Massaker an der Heidebahn 1945

Am späten Abend des 23. Mai 1945 befand sich der frühere Reichsführer-SS, Herr der Konzentrations- und Vernichtungslager und Organisator der nationalsozialistischen Massenmorde auf der letzten Autofahrt seines Lebens.

Nach seiner Verhaftung in Meinstedt bei Zeven am 21. Mai hatte Heinrich Himmler zwei Nächte unerkannt in Bremervörde und Westertimke verbracht, bevor er im britischen Gefangenenlager in Kolkhagen bei Barnstedt identifiziert worden war und nun zur weiteren Untersuchung nach Lüneburg verbracht wurde, wo der Geheimdienst der Briten sein Hauptquartier unterhielt. Dort beendete Himmler kurz nach der Ankunft sein Leben durch eine Phiole mit Blausäure. (→ Himmlers Höllenfahrt)

Himmler fuhr am Gebiet des heutigen „Naturpark Nordheide“, an Hermannsburg, Munster und Winsen/Luhe vorbei. Die vier Geheimdienstoffiziere, die ihn begleiteten, assoziierten mit der Landschaft der „Lueneburg Heath“ vor allem ein Lager. Ihr Passagier war für sie die längste Zeit der „Gestapo Chief“ gewesen, ein Terrorist im Inland. Erst seit der Befreiung von Bergen-Belsen bei Celle am 15. April verbanden sie ihn mit den äußersten Grausamkeiten, zu denen Menschen fähig sind. Die Besatzungssoldaten erlebten das metaphorische Mondland der Heide als realen Höllenpfuhl.

Himmler on the road (Zeichnungen: urian)

In Oświęcim hatte die Rote Armee am 27. Januar ein geräumtes Lager befreit. Gaskammern und Krematorien waren gesprengt worden, die sachlichen Beweismittel für die Verbrechen waren indirekt – wie rund acht Tonnen Haar von 140.000 Frauen. Zunächst war Bergen-Belsen das Synonym für die Gräuel des NS-Regimes, bis es von Auschwitz überlagert und abgelöst wurde.

Unter der Regie der Wehrmacht waren tausende Sowjetsoldaten umgekommen, bevor die SS das Lager übernahm. Sie sperrte zunächst „privilegierte“ Juden ein, die gegen im Ausland inhaftierte Deutsche eingetauscht werden sollten; später kamen „Arbeitsunfähige“ aus anderen Lagern hinzu. Zwei Jahre lang schacherte Himmler mit Häftlingen.

Ein Tausch von „1200 Juden gegen harte Devisen“ aus Theresienstadt kam Hitler zu Ohren. Er hatte den Freikauf Einzelner gestattet, nicht den von Massen. Himmler empfing einen Anschiss – und machte weiter, operierte in größeren Dimensionen und feilschte um Zehntausende.

Er verknüpfte den Häftlingsschacher enger mit den Friedensfühlern, die er zu den Westalliierten ausstreckte. Statt „Blut für Ware“ bot er Geiseln gegen politische Zugeständnisse, gegen sein Überleben an. Als könne er die Gewichte verschieben auf der Waage des „Karma, das für ihn nicht ein unerbittliches Schicksal ist, sondern mit dem er fertig werden und es wenden kann“, wie er seinem Masseur und Intimus Felix Kersten erklärte, den er als Vermittler einsetzte.

Himmler gehorchte Hitler und ließ die Lager räumen und zerstören – bis auf den Turm in seinem diplomatischen Schach, bis auf Bergen-Belsen. Womit seine britischen Bewacher ihn verbanden, berührte ihn nicht. „Was kann ich für die Exzesse meiner Untergebenen?“, erwiderte er dem Kommandanten von Camp Kolkhagen, der ihm Fotos aus dem Lager vorgehalten hatte, während sie auf das Eintreffen des Geheimdienstes aus Lüneburg warteten.

Auschwitz, wo möglichst sauber und ordentlich eliminiert wurde, inspizierte Himmler mehrfach; Bergen-Belsen, wo die Eingepferchten in Blut und Kot verreckten, betrat er nie. Erst mit einem Monat Verzögerung und über Umwege erfuhr er im März 1945 vom Ausbruch einer Typhusepidemie, der täglich Hunderte zum Opfer fielen. Er reagierte mit frommen Wünschen und Weisungen: „Wir können in Deutschland keine Seuchen aufkommen lassen. Die Gefangenen stehen unter meinem besonderen Schutz.“

Abgeschottet gegen die Auswirkungen seiner Anordnungen unterlag er einem grausigen Irrtum, als er meinte, die Übergabe des Lagers würde seinen Kredit bei den Alliierten erhöhen. Er handelte noch mit den Gefangenen, nachdem sie bereits krepiert waren. Sechs Tage nach der Befreiung von Bergen-Belsen rühmte er sich, er habe es „verabredungsgemäß übergeben lassen, ebenso wie Buchenwald“.

Er beklagte den Undank der Feinde: In Bergen-Belsen sei ein Wachposten gefesselt und mit gerade gestorbenen Häftlingen fotografiert worden! Und das Bild ging um die Welt! Genauso in Buchenwald! Nach der Entlassung von 2700 jüdischen Männern, Frauen und Kindern in die Schweiz im März schrieb er für Kersten, der daran mitgewirkt hatte, eine Art Bescheinigung: „Es ist dies praktisch die Fortsetzung des Weges gewesen, den meine Mitarbeiter und ich lange Jahre hindurch konsequent verfolgten, bis der Krieg und die mit ihm einsetzende Unvernunft in der Welt seine Durchführung unmöglich machten.“

Zwischen 1936 und 1940 habe er sich „zusammen mit jüdischen amerikanischen Vereinigungen“ um eine Auswanderungslösung bemüht, was sich „sehr segensreich“ ausgewirkt habe. „Ich habe die Überzeugung, dass unter Ausschaltung von Demagogie und Äußerlichkeiten über alle Gegensätze hinweg und ungeachtet blutigster Wunden auf allen Seiten Weisheit und Logik ebenso sehr zur Herrschaft kommen müssen wie gleichzeitig damit das menschliche Herz und das Wollen zum Helfen.“

Verhaftungen vornehmen zu können war die Basis von Himmlers Macht, Menschenhandel eines seiner Hauptgeschäfte. Es weitete sich aus, je enger sich der Strick um seinen Hals legte. Zentrum des Häftlingsschachers war das „Aufenthaltslager“ in Bergen-Belsen. Dessen Zustand bei der Befreiung – zwischen tausenden verwesender Leichen 50.000 lebende Leichname, von denen noch 14.000 starben – war kein Nebenprodukt des staatlichen Kollaps oder das Werk der „Bestie von Belsen“, des Lagerleiters Josef Kramer, sondern das Erzeugnis der „Klugheit“ Walter Schellenbergs.

Walter Schellenberg (Zeichnung: urian
Lobhudelei über Walter Schellenberg

Der Geheimdienstchef der SS und Himmlers engster Berater pokerte mit Freilassungen um seinen Kopf. Indem die „Verhandlungsmasse“ verschoben wurde, per Bahn oder zu Fuß, heim ins Reich und nach Norddeutschland, von wo sie weiter verladen werden sollte, sorgte Schellenberg für die Überfüllung von Lagern, für Seuchen, Hunger und Massensterben. (→ Stalag X B Sandbostel)

Himmler war sich der Spurrille seiner Verbrechen nicht bewusst, als das er am 23. Mai Wolterdingen passierte, wo ein für Bergen-Belsen bestimmter Zug liegen geblieben war. Die Wärter ließen die 269 Gefangenen nicht frei oder einen „Todesmarsch“ antreten. Sie erschlugen sie mit Holzknüppeln.

Am 18. April hatte Himmler verkündet: „Kein Häftling darf lebend in die Hände des Feindes fallen.“ 631 Tote zählt die Website → KZ-Züge entlang der Strecke der „Heidebahn“: außer denen in Wolterdingen 64 in Handeloh, 156 in → Wintermoor, 62 in Schneverdingen und 80 in Soltau.

Bernadotte und die Weißen Busse (Zeichnung: urian)
Folke Bernadotte und die Weißen Busse

Berühmt wurden die „Weißen Busse“, in denen rund 20.000 Gefangene, die im KZ Neuengamme gesammelt worden waren, zu Schiffen gebracht wurden, auf denen sie nach Skandinavien gelangten. Ihre Freilassung hatte Graf Folke Bernadotte, der Vizepräsident des schwedischen Roten Kreuzes, Himmler abgehandelt, der sich durch diese Geste einen weißen Fuß bei den Westalliierten zu machen versuchte.

Diese Rettung von Geiseln, die bald nach Kriegsende populär wurde, hat die längste Zeit die Massaker überstrahlt, die ebenso eine Folge von Himmlers Häftlingsschacher waren. An etlichen Orten zwischen Hamburg und Bremen konnte das gemeine Volk Zeuge von Todesmärschen oder Hinrichtungen in letzter Stunde werden; mitunter beteiligte es sich daran.

Diese Erfahrung wurde verdrängt. In den offiziellen Aufarbeitungen der Regionalgeschichte des Nationalsozialismus, die seit den 1970ern obligatorisch wurden, kommen sie nicht vor, und wer trotzdem solchen „Verbrechen der Kriegsendphase“ nachforschte, musste mit Behinderungen und Anfeindungen rechnen.

Gegenüber dem Bahnhof von Schneverdingen befindet sich seit März 2019 eine Gedenkstätte für die unbekannten 62 Personen, die an dieser Stelle von ihren Mördern und deren Gehilfen verscharrt worden waren (und inzwischen auf den Neuen Friedhof umgebettet wurden).

Gedenkstätte Bahnhof Schneverdingen (Foto: urian)

Gedenkstätte Bahnhof Schneverdingen (Foto: urian)

Gedenkstätte Bahnhof Schneverdingen (Foto: urian)

Gedenkstätte Bahnhof Schneverdingen (Foto: urian)

Gedenkstätte Bahnhof Schneverdingen

Als ich die Gedenkstätte am 25. Mai 2020 aufsuche, ist sie geschlossen. Zwei der Informationstafeln sind mit Mühe durch das Gitter zu lesen. Am Boden eine Pappe, die für den 8. Mai als Feiertag plädiert.

An Mahnmalen und Feierstunden mangelt es nicht. Aber an die Informationen, mit denen sich Erinnerungen bilden lassen, gelangt man nicht ohne Weiteres.

Jedenfalls nicht am Bahnhof von Schneverdingen, wo das Gedenken förmlich einen Ort hat. Corona ist wohl nicht für die Schließung verantwortlich, sondern die Angst vor Vandalismus, was darauf verweist, wie weit die Geschichte in die Gegenwart reicht.

Literaturhinweise

• Bernadotte, F.: Das Ende, Zürich 1945
• Bernadotte, F.: An Stelle von Waffen, Freiburg i. Br. o. J. (1950)
• Chavkin, B. / A. M. Kalganov (Hg.): Die letzten Tage von Heinrich Himmler, Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 4/2000
• Kersten, F.: Totenkopf und Treue, Hamburg o. J. (1952)
• Nordhoff, U. / R. Otto / P. Reck / A. Staack / J. Wulf (Hg.): Nur Gott der Herr kennt ihre Namen. KZ-Züge auf der Heidebahn, Soltau 1991
• Ruprecht, U.: → Tod im Erkerzimmer, Stader Jahrbuch 2001/2002
• Schellenberg, W.: Aufzeichnungen, Wiesbaden-München 1979
• Witte, P. / S. Tyas: Himmler’s Diary 1945, o. O. 2014