Das Elend von twitter
Kurz nachdem ich im Januar 2019 einen Account bei twitter erstellt hatte, ließ ich ihn ruhen. Dass der gegenwärtige Präsident der USA sich dort austobte, hatte dem Format Aufschwung verschafft, und alle Welt fühlte und fühlt sich weiterhin berufen, zu allem und jedem seinen Senf dazu zu geben.
Ich war auf twitter verwiesen worden in Zusammenhang mit einem Video, über das ich zufälligerweise mehr wusste als der durchschnittliche Zwitscherer. (→ Das Prügel-Video von Stade) „Bemerkenswert, dass das Video auf facebook gelöscht, hier aber weiterhin verfügbar, obwohl angeblich strafbar ist“, merkte ich an und verwies auf meinen Blog – weil es mit Daumen rauf oder runter nicht getan war, mit Ausrufen für oder gegen irgendwen, wie sie das Format vorsieht.
Ich ignorierte twitter, weil ich auf hingerotzte Meinungen von wem auch immer ohne Verlust verzichten kann. Inzwischen waren es auch die deutschen Medien Leid, jeden Fake des US-Präsidenten zu verbreiten – bis twitter sich selbst wieder ins Gespräch brachte, indem es einen Trump-Tweet mit einem Warnhinweis versah, diese hingerotzte Ansicht könnte vielleicht hingerotzt sein.
Der Präsident schäumte und versucht nun, die Sozialen Medien für das von ihm selbst praktizierte Hinrotzen verantwortlich zu machen. twitter erntet die Früchte, die es selbst gesät hat: dass Meinungen formal so gewichtig daher kommen wie die Mitteilung von Tatsachen.
280 Zeichen entsprechen fünf bis zehn Zeilen in den Zeitungen, für die ich Zeilen geschunden habe, wie man damals sagte, weil sich mein Honorar danach bemaß. „Fasse dich kurz“ stand ehedem auf den → Telefonzellen, als es diese noch gab und die Telekommunikation immer begehrter wurde. Für 280 Zeichen brauchte keine Redaktion einen freien Autor. Die Veranstaltungshinweise, die in den Rahmen passten, schrieb bzw. kopierte sie selbst.
Etwa 20 Zeilen sind das Minimum für die schmächtigste Meldung. Wer je versucht hat, einen Sachverhalt darzustellen, wird bemerkt haben, dass 280 Zeichen dafür nicht reichen. Für Rotze auf twitter genügt es allerdings. Oder für einen Haiku. Die gibt es wohl auf twitter, aber man muss sie suchen.
Das Print-Medium, das für seine Prägnanz berüchtigt ist und manche seiner Geschichten in 20 Zeilen zu verhackstücken versteht, ist die BILD. Bevor ein Stück dieser Länge in die Welt gesetzt wird, muss an den Sätzen gefeilt werden; jeder Buchstabe wird gemeißelt. Mit hingerotzten Tweets ist das schwerlich zu verwechseln.
Ich habe auch einmal für BILD geschrieben und kann die Kunstfertigkeit des Boulevardjournalismus von innen beurteilen. Also schaue ich auf twitter nach, was der aktuelle Chefredakteur des Blatts von sich gibt.
Natürlich keine Haikus, aber auch nichts Kurzes und Treffendes – sondern einen verschwiemelten Sermon, für den ihm 280 Zeichen bei Weitem nicht ausreichen, so dass er seinen Quark in drei Tweets hintereinander ausspuckt. Der BILD-Chef kann sich nicht kurz fassen.
Wenn der einflussreichste Boulevardjournalist mit der Ausübung des eigenen Handwerks überfordert ist, darf vom gemeinen twitter-User nichts Besseres zu erwarten sein als kalte Kotze.
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