Öffentliche Zerrbilder und Realität im Zwiespalt

Ein Artikel im → Cicero formuliert prägnant die journalistische Seite der Lagerbildung, an der alle öffentlichen Erörterungen kranken, die daher schon nicht den Namen verdienen.

Idealiter ist Journalismus eine Arbeit, die vielfältigste Einblicke in die Wirklichkeit eröffnet. Man begegnet Leuten außerhalb des eigenen Milieus und setzt sich mit vollkommen fremden Gegenständen auseinander. Stattdessen werden Pressekonferenzen besucht und Steckenpferde geritten. Die Wirklichkeit ist meist anderswo.

Seit es sie gibt, beziehen Medien Stellung, um genau damit Umsatz zu generieren. Durch Citizen Kane legendär ist der Zeitungskrieg zwischen Hearst und Pulitzer (→ Ambrose Bierce). Wenn Donald Trump die Branche als Fake-News bezeichnet, ist das keine schlichte Lüge. Wer könnte besser wissen als ein Baulöwe, der Präsident wurde, wie bestechlich die Medien sind?

Im Cicero wird beklagt, wie wenig sich der Journalismus in Deutschland der Wahrheit verpflichtet verhält. Immerhin: außer BILD operiert keines der althergebrachten Medien mit frei erfundenen Kampagnen, wie es die Internet-Publikationen gar nicht mehr anders tun. Die Geschichte des deutschen Journalismus ist nicht die amerikanische. Unter anderem deshalb, weil den Deutschen nach 1945 erst wieder gestattet werden musste, etwas anderes als Lügen und Hetze in Presse, Funk und Film zu verbreiten.

Die öffentlich-rechtlichen Sender sind nicht von ungefähr ein Hauptfeind der Neonazis. Ihrer Reichweite wegen, aber auch, weil einige ihrer Formate sich als stabilisierend für das System erwiesen haben, die verhasste Demokratie. Die Tagesschau ist nach wie vor das Maß aller Dinge.

Längst jedoch haben sich Zeitungsredaktionen und Staatssender zu „Rechercheverbünden“ zusammen getan. Frei erfundene Geschichten und Hetzreden zu veröffentlichen kostet nicht viel, journalistische Arbeit auf jeden Fall mehr. Ist die Bastion, die NDR und Süddeutsche verteidigen, so etwas wie die Wahrheit im Journalismus, ist es um sie in Deutschland anders bestellt als in den USA.

Der inzwischen reguläre Import von gesellschaftlichen Problemen aus Übersee ist umso fataler, als er überwiegend medial geschieht. Die wenigsten Leute, die mir je begegnet sind, hatten eigene und substantielle Erfahrungen mit den USA, aber selbstverständlich hatten sie durch Medien unvergleichlich viel mehr von dort vernommen als etwa über Frankreich, obwohl es in jeder Hinsicht näher steht.

Plötzlich reden alle über Polizeigewalt anhand von ein paar zufällig entstandenen Videos, Journalist*innen eingeschlossen. Polizeigewalt in den USA oder in Deutschland? Oder in Schweden oder in Italien? Alles dasselbe? (→ Wie die Polizeipresse mitteilt)

In diese Stimmung hinein sendet das ZDF Michael Moores Schauergeschichte Fahrenheit 11/9. Was er über eine Stadt namens Flint zu erzählen hat, erinnerte mich unweigerlich an Dashiell Hammetts Red Harvest, in dem die kriminellen Verkuppelungen von Polizei, Presse und Gewerkschaft vom namenlosen Continental OP im Schnelldurchlauf aufgedröselt werden.

In Hammetts Roman wird alle paar Seiten scharf geschossen; kommt offenbar bis heute in der realen USA vor. Allzu viele sind anscheinend von ihren eigenen US-Vergleichen so geblendet, dass sie es kaum erwarten können, dass auch hier die Kugeln fliegen.

Es ist Tradition, dass die Polizei Aufmärsche und Kundgebungen von Neonazis mit geballter Staatsgewalt gegen mutmaßliche Angriffe der Antifa schützt. Was immer dann tatsächlich vorfällt, wird in den käuflichen Medien jedenfalls gehörig aufgeblasen. Von dem, was nicht in den Rahmen passt, erfährt im Zweifel nur ein überschaubarer Kreis.

Das Feindbild war immer klar. Antifa gilt Polizei, Politik und Medien als Speerspitze des Linksextremismus, und der bedeutet für alle, die in den 1970ern bei Bewusstsein waren, Rote Armee Fraktion. Der Terror der RAF hat, → bis auf einmal, das gemeine Volk nicht direkt betroffen, sondern durch jahrelange Angstmache vor allem mit Polizeipräsenz.

Daran erinnert dieser Tage eine Gewerkschaft der Polizei und will offenbar ein Schlachtfeld markieren.

Was Rechtsextremismus genannt wird, um die leibhaftige Erbfolge des Nationalsozialismus zu verschleiern, auf die Linksextremisten sich eben nicht stützen können, der Neonazismus hat seit Ende der 1970er eine ununterbrochene Spur von Bluttaten hinterlassen, die indes von den Sicherheitsbehörden wie von den Medien stets verniedlicht wurde, sofern man sich denn dazu bequemte, sie als solche anzuerkennen.

Es gibt keine einschlägigen Erhebungen, und die verfügbaren Zahlen stammen von der Polizei und müssten mit nicht vorhandenen Zahlen der Gerichte abgeglichen werden. Mein Befund aus Jahrzehnten ist eindeutig: Straftaten der Neonazi-Szene wurden bestmöglichst verschwiegen, oft nicht ausermittelt, und nur ein kleinerer Teil gelangte in die Statistiken.

Fälle, in die das Landeskriminalamt eingeschaltet war, wurden erst Jahre später und eher zufällig bekannt. Sie hatten sich in aller Öffentlichkeit zugetragen, aber wenn die Polizei entschied, nichts mitzuteilen, erfuhr niemand davon, denn die Lokalzeitungen haben sich von den Pressestellen der Behörden abhängig gemacht. Bekommen sie ausnahmsweise etwas mit, über das ihre Kumpel vom Amt nichts vermelden, schweigen sie auch.

Etliche einschlägige Ereignisse gelangten in öffentliche Chroniken, weil ich mich im Amtsgericht herum trieb. Hätten die Angeklagten in der Verhandlung beim Jugendrichter nicht selbst ihre Motive preis gegeben, wäre von Fremdenhass keine Rede gewesen. Der Staatsschutz war nicht involviert. Andere Male entdeckte ich auf den Verfahrenslisten den Namen eines Neonazis. Was er ein paar Monate vorher angestellt hatte, war nirgendwo verzeichnet. Noch eine Straftat, die kein Soziologe oder Politologe je in Betracht nehmen könnte (→ Zog Sux und das Rowdytum)

Durchschnittliche Polizist*innen wissen es nicht besser als die gemeine Bürgerschaft. Wie ihre Vorgesetzten, wie die Staatsanwaltschaft oder ein Gericht mit ihren Einsätzen umgehen, erfahren sie nicht zwangsläufig. Polizist*innen betreten Gerichtssäle nur als Zeug*innen und verlassen ihn dann wieder. Ich könnte die Prozesse aus zehn Jahren an einer Hand zählen, in denen ein*e Polizist*in als Beobachter*in zugegen war.

Von dem Licht, das während einer Beweisaufnahme auf ihre Arbeit fiel, erfuhren sie, wenn überhaupt, indirekt durch die Anklagevertretung. Ich habe mich mit Beamt*innen unterhalten, die über das Vorgehen eines Gerichts so schlecht im Bilde waren wie durchschnittliche Bürger*innen und allzu viele Journalist*innen.

Die Redaktion der GdP-Zeitschrift war in der Lage wie gewöhnliche Medienmacher, die von den Gegenständen, über die sie berichten, nur gerade so viel kennen wie andere, die der Wirklichkeit ebenso fern stehen, darüber mitzuteilen wussten. Auch deshalb wird auf facebook der von ihr beschworene aktuelle Linksextremismus in der Nachfolge der RAF nicht mit einem authentischen Foto illustriert. Das Fahrzeug in Flammen soll auf das Konto pro-russischer Separatisten in der West-Ukraine gehen. (→ Volksverpetzer)

Von einer Redaktion, die an der Quelle sitzt, wäre nicht nur eine unzweifelhaft zuordenbare Illustration zu erwarten, sondern dass es diese von sich aus bezeichnet und es nicht anderen überlässt, herauszufinden, dass sie nichts aus dem eigenen Arbeitsgebiet abbildet. Aber wieso sollte die Pressestelle einer Gewerkschaft sorgfältiger sein als das Gros im Journalismus, das täglich ebenso mit Bildern operiert?

Die Partei der Ordnungshüter ist die AfD. Die größte Tat, für die deren Kreisverband Stade bis dato bei google gewürdigt wird, ist eine Bildmanipulation, die ein Polizist in ihren Reihen ausgeheckt hat, der mutmaßlich von dem, was er zusammen bastelte, vor allem das wusste, was ihm gleichgesinnte Kollegen darüber erzählt hatten.

Er hatte ein Foto aus Griechenland, das dem Copyright unterlag, so manipuliert, dass der Eindruck entstand, seine Berufskollegen seien in der „Heimat“ Angriffen der Antifa schutzlos ausgeliefert. Die „Flyer-Affäre“ ging vor Gericht, weil der Polizist einen Strafbefehl nicht akzeptierte; er verlor und prozessierte weiter auf Parteikosten. (→ Die Flyer-Leier der AfD)

Die Polizeigewerkschaftler, die ich persönlich kennen lernte, waren um die Arbeitsbedingungen besorgt. Sie hatten kein Interesse daran, für politische Kämpfe zu mobilisieren, die diese nicht betrafen.

Der AfD-Polizist hätte beim besten Willen in Jahrzehnten in seinem Wahlbezirk keine Situation erleben können, die der nur annähernd nahe gekommen wäre, die das Foto abbildet, das er für geeignet hielt.

Ich war bei ziemlich allen in Frage kommenden Gelegenheiten zugegen und habe nur ein Foto parat, das die gewünschte Dramatik aufweist. Freilich habe ich einen Tick zu spät die Kamera mit 36 Filmbildern gehoben und auf den Auslöser gedrückt.

Einer von der Antifa liegt am Boden, nachdem ein Neonazi ihn mit einem Plakatträger das Jochbein gebrochen hat. Die schwer gerüstete Polizei, die sich formiert hatte, um gerade das zu verhindern, steht rührungslos daneben. Meine Aufnahme zeigt einen Reporter auf den Schläger zeigen, als wolle er die Polizei auffordern, tätig zu werden. Ein Symbolfoto.

Dass gerade alle Welt über Polizeigewalt reden zu müssen meint, spielt denen in die Hand, die gern mehr davon hätten. Berlin-Neukölln oder das Schanzenviertel in Hamburg, was immer gerade als Klischee im Umlauf ist, Stuttgart ist nicht überall. Es wäre mehr gewonnen, wenn Polizeiarbeit sich überhaupt einmal einer sachgerechten Kritik stellen müsste. Was ich bei Gelegenheit darüber lesen konnte, hatte ich selbst geschrieben. (→ Das Prügelvideo von Stade)

Die Polizei als sakrosankt zu behandeln, unterstützt die in ihren Reihen, die sich für Fantasiebilder vom Bürgerkrieg erwärmen. Dass diese Reihen sich nach Bashing nur fester schließen, versteht sich von selbst.

Das andere Extrem im Umgang mit der Polizei, von dem aktuell Beispiele geliefert werden, ist das Lob für die Ermittler des prädokriminellen Komplexes um Bergisch Gladbach. In der Wirklichkeit der meisten Polizist*innen sind weder Prügelattacken noch Fälle von sexueller Gewalt an Kindern Alltag. Freilich gibt es die Fälle auch, wenn gerade keine Schlagzeile darauf hinweist. Und aus der Nähe sehen sie oft anders aus als in den Medien.

Welche Delikte überhaupt und öffentlich verhandelt werden, hängt von der politischen Lage ab. Lange nichts mehr von Autodiebstahl durch Polen gehört, wie? Was die Bürgerschaft über Kindesmissbrauch erfahren hat in dem Gebiet, über das ich berichtete, kann ich abzählen. Meine Zeilen sind über viele Jahre für die allermeisten Fälle die einzigen. Etwa 200.000 Leute zwischen Hamburg und Bremen, von denen ein paar tausend sich nicht vormachen konnten, das gäbe es nur im Fernsehen und nicht in ihrer Nachbarschaft. (→ Kindesmissbrauch vor Gericht)

Binäre Debatten sind Usus, Frontstellungen gefragt. Und nur, wenn diese sich eröffnen, wird überhaupt hingeschaut. Als in Deutschland das Internet durchstartete, gingen Polizei und Justiz ziemlich bald in die Knie. In den Jahren, in denen ich beobachten konnte, welche neuen Delikte anfielen und welche Probleme ihre Bearbeitung machte, war davon allenfalls sehr gelegentlich in einem überregionalen Medium ein Absatz zu lesen.

Wer sich beklagt, dass die Polizei Anzeigen wegen Hassrede nicht zügig oder gar nicht verfolgt, hat keinen Schimmer von Polizeiarbeit. Mehr Gesetze bringen entweder nichts oder mehr Aufgaben zuzüglich derer, die ohnehin schon nicht erfüllt werden können. Den vernünftigen ihrer Kollegen tut die Gewerkschaft mit Hetze keinen Gefallen.

Ich habe mehr mit Polizist*innen zu tun gehabt als alle anderen, Strafjuristen und einige Kriminelle ausgenommen, mit denen ich sonst zu schaffen hatte. Und ich habe mich ausgiebig mit der Geschichte der Polizei nicht nur in Deutschland, aber vor allem im Nationalsozialismus, befasst. Bei meinem Vergleich hätte ich den Akzent darauf gelegt, wie demokratisch die Polizei cum grano salis ist.

Die Gewerkschaft macht deutlich, wohin sie die Gewichte verschieben will. Wird an den Polizeischulen eigentlich gelehrt, welche Rolle Himmler dem Korps zugewiesen hatte in seinem SS-Machtapparat? Wird auf die Nahtlosigkeit des Übergangs hingewiesen, so dass die Angehörigen der in Nürnberg nicht als verbrecherisch eingestuften Organisation, obwohl an allen Stellen in den Massenmordbetrieb eingebunden, im Polizeidienst weiter machen konnten, auch an den Polizeischulen?

In der Demokratie müsste gerade die Polizei abseits der politischen Fronten agieren. Jeder Versuch, sie in die eine oder andere Richtung zu drängen, sollte strafbar sein.

Die Gewerkschaft heizt die Stimmung an, die der CSU-Innenminister geschürt hat, als er sich in Stuttgart neben einem eigens heran gekarrten abgefackelten Auto ablichten lassen; die Gewerkschaft zeigt die passende Tat dazu.

Eine Inszenierung hier, eine Fälschung dort. Die Wirklichkeit, auch die der Polizei, ist anderswo. Noch.