichtlich nichts erfahren.

Womit der Plebs seine Meinung bildet, sind nicht mehr als ein Video von zwei Minuten, die Kommentare dazu sowie die Verlautbarungen der Polizei. Was wirklich geschehen ist, interessiert die Hetzer und Denkfaulen nicht. So wenig wie die Damen- und Herrschaften von der Lokalpresse, die es ihnen vormachen und sich damit, wie zu arbeiten sie sich angewöhnt haben, selbst überflüssig machen.

Nachträge

16. Januar 2019

Den Vogel der Verantwortungslosigkeit schießt der schon → an anderer Stelle bemitleidete Tom Kreib vom Wochenblatt ab, der auch nicht mehr weiß als der Video-Zuschauer, aber seine Wortmeldung als »Bericht« maskieren kann. Er schreibt von einem »Gewaltexzess« gegen die Polizisten durch »Brutalos«. Vom ordinären Hassposter unterscheidet ihn allein seine Selbsteinbildung als Journalisten-Darsteller. – Nach einer Schamfrist erscheinen dieselben Sätze, mit denen das »Tageblatt« das Video schildert, als Mitteilung auf dem Internet-Portal der Polizei. Da lassen sich mindestens zwei Leute für dieselbe Arbeit bezahlen, vom Staat und der »freien Presse«. Einer von beiden ist, wie gesagt, überflüssig. Die »vierte Gewalt« hat sich in Stade selbst abgeschafft. Hinsichtlich der Meinungsfreiheit (und nicht nur in dem Punkt) herrschen Verhältnisse wie zur Kaiserzeit, als das Tageblatt gegründet wurde. Demokratie ist anderswo.

17. Januar

Angeblich häufen sich die Angriffe auf Einsatzkräfte und werden brutaler. Sagt die Polizei, und die Presse wiederholt es. Ein Artikel, der willkürlich Einzelfälle aus dem Bundesgebiet auflistet, wird illustriert mit einem Foto aus Bremervörde, das eine Auseinandersetzung zwischen Polizisten, Feuerwehrleuten und Passanten an einer Unfallstelle zeigt. Sieht dramatisch aus, passt aber nicht, denn die Einsatzkräfte wurden nicht angegriffen. Und obwohl über das anschließende Strafverfahren in den Medien unter dem Titel → »Gaffer-Prozess« berichtet wurde, ging es nicht um exzessive Schaulust.

Auch mit Gaffern hätten die Einsatzkräfte immer mehr unangenehme Begegnungen, heißt es. Zuletzt wurde von der Polizei in Karlsruhe behauptet, Gaffer hätten nach einem Unfall auf der Autobahn 8 die Tür eines Krankenwagens geöffnet, um Verletzte zu fotografieren oder zu filmen. Medien plapperten ungeprüft nach – bis nun das Deutsche Rote Kreuz der Polizeimeldung widerspricht.

Hätten die Journalisten ihre Arbeit gemacht, statt bloß abzuschreiben, was ihnen vorgelegt wurde, wäre die Meldung unterblieben. Aber in weiten Bereichen, voran in der Kriminalität, tun die Mehrzahl der Medien nichts anderes mehr, als Verlautbarungen zu veröffentlichen, ohne deren Wahrheitsgehalt auch nur in Frage zu stellen. Oder nachzufragen, warum eine staatliche Institution wie die Polizei es für nötig erachtet, Falschmeldungen in die Welt zu setzen.

Auf Blogs und von der AfD wird daher von »Staatsmedien« gesprochen. Wie »Lügenpresse« handelt es sich zwar um einen politischen Kampfbegriff, der dennoch tatsächliche Verhältnisse abbildet.

Das auf facebook gelöschte »Prügelvideo« darf auf twitter weiterhin angesehen werden. Zur Rechtslage konsultieren Sie bitte den Anwalt Ihres Vertrauens. Die alten wie die neuen Medien klären Sie jedenfalls nicht auf. Ich weiß so wenig wie Sie und kann nur mutmaßen, wie lange es noch erlaubt ist, solche ungehörigen Fragen öffentlich zu stellen.

Inzwischen haben sich auch von google erfasste Blogger gemeldet. Einen grotesken Irrtum werde ich nicht wiederholen, um der Suchmaschine keine zu diesem Zeitpunkt unangemessenen Schlagworte zu liefern. Ob dieses oder jenes zur Sache gehört, ist so verschwommen wie die Geschichte, von der das Video lediglich eine Szene zeigt. Zu Ende ist sie jedenfalls nicht.

5. Februar

Der videografierte und skandalisierte Vorfall ist weder der Öffentlichkeit plausibel geschildert worden noch rechtlich geklärt – da schlagen die Hüter/innen von Recht und Ordnung und ihre publizistischen Kläffer/innen politischen Alarm und verwandeln Mücken in Elefanten.

screenshot Stader Tageblatt

6. März

Die Gewalt gegen Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter steige an, tönt es von allen Seiten. Theorien nach politischer Couleur werden daran gehängt: die Gesellschaft verrohe immer mehr, es mangele an Respekt, etc. Jetzt hat die Polizeiinspektion Stade die Zahlen für das vergangene Jahr vorgelegt: 147 Polizeibeamte wurden Opfer von Gewalt. Sie wurden geschlagen und getreten; zehn Mal kamen Stich- oder Schlagwerkzeuge zum Einsatz. Das sind genau fünf Fälle mehr als 2017.

Im Stader Tageblatt wird die Polizeiführung folgendermaßen zitiert: »Die Gewalt gegen Polizisten sei nicht neu, der Respekt gegenüber dem Staat schwinde.« Wenn Polizisten immer schon damit rechnen mussten, bei ihrer Arbeit auf Widerstand zu stoßen, und wenn der Zuwachs der Fallzahlen vernachlässigenswert ist, worauf beruht dann die Einschätzung des schwinden Respekts?

Der hintere Halbsatz gehört eigentlich zum nächsten Satz, der lautet: »Neu sei allerdings, dass jetzt auch andere Uniformträger, vom Feuerwehrmann bis zum Notfallsanitäter, attackiert würden, so [der Leiter der PI Stade].« Und jetzt folgen die entsprechenden Zahlen … Nein, Fehlanzeige, die Polizei bietet nur Daten über die Angriffe auf sich selbst an. Alles Übrige ist Spekulation und eine politische Stimmungsmache, die den Polizeibeamten nicht zusteht, und die der Lokalanzeiger in holprigen Sätzen unhinterfragt vervielfältigt.

Ach ja, und dann noch das: »Im Landkreis Stade lebt es sich sehr sicher«, stellt die Polizei fest; die Gesamtzahl der Straftaten sei um 9,1 Prozent gesunken. Das entzieht den Law-and-Order-Wahlkämpfern in CDU und AfD zwar die Fakten-Basis, aber einen »mangelnden Respekt für den Staat« können sie mit Polizeiunterstützung weiter beschwören.

3. Juni

Niemand ist wie angekündigt zur Rechenschaft gezogen worden für einen Kommentar in den Sozialen Netzwerken oder die Verbreitung des Videos. Hat es die verlautbarten Ermittlungen überhaupt gegeben? Oder hat man es beim Einschüchterungsversuch via willfähriger Presse belassen? Diese vermeldet selbstverständlich nichts weiter, sondern treibt die nächste Sau durchs Dorf.

Die stets hetzbereite AfD-Klientel sondert soeben Kommentare zum Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ab, die wenigstens das Andenken des Verstorbenen verunglimpfen. Neonazis (die von den Behörden wie immer als Rechtsextreme verharmlost werden) hatten Lübcke mit dem Tod bedroht; die Zustimmung der Kommentatoren hat damit natürlich nichts zu tun. Jedenfalls werden ihnen, anders als in Stade, keine Strafverfahren angedroht. Wo ist der Unterschied? Eben: Neonazismus gilt in Deutschland als Petitesse. Da schaut zumal die Polizei nicht gern genauer hin. Könnte ja einer aus den eigenen Reihen in den Blick kommen.

6. Oktober

Neue Bilder und ein Video aus dem Altländer Viertel gehen im Worldwide Web um. (→ Im Fadenkreuz) Die alte Geschichte liegt weiterhin abgebrochen herum.

Februar 2020

Der Fall kommt vor Gericht, und der Richter „sah sich“ laut Wochenblatt „veranlasst, eine rechtliche Einschätzung abzugeben, ohne zuvor in die Beweisaufnahme zu gehen und die beiden als Zeugen geladenen Polizisten zu befragen. Grund war besagtes Video, das kurz nach dem Vorfall im Internet kursierte und auch Polizei und Staatsanwaltschaft vorlag. Die von einem benachbarten Wohnhaus mit Handy aufgenommene Filmsequenz lässt nämlich einen anderen Blick auf das Geschehen zu. Man sieht darauf, dass zumindest auch einer der Polizisten nicht gerade zimperlich war und sofort Fußtritte sowie Fausthiebe austeilte.“

Was immer im Einzelnen geschehen ist und unaufgeklärt bleiben wird: Fehlverhalten gab es auf beiden Seiten, bei den angeklagten Bürgern wie der Polizei. Das Verfahren wurde eingestellt. Die Politik und alle anderen, die sich zunächst lautstark in die Brust geworfen hatten, schwiegen und nahmen keines ihrer veröffentlichten Worte zurück. Bis zum nächsten Mal.

Unter dem Hashtag „Polizeigewalt“ wurde sich in den Sozialen Netzwerken zunächst über rassistische Übergriffe durch die Sicherheitskräfte erregt. Ausgangspunkt waren Videos und punktuelle Informationen aus den USA, die ohne viel Federlesens auf die deutschen Verhältnisse übertragen wurden. Kritiker wie Verteidiger argumentieren bedingungslos und weitgehend ohne Bezüge auf die komplexe Realität. (→ Wie die Polizeipresse mitteilt) Mitte Juni 2020 gehen manche so weit, eine Abschaffung der Polizei zu fordern.

Jede sachgerechte Debatte über Polizeiarbeit scheitert an der Verblendung über das, was als abweichend, als verbrecherisch verstanden wird. Von Diversität wird gegenwärtig allenthalben geredet, sofern es ums Geschlechtliche geht; aber auch für jene, die für gar nicht genug Vielfalt eintreten, ist die Welt an etlichen Stellen weiterhin schwarz/weiß. Die Übergänge zwischen der Polizei und den Verhältnissen, deren Ordnung sie garantieren soll, sind fließend.

Zur Ordnung der anständigen Dinge gehörte die längste Zeit, dass die Polizei sakrosankt ist. Einzelheiten über ihre Arbeit wurden und werden unterdrückt. Für einen Teil der Verschwiegenheit gibt es rechtliche Gründe; doch auch im Übrigen wird die Polizei wie ein Staat im Staate behandelt.

Inzwischen lassen sich vermehrt, bevorzugt auf twitter, Stimmen aus der Polizei, vornehmlich aus den Gewerkschaften, vernehmen. Über die Wirklichkeit lässt sich den Statements nicht mehr entnehmen, als bis dahin durch Schnipsel, ob als Videos oder Nachrichtentexte, bekannt gewesen ist.

Viel Gerede würde sich erübrigen, wenn die Bürgerschaft über die Realitäten der Polizeiarbeit besser im Bilde wäre. Die faktische Ordnung würde das nicht beeinträchtigen. Das Gerede und die Verschleierung dienen anderen Zwecken. In den aktuellen Konfrontationen über die Polizei wird daran nicht (oder nur am Rande) gerührt. Die Frontstellungen gehen über alles.

Der Fall des Prügelvideos ist exemplarisch. Entweder hat die eine oder andere Partei sich falsch verhalten. Die Wette ist geschlossen, sobald die ersten Bilder oder Worte ihr Publikum erreichen. In der Regel erfährt dieses nicht, wie die Geschichte ausgegangen ist, weil es nicht vermeldet wird, oder weil es keine Schlagzeile mehr bildet, der nicht zu entgehen ist.

In einer Erhebung, die im Juni 2020 ohne Quellenangabe von einem CDU-Bundestagsabgeordneten getwittert wird, rangiert die Lokalpresse in Hinblick auf Vertrauenswürdigkeit gleich hinter dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Vor DIE ZEIT und Süddeutscher Zeitung. Die BILD liegt auf dem letzten verzeichneten Platz. Die Magazine, denen die AfD-Wähler vertrauen, kommen gar nicht vor.

Dem Politiker ging es um das, was die AfD in Frage stellt, die „Staatssender“, und er schätzt die Lage als Politiker ein. Unter fachlichen Gesichtspunkten sieht die Skala punktuell anders aus. Jedenfalls ist das Vertrauen in die Lokalpresse in vielen Fällen, in denen ich es überprüfen konnte, nicht gerechtfertigt, sondern der bedingte Reflex eines Monopols.

Die Zeitungsverlage sind inzwischen vielfach wirtschaftlich derart verflochten, dass auch nur regionale Unterschiede keine Rolle mehr zu spielen scheinen. Jedenfalls stellen die Texte und Bilder, die von einer jeweiligen Redaktion in die Welt gesetzt werden, nach wie vor die Hauptquelle dessen dar, was als Nachricht gilt in ihrem Verbreitungsgebiet. Hier und da stellen Anzeigenzeitungen eine Konkurrenz dar, aber selten in journalistischem Sinn.

Was als Thema gilt, bestimmt die Lokalzeitung. Worüber sie schweigt, ist wie nicht in der Welt. Das Internet hat daran wenig geändert. Freilich hat es das Geschäftsmodell der Presse erschüttert.

Um nur von der Polizeiberichterstattung zu reden: der Kauf der Zeitung erübrigt sich, wenn diese lediglich kopiert, was die Behörde selbst per E-Mail an Interessierte versendet. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Die jedoch bleibt aus. Es sei denn, ein öffentlich-rechtlicher Sender, ZEIT oder Süddeutsche greifen einen Fall auf.

Das Misstrauen gegenüber der BILD ist im Sektor Kriminalität absolut ungerechtfertigt. Wie ekelig die Berichterstattung sein mag, ist sie in allen Fällen, bei denen ich über eigene Erkenntnisse verfügte, nicht zu beanstanden gewesen, was das Material anbelangte, mit dem gearbeitet wurde.

Dass die Zeitung einen Zeugen groß heraus stellt oder über eine Polizistin mehr weiß als die Polizei erlaubt, und wie sie damit umgeht, ändert nichts daran, dass sie mit den Leuten gesprochen hat. Die BILD und andere Boulevardblätter betreiben die Berichterstattung über Kriminalität so weit möglich aus erster Hand. Auf die gute alte Art, die in den Lokalredaktionen nahezu unbekannt ist. Zwar rast der Reporter zum Schauplatz, aber „eingebettet“ und nicht unabhängig von Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst.

BILD spricht mit allen, die in Frage kommen – sofern sie der Redaktion in der entfernten Großstadt in den Sinn kommen und zur Geschichte passen, die bereits entworfen ist, bevor die Belege gesammelt werden. BILD hakt auch einmal nach, wenn der Fall von der Lokalpresse bereits vergessen ist. Veröffentlicht wird dann vielleicht nichts: weil die unabweisbare Faktenlage zu offenkundig das dementiert, was bis dahin berichtet worden ist.

Wenngleich nicht jedes Mal und nicht immer drastisch Differenzen bestehen zwischen dem, was in den Medien zu bestimmten Zeitpunkten verlautbart wurde, und dem, was nach einem wie immer vorläufigen Abschluss einer Geschichte als wahr gelten kann, erinnere ich keinen Fall, in dem es keine Abweichungen gab, die umso erheblicher zu Buche schlagen, als die jeweiligen Mitteilungen stets äußerst kurz und knapp sind.

Lokalzeitungen sind vergleichsweise geschwätzig. Dieser Befund gilt seit ihrem Aufkommen im Kaiserreich, so oft ich Vergleiche anstellen und Überprüfungen vornehmen konnte, etwa bei Gerichtsberichten. Der Zeilenumfang besagt nichts über den Sachgehalt.

Wenn die Bürgerschaft der Lokalpresse vertraut, unterliegt sie einem Verblendungszusammenhang, den diese selbst hergestellt hat. Auf diesen wird von anderen Medien als ihren mehr oder weniger verbundenen Partnern nicht ohne Not hingewiesen.

Dass Der Spiegel im Ranking abgesackt ist, mag Relotius geschuldet sein. Von der damals angemahnten Grundsatzdiskussion war nichts mehr zu hören. Den anderen ist sie ganz erspart worden. Die politische Klasse wird sie gewiss nicht anregen, ist sie doch zumal im Lokalen mit der Presse im Guten wie im Schlechten treu verbunden.

Nebenbei: DIE ZEIT und die Süddeutsche sind nicht über jeden Zweifel erhaben, aber anders als die öffentlich-rechtlichen Sender auf keine Ausgewogenheit verpflichtet und deshalb unabhängiger und vertrauenswürdiger als diese.

Weiteres zur Wirklichkeit im Zerrspiegel der Lokalpresse:

Altländer Angelegenheiten
Der Kicker aus Stade
Unter Betrügern. Polizei und Presse
Die Zeitung von heute (Februar 2018)
Flüchtling oder nicht? Sprachregelungen
Zeit und Zeitung. Dianetik in Stade
Mordfall Marinowa in Stade
Spießers Denkbilder. Hamburg in der Provinzpresse
Einsickernde Hetze über »Clan-Kriminalität«
Feuerfantasien
Untergangssignale
Silvester an der Breslauer