Fälle aus den Stader Gerichten

„Verbrechen haben immer ihre eigene Geschichte, nur als Geschichte kann man sie verstehbar machen“, stellte der österreichische Gerichtspsychiater Reinhard Haller fest. Ergänzend zu den Betrachtungen über sexuellen Missbrauch von Kindern in → Die Weide des Bürgermeisters sind hier Prozessberichte eingestellt, die ich für Hamburger Abendblatt und Weser Kurier schrieb.

April 2000 ● Amtsgericht Stade

„Ich erinnere mich nicht mehr“, erklärte der Angeklagte, „aber es wird schon so gewesen sein.“ Erich M. hatte sich in 61 Fällen des sexuellen Missbrauchs von Kindern schuldig gemacht. Der bullige Mann mit dem pockennarbigen Gesicht, der 46 Jahre zuvor in Harburg geboren wurde, vergriff sich zwischen März 1998 und Juli 1999 an zwei Jungen.

Erich M. wohnte zur Untermiete in Drochtersen. Etwa einmal die Woche, wenn die Mutter zur Arbeit war, verging er sich an dem damals 13-jährigen Sohn seiner Vermieterin. Nachdem die Tat bereits entdeckt war und gegen ihn ermittelt wurde, missbrauchte M. einen weiteren sechsjährigen Knaben. Sein wenn auch dürftiges Geständnis hat es den Opfern erspart, vor dem Amtsgericht als Zeugen zu erscheinen.

Das Gutachten eines Hamburger Psychiaters eröffnete die Möglichkeit, dass der einschlägig vorbestrafte Erich M. in eine psychiatrische Anstalt eingewiesen werden könnte. Die während einer früheren Haft durchgeführte Therapie war offensichtlich erfolglos. Über die Einweisung aber kann das Amtsgericht nicht entscheiden; es verwies den Fall an das Landgericht.

Bei einer Verhandlung dort, kündigte der Staatsanwalt an, könne man sich nicht mit dem einsilbigen „ich erinnere mich nicht“ des Angeklagten begnügen. Falls Erich M. sich nicht zu einer umfassenden Aussage bereit erklärt, müssten die beiden missbrauchten Jungen doch gehört werden.

Die Verwertung von Videoaufzeichnungen der Aussagen minderjähriger Opfer sexueller Gewalt vor Gericht ist zwar seit 1994 zugelassen, scheiterte aber meist an der fehlenden Ausstattung von Polizei und Justiz. Im vorliegenden Fall bestanden noch Chancen zu einer Absprache zwischen Verteidigung, Nebenklage-Vertretung und Gericht.

Juli 2000 ● Landgericht Stade

„Ich habe ihn geliebt, wie man eine Katze liebt“, beschrieb der Angeklagte sein Verhältnis zu dem inzwischen 14-Jährigen, den er wenigstens 30-mal sexuell missbraucht haben soll. „Das war wie Schokoladeessen“, sagte Erich M. (47) , um zu beschreiben, wie beiläufig er den neben ihm in seinem Himmelbett liegenden Sohn seiner Vermieterin sexuell stimulierte.

„Mir war das schon richtig langweilig, wie Routine“, fuhr Erich M. fort und bestritt, sich dabei selbst befriedigt zu haben, wie der Staatsanwalt ihm vorwirft. Sex habe für ihn keine Bedeutung, „ich bin weder homo- noch heterosexuell“. Seine einzige Beziehung zu einer Frau liegt lange zurück: „Fortpflanzen wollte sie sich nicht mit mir, das war’s dann.“

Warum dann der Missbrauch?, fragte der Vorsitzende Richter immer wieder nach. Vielleicht habe die sexuelle Erregung des Jungen in ihm etwas wie eine Rückkoppelung erzeugt, versuchte der Angeklagte zu erklären. Und sprach dann auch von den Stimmen in seinem Kopf, die er mit Wodka „bis zum Filmriss“ zum Schweigen zu bringen versuche.

Die Mutter sagte aus, sie hatte Verdacht geschöpft und ihren Sohn mehrfach befragt. Der aber habe nichts erzählt und sei weiter zum Angeklagten ins Bett gegangen. So blieb der Missbrauch unentdeckt, bis M. sich an einem weiteren, damals sechsjährigen Jungen vergriff. Auf dessen Zeugenaussage verzichtete das Gericht, während der 14-Jährige unter Ausschluss der Öffentlichkeit gehört wurde. Dem Vernehmen nach gab er eine „deutlich abweichende Darstellung“ der Geschehnisse. Von Geldgeschenken und Drohungen war die Rede.

„Beim nächsten Mal droht Ihnen die Sicherheitsverwahrung“, versprach der Vorsitzende Richter dem Angeklagten. Für diesmal musste Erich M. für drei Jahre und zehn Monate in Haft. M. hat bereits zwei einschlägige Vorstrafen aus 1985 und 1987.

Der medizinische Sachverständige, der sein Gutachten am letzten Verhandlungstag vortrug, diagnostizierte bei Erich M. eine schwere Persönlichkeitsstörung und Alkoholismus. Dass seine „Steuerungsfähigkeit“ zur Tatzeit dadurch eingeschränkt war, konnte der Gutachter aber nicht sicher feststellen. Auf jeden Fall sei M. sich der Unrechtmäßigkeit seines Tuns bewusst gewesen.

Damit gab es für das Gericht keine Möglichkeit, den Angeklagten in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen – wie es sein Verteidiger gern gesehen hätte. Für ihn ist Erich M. „ein kranker Mann, der dringend der Hilfe bedarf“. Der Strafvollzug habe ihn schon zweimal nicht bessern können.

Zugunsten des Angeklagten wertete das Gericht, dass der missbrauchte 13-Jährige sich durch Geldgeschenke habe „verführen lassen“, ihm immer wieder zu Willen zu sein. Auch auf Nachfragen seiner Mutter hatte er über die Vorfälle geschwiegen. Bis der Sechsjährige, an dem M. sich vergriff, sich seiner Mutter offenbarte.

Nachdem das Urteil bereits gesprochen war, bestritt Erich M. nochmals, dass er dem Jungen Gewalt angedroht habe, wie dieser behauptet hatte. Bis zum Strafantritt ist M. auf freiem Fuß: Wiederholu­­ngsgefahr besteht nach Ansicht des Gerichts nicht. Jedenfalls nicht bei den Jungen, für deren Missbrauch er diesmal verurteilt wurde.

März 2001 ● Landgericht Stade

„Ja, es wird schon so gewesen sein“, sagte der große und weißhaarige 61-jährige Mann auf der Anklagebank des Stader Landgerichts. Die Vorsitzende Richterin hatte gerade das polizeiliche Protokoll der Aussage von Melanie vorgelesen. Darin beschreibt die mittlerweile 25-Jährige, wie sie vor zwölf Jahren von ihrem damaligen Stiefvater Heinz D. sexuell missbraucht wurde. Weil der Angeklagte bereits im Vorfeld des Prozesses alle Vorwürfe eingeräumt hatte, musste die junge Frau ihre Aussage nicht vor Gericht wiederholen.

Mit vier Kindern wohnte das Ehepaar D. in ihrem Eigenheim in Tostedt. Heinz D. hatte einen Sohn, seine Frau einen Sohn und eine Tochter mit in die Ehe gebracht, und schließlich bekamen sie noch eine gemeinsame Tochter. Als die Mutter zu Nachtschichten in einer Fabrik arbeiten ging, machte sich Heinz D. an seine 13-jährige Stieftochter Melanie heran. „Hast du nicht Lust, einen Film zu sehen?“, fragte er sie zunächst; es war ein Porno. Beim nächsten Mal streichelte er sie, als sie in ihrem Bett lag.

Allmählich schüchterte er das Mädchen ein. Wenn das herauskommt, drohte er, lassen die Eltern sich scheiden, kommen die Kinder in ein Heim. Außerdem werde er sagen, sie habe ihn verführt. Melanie hatte vor allem Angst, das Pferd, das sie pflegte, zu verlieren.

Der nächste Schritt: Sie musste ihn mit der Hand befriedigen. Dann, irgendwann 1988, fragte er: „Wollen wir es nicht mal probieren?“ Er „vollzog den Beischlaf mit ihr“, wie es im Gerichtsdeutsch heißt. „Er kam immer dann zu mir, wenn er irgendwie Druck hatte“, erinnert sich Melanie an diese Monate der Angst. Ein, zwei Mal die Woche, immer wenn Mutter außer Haus war, musste sie dem Stiefvater zu Willen sein.

Eines Abends übernachtete die Freundin Stephanie bei Melanie. Heinz D. wurde auch bei ihr handgreiflich, die daraufhin entsetzt auf die Straße lief. Danach vertraute sich Melanie ihr an, und Stephanie erzählte alles ihrer Mutter. Die wiederum stellte Melanies Mutter zur Rede. Sie hatte wohl einmal mitbekommen, dass ihr Mann und ihre Tochter ein gemeinsames Bad nahmen. Wenn sie einen Verdacht hegte, reagierte sie zu dem Zeitpunkt jedenfalls nicht. Erst nach der Entlarvung durch Stephanie ließ Heinz D. von der Stieftochter ab.

Zwischen sechs Monaten und zehn Jahren liegt das Strafmaß für Heinz D.s Taten. Er war nicht vorbestraft, er war geständig, und die Tat lag bereits ein Jahrzehnt zurück. Daher bekan Heinz D. ein mildes Urteil: Zwei Jahre Haft auf Bewährung und als „Denkzettel“ eine Geldauflage von 1200 Mark für den Arbeitslosen.

Mai 2001 ● Amtsgericht Stade

„Irgendetwas wird gewesen sein.“ Diese dürftige Erkenntnis stand am Ende der Beweisaufnahme. Irgendwann, vermutlich 1997, hatte der angeklagte 36-jährige Schlosser aus Grünendeich die Tochter seiner damaligen Lebensgefährtin „unsittlich berührt“. Vom genauen Tatzeitpunkt hing ab, ob es sich um ein Verbrechen oder Vergehen handelte. War das Mädchen schon 14?

Erst ein Jahr vorher kam der Vorfall zur Anzeige – im Zusammenhang mit einer mutmaßlichen Entführung des Mädchens durch den Schlosser. Zwei weitere Male hatte sich die Polizei mit dem inzwischen 17-jährigen Mädchen beschäftigt. Einmal hatte sie behauptet, von 13 Männern auf einem Dachboden vergewaltigt worden zu sein. Ein Geschlechtsakt hatte auch stattgefunden, aber nur mit einem Mann und nicht unter Gewaltandrohung. Und dann kursierten Aktfotos von ihr, die angeblich der Schlosser gemacht haben sollte. Sie waren als Doppelbelichtung auf den Fotos einer Geburtstagsfeier entdeckt worden.

Von der Vernehmung des Mädchens wurde die Öffentlichkeit ausgeschlossen. Die angeklagten Berührungen habe sie als „nicht so starken Übergriff“ empfunden, schien es dem Gericht nachher. Auf die Aussage ihrer 16-jährigen Stiefschwester, der gemeinsamen Tochter des Schlossers mit ihrer Mutter, sollte schon verzichtet werden. Aber die wollte unbedingt aussagen.

Sie hatte bis vor kurzem bei ihrem Vater gelebt – und war freiwillig in ein Heim gezogen. Offenbar weil der Vater sie missbraucht haben sollte. Das Gericht fragte nicht genauer nach. Eine konkret erhobene Beschuldigung würde die Staatsanwaltschaft zu Ermittlungen zwingen. Man wollte dem Mädchen die Möglichkeit geben, sich vorher klar zu werden, welche Unannehmlichkeiten eine Anzeige und die anschließenden Befragungen für sie selbst bedeuten.

Weil nicht mehr als ein „Irgendetwas“ heraus zu bekommen war, wurde das Verfahren gegen eine dem Einkommen des Angeklagten entsprechende Geldauflage von 600 Mark eingestellt.

April 2002 ● Landgericht Stade

Drei Mal hatte Andre G. (39) im Herbst 1999 zunächst auf der Wingst und dann in Lamstedt seinen damals neunjährigen Stiefsohn Jan zum Analverkehr gezwungen. G. war seit 15 Jahren HIV-positiv. Nur einem glücklichen Zufall war es zu verdanken, dass er sein Opfer nicht infizierte. So weit war der Fall klar, Andre G. legte vor dem Gericht ein Geständnis ab. Aber dass es erst jetzt zum Prozess kam, belegte ein eklatantes Versagen des Jugendamts des Landkreises Cuxhaven.

Im Januar 2000 hatte der bisexuelle Andre G. einer Freundin die Vergewaltigungen offenbart. Sie setzte ihn unter Druck, und noch am selben Tag informierte G. telefonisch eine Mitarbeiterin des Jugendamtes. Dort hatte man bereits Kontakt mit der Lebensgefährtin von G. gehabt, weil sie mit der Erziehung ihres Sohnes überfordert war. Das Amt reagierte umgehend und brachte Jan in einem Heim unter. Damit aber hatte es sich. Vergeblich wartete Andre G. auf die Polizei. Schließlich, mehr als ein Jahr später, zeigte er sich selbst an.

Als Zeugin vor Gericht blieb die Mitarbeiterin des Jugendamtes eine plausible Begründung schuldig, warum die Polizei nicht eingeschaltet wurde, nachdem die Vergewaltigungen bekannt geworden waren. Das tue man in ihrem Amt „nicht grundsätzlich“, sagte sie, „wir warten erst noch ab.“

Der Fall habe ihn „völlig verwirrt“, erklärte ein Psychologieprofessor von der Uni Bielefeld, „so etwas habe ich noch nicht erlebt“. Er wurde im Januar 2001 vom Jugendamt beigezogen, um die „Erziehungsfähigkeit“ von Jans Mutter zu begutachten, die gerade ein weiteres Kind geboren hatte. In diesem Zusammenhang führte er ein Gespräch mit Jan. „Ich war unglaublich betroffen über die Art, wie mit dem Kind umgegangen worden war“, sagte der Gutachter aus.

Das Jugendamt hatte nicht, wie in solchen Fällen üblich, das missbrauchte Kind psychiatrisch untersuchen lassen, und es bekam auch keinerlei therapeutische Hilfe: „Das war unverantwortlich“, empörte sich der Bielefelder Hochschullehrer. In dem Heim in Neuhaus/Oste, wo er ihn besuchte, sei Jan „wie ein Tier aufbewahrt“ worden. Sein mit Kot beschmiertes Zimmer, in dem er nur „gelagert“ wurde, sei „eine Katastrophe“ gewesen: „So etwas kennt man sonst nur aus Rumänien“.

„Berührend“ aber fand der Psychologe auch, dass das missbrauchte Kind weiterhin an seinem Peiniger hing. Lange vor den Vergewaltigungen sei Jan „ein gebrochenes Kind“ gewesen, dem ausgerechnet der Stiefvater Stabilität habe geben können. Verblüfft habe ihn, führte der Psychologe weiter aus, dass sich „der Täter als direkter, offener als die Mutter“ erwiesen habe. Die Mutter zeige eine „extreme Form der Verleugnung.“ Sie stellte den Missbrauch in Abrede und heiratete Andre G., nachdem dieser sich bereits zu seinen Taten bekannt hatte.

Bei der Abwägung, wie die Allgemeinheit am besten vor dem Angeklagten zu schützen sei, ob durch Haft oder Therapie, entschied das Gericht, Andre G. eine Chance zu geben. Nur, wenn er den Alkoholentzug und eine stationäre Psychotherapie nicht erfolgreich abschließt, muss er für zwei Jahre ins Gefängnis.

Der strafrechtlich bisher unauffällige G. sei „kein Triebtäter“. Die sexuellen Attacken auf den Stiefsohn seien als Demütigung und Bestrafung zu verstehen, mit denen der Angeklagte wiederholte, was er selbst als Kind im Heim erlebt hatte. „Eine so katastrophale Lebensgeschichte habe ich noch nicht gehört“, bemerkte der Vorsitzende Richter. Andre G. machte seinen Stiefsohn für die Frühgeburt und den Tod einer Tochter seiner Lebensgefährtin verantwortlich, weil der Junge der Schwangeren in den Bauch getreten habe.

Zu Gute gehalten wurde G., dass der Prozess nur stattfand, weil er sich selbst angezeigt hatte. Dass das Jugendamt in Cuxhaven es mehr als ein Jahr lang unterließ, die Polizei einzuschalten, rechtfertigte der verantwortliche Kreisrat mit Datenschutzgründen. Mit seinem Verhalten, hob das Gericht hervor, habe Andre G. dem Kind weitere Traumatisierungen ersparen wollen.

Mai 2005 ● Landgericht Stade

Wegen sexuellen Missbrauchs an Kindern in zwölf Fällen wurde ein 23-Jähriger zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Außerdem musste sich der psychisch schwer gestörte Mann einer Therapie unterziehen. Mit seinem Geständnis hatte er den Kindern die Aussage erspart.

Die Strafe am „absolut untersten Maß“ begründete das Gericht mit den besonderen Umständen der Tat. Es handele sich um eine „tragische Konstellation“. Die beiden zehnjährigen Kinder fanden bei dem arbeitslosen Stader die „Geborgenheit und Zuwendung“, die ihnen zu Hause fehlte. Sie hätten die sexuellen Handlungen, die mit ihnen vorgenommen wurden, quasi als Gegenleistung für Fernsehkonsum und Videospiele verstanden.

Der Nachbar habe keine Gewalt angewendet und nie gedroht, so dass sie acht Monate lang immer wieder zu ihm gekommen seien. Ein Gutachten hatte dem Verurteilen eine „günstige Sozialprognose“ gestellt. „Die Situation wird sich nicht wiederholen“, glaubte das Gericht.

Dezember 2005 ● Landgericht Stade

Der Angeklagte gab sich ungerührt und einsilbig: „Da ist gar nichts von wahr an der ganzen Geschichte.“ Der in Cuxhaven lebende 41-jährige Seemann Ernst Hermann G. musste sich für den zweifachen sexuellen Missbrauch und die dreimalige Vergewaltigung einer 14-Jährigen verantworten. „Wenn da was dran ist, kommt eine erhebliche Strafe auf Sie zu, die Sie nur durch ein Geständnis abmildern können“, machte der Vorsitzende Richter dem Angeklagten deutlich. Ernst G. blieb dabei: „Ich verstehe nicht, was so was überhaupt soll.“

Zur Tatzeit lebte G. mit seiner damaligen Lebensgefährtin und ihren drei Kindern in Nordholz. Eines Tages im Juli 1999, als er mit der ältesten Tochter allein zu Haus war, kam es zum ersten Übergriff: „Die Duschtür ging auf, und er stand vor mir, splitterfasernackt“, sagte die 20-jährige Nicol aus. Erst seifte er sie ein, dann er zwang er sie, dasselbe mit ihm zu tun. „Stell dich doch nicht so an, schließlich spart das Wasser, wenn man zu zweit duscht“, soll Ernst G. auf ihre Weigerung erwidert haben.

Nach Verlassen des Badezimmers habe G. Nicol gepackt, um ihr zu zeigen, „was ein Zungenkuss ist“. Schon vorher soll Ernst G. anzügliche Bemerkungen über Brust und Hintern des pubertierenden Mädchens gemacht haben. Die 43-jährige Mutter sagte aus, sie hätte ihren Freund mehrfach dabei erwischt, wie er sich im Bad aufhielt, während die Tochter duschte.

„Mir ist das Schlimmste passiert, was mir passieren kann“, erklärte Nicol und berichtete von den drei Vergewaltigungen, die im Abstand weniger Wochen folgten. Wortlos sei der Angeklagte über sie hergefallen: zwei Mal auf einer Bank im Esszimmer und einmal im Türrahmen zur Küche. Ihr Wehren und Schreien habe Ernst G. nur knapp kommentiert: „Stell dich nicht so pingelig an.“

Sie habe zunächst Angst gehabt, niemand würde ihr glauben und deshalb monatelang geschwiegen, sagte Nicol. Am 1. Mai 2000 offenbarte sie sich doch ihrer Mutter. Die stellte ihren Lebensgefährten umgehend zur Rede. Und Ernst G. rastete aus. „Wie ein Stier ging er auf meine Tochter los“, beschrieb die Mutter dem Gericht den Gewaltexzess des Betrunkenen. Er habe Nicol von Zimmer zu Zimmer geprügelt. „Dann setzte er sich auf sie und schlug ihren Kopf immer wieder auf den Boden.“

Als der kleine Sohn die Polizei alarmieren wollte, habe G. auch ihn so heftig geschlagen, dass er mit dem Kopf an die Wand prallte. Die Kinder konnten endlich zu den Nachbarn fliehen. Unterdessen habe Ernst G. die Mutter mit einem Messer verfolgt. Die Frau war gerade mit einer Tochter schwanger von ihm. Das Eintreffen ihres Bruders verhinderte Schlimmeres.

Nach seinem Rauswurf habe Ernst G. die Familie terrorisiert, sagte die Mutter aus. Mehrfach sei er ins Haus eingebrochen oder habe am Telefon Drohungen ausgestoßen: „Ich komme gleich und bringe euch um.“ Aus Angst habe man die Anzeige der Vergewaltigungen zurückziehen wollen und eine Mitarbeiterin des Jugendamtes angelogen, die Vorwürfe seien falsch.

Nach ihrem 18. Geburtstag und bestärkt durch ihren Freund rang Nicol sich im Dezember 2003 dazu durch, gegen ihren Peiniger vorzugehen. Im Gerichtssaal zeigte sie sich entschlossen, den Mann, den sie einmal „Papa“ nannte, für das büßen zu lassen, was er ihr angetan haben soll. Sie litt seither an Albträumen und Essstörungen.

Nach der Urteilsverkündung wurde Ernst G. noch im Gerichtssaal verhaftet. Weil G. als Seemann arbeitete und über keinerlei familiäre Bindungen verfügte, bestand nach Ansicht der 1. großen Strafkammer die Gefahr, dass er sich seiner Strafe von sechseinhalb Jahren Haft durch Flucht entzöge.

„Sie hatten die Chance, die Früchte eines Geständnisses zu ernten“, erinnerte der Vorsitzende Richter den Verurteilten. G. blieb dabei, die Anklagevorwürfe rundweg zu leugnen und als aus Rache erfundene Lügengeschichte zu erklären. „Ich habe selten eine so tief verletzte und dabei so willensstarke Geschädigte erlebt“, befand die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. Mit seinem Urteil ging das Gericht noch um ein halbes Jahr über den Strafantrag der Anklagevertreterin hinaus. Dass G. bei der dritten Vergewaltigung kein Kondom benutzte, wurde ihm strafverschärfend angerechnet.

Jahre lang hatte die junge Frau das Erlebte mit sich herumgetragen, bis sie sich zur Anzeige entschloss. Damit habe „sie sich selbst am meisten Leid angetan“, hob die Staatsanwältin hervor. Ein Motiv für die vom Angeklagten und seinem Verteidiger behauptete Rache sei überhaupt nicht zu erkennen. Unter der Anspannung des Prozesses hatte die junge Frau am Tag vor der Urteilsverkündung einen Kreislaufkollaps erlitten.

Nach eingehender Prüfung stufte eine Sachverständige die Angaben der jungen Frau „aus aussagepsychologischer Sicht als glaubhaft“ ein. Auf die Frage: „Könnte diese Zeugin diese Aussage auch machen, wenn sie nichts Entsprechendes erlebt hat?“, lautete die Antwort der Gutachterin eindeutig Nein. Sie beschrieb das Geschehen als „absolut delikttypischen Fall innerfamiliären Missbrauchs“: Beginnend mit anzüglichen Bemerkungen über die Reife des pubertierenden Mädchens, steigerte es sich zu Berührungen von Brust und Po und gipfelte schließlich in den Vergewaltigungen.

Einige „Unstimmigkeiten und Unschärfen“ der Aussage, in denen der Verteidiger Argumente für begründeten Zweifel zu erkennen meinte, seien im Gegenteil „nur natürlich“. Auch dadurch, dass die Anzeige erst sechs Jahre später erfolgt sei, werde die Aussage keineswegs entwertet. Gerade weil es kindlichen Opfern sexueller Straftaten so schwer fällt, sich zu offenbaren, beginnt die zehnjährige Verjährungsfrist ausdrücklich erst mit Erreichen der Volljährigkeit.

In seinem Plädoyer für Freispruch hatte der Verteidiger argumentiert, mit der Anklage sei „aus einer Mücke ein Elefant gemacht“ worden. Vielleicht habe Ernst G. das Mädchen „angegrabscht“, aber die Vergewaltigungen seien erfunden. Dem widersprach das Gericht: „Wir glauben der Geschädigten an allen Punkten.“ Sie sei „ein gebrochenes junges Mädchen, dessen Zukunft Sie zerstört haben“, schrieb der Vorsitzende Richter Ernst G. ins Stammbuch.

Siehe auch

Kinderfalle auf Achse. Begehung, Aufklärung und Wirkung zweier Kindermorde in Niederdeutschland 2004/05

Pitavalgeschichten. Eine Übersicht
Kriminalgeschichten