Begehung, Aufklärung und Wirkung zweier Kindermorde in Niederdeutschland 2004/05
»die Leichenöffnung seines Lasters« (Schiller)
Wolf vor Gericht
»Alles in allem habe ich wohl zwei oder drei Jahre in meinem Wagen verbracht«, schätzte der Angeklagte im Gespräch mit dem psychologischen Gutachter; einmal sei er 20 Stunden am Stück auf Achse gewesen. An Bord eine Anlage für CB-Funk.
Was sein Rufzeichen war, welche Musik er hörte wurde im Mai und Juni 2005 in der Hauptverhandlung gegen den Mann mit dem Allerweltsnamen nicht erörtert. Das »Tatwerkzeug Auto« kam nur in Betracht, so weit es ausgestattet war mit Kabelbinder, Kondom, gummierten Handschuhen: Gegenständen im Zusammenhang mit dem angeklagten Missbrauch und der Ermordung zweier Kinder.
Seit er 1992 den Führerschein erwarb, raste er umher. Fuhr gleich sechs Autos zu Klump. Setzte sie bevorzugt gegen Bäume, weil er halsbrecherisch die Kurven anschnitt. Der Fahrzwang wurde auffällig. Vorwürfe der Ehefrau wegen seiner Nachtfahrten verhallten.
Weiß er selbst, wo er herum kurvt? Das »Bewegungsbild«, das die Polizei auf der Suche nach weiteren Taten zu erstellen versucht, ist ein Albtraum.
Wie in schlechter Reklame war das Auto für ihn Inbegriff von Freiheit. Er, den seine Mutter als Kind nicht ohne Aufsicht über die Straße ließ, machte die Straßen unsicher.
War es, womit die Werbung sein letztes Fahrzeug, den Honda Accord, ein Allerweltsauto, anpreist: »die pure Lust am Cruisen«? Er faselte auf Nachfrage etwas von »Angst vor geschlossenen Räumen«; eher wohl vor unbewegten Räumen.
Eingekapselt in die blecherne Monade, ein rollendes Heim, jagte er mit im anonymen Verkehrsstrom: »Um die Zeit totzuschlagen«.
Die Sachverständigen geben vor Gericht nicht an, wann genau und wie sich während seiner Touren die Fantasien entwickelten, deren Verwirklichung ihn mit 31 Jahren zur Hauptfigur einer Cause Célèbre machten, die ein Jahr lang die Öffentlichkeit in Norddeutschland fesselte.
Im Gerichtssaal schweigt der Angeklagte. Nur einmal lässt der beleibte Mann seine dünne, hohe Stimme hören: »irgendwas mit Hauptstraße, ich weiß jetzt nicht« und »acht Häuser« als Antworten auf die Freundin seiner Mutter, die ihn vom Zeugenstand aus immer wieder direkt anspricht, bis er nicht mehr kann und auf ihre Frage nach der Adresse einer Bekannten erwidert.
Starr aufrecht sitzend hält er Stunde um Stunde der acht Verhandlungstage eine Hand vor den Mund. Die Anmutung von konzentrierter Aufmerksamkeit ist eine Maske, hinter der er verschwindet. Was er zu sagen hätte, wird als Zitat aus seinen Vernehmungen und Begutachtungen in den Prozess eingeführt: Allerweltssätze, die nichts erklären. Vielleicht begreift der Angeklagte am wenigsten von seinen Taten.
Betrüger und Hochstapler mögen in ihren Prozessen so redselig sein wie sonst; wort- und aufschlussreiche Bekenntnisse von Straftätern, Selbsterklärungen von Mördern sind kriminologische Schätze. Selbst ein Literat wie Jack Unterweger hat zu der Mordserie an Prostituierten, die ihm zuletzt zur Last gelegt wurden, geschwiegen und sich selbst die Luft abgedreht.
Der stereotype Vorwurfston der Medien gegenüber schweigenden Straftätern geht ins Leere. Wären sie imstande, sich in Worten auszudrücken, hätten sich ihre Taten oft erübrigt.

Im Gespräch mit dem psychiatrischen Gutachter, berichtete dieser im Schwurgerichtssaal zu Stade, platzte der Angeklagte geradezu heraus mit »intimen Dingen«, die ihm gar nicht peinlich schienen.
Drei Jahre Therapie, dann Entlassung, so stellte er es sich vor und markierte »geisteskrank« mit einem dürftigen Repertoire an Gemeinplätzen: »Hämmern im Kopf und Herzklopfen«, »wie im Wahn«, »wie in Trance«, »wie hypnotisiert«. Keine schwere Störung, diagnostizierte der Psychiater ohne Umstände.
Der Angeklagte verfüge über »kein hohes Maß an Empathie«, erklärte ein anderer Sachverständiger. Hielt inne und ergänzte: »Wenn er sensibel und einfühlsam wäre, wäre es nicht zu diesen Taten gekommen.«
Er hat keine mitfühlende Seele. Nichts Besonderes also. Die Medien verbreiten den Begriff wie eine Neuigkeit, wie den Schlüssel zu den Taten. »Mangelnde Empathie« wird zum Lösungswort im kriminalistischen Kreuzworträtsel, gezeichnet nach bewährten Muster.
»Fette Bestie« hat ihn die BILD getauft. Bezeichnenderes ist keinem eingefallen. Ein Verbrecher mit Dutzendgesicht. Eine Durchschnittsgestalt, ein Allerweltsmensch.
Erfolglos stellten seine Anwälte ihn als Opfer der eigenen Familie, einer »schweren Kindheit« dar. Was ihm Sonderlingshaftes anhaftet ist kein Sonderfall in einer Single-Gesellschaft. »Dominante« Mütter haben auch andere, haben als Kinder Tiere gequält, spielen Panzerschlachten am PC.
Er habe als Kind viel mit Tod zu tun gehabt, ließ er wissen; kein Zeuge erinnerte mehr als das übliche Maß an Beerdigungen.
Er hat mal Arbeit, mal keine, immerhin eine Berufsausbildung. Er kriegt es irgendwie hin, für Ehefrau und zehnjährige Tochter zu sorgen. Mutter und Großmutter regieren in sein Leben – nichts Unerhörtes; auch nicht in der Summe.
Sein beruflicher Traum erfüllte sich nicht. Er scheiterte beim Rettungshelfer-Lehrgang im Theoretischen. Statt als eilender Lebensretter ist er als Mörder unterwegs. Er hatte die Wahl.
Er wusste, was es bedeutet, von einer Tat zurückzutreten. Früh erprobte er die Macht im Auto mit Anhalterinnen. Aus dem Panzer heraus konnte er Frauen ansprechen.
1994, mit 20, strich er derart in seinem Jeep Suzuki durch die nächtlichen Straßen um das heimatliche Attendorn im Sauerland zwischen Hagen und Siegen. Nahm ein Pärchen mit, 16 beide, setzte erst den Jungen ab, bevor er mit dem Mädchen in einen Waldweg abbog und sie vergewaltigte. Er ließ ab, als sie sagte: »ich bin 15 und noch Jungfrau«. Und brachte sie nach Hause.
Und fuhr trotz der folgenden Jugendstrafe auf Bewährung, seiner einzigen Vorstrafe, fort. Überfiel eine betrunkene Anhalterin. Entkleidete sie. Zog sich zurück, als sie erwachte. Weil sie wach war. Er warf sie nackt auf die Straße. Lange grämte er sich ihretwegen, schaute in den Zeitungen nach Berichten von einer Erfrorenen.
Von mehreren Fällen weiß man nur durch ihn: von betrunkenen Anhalterinnen, 26 und 32 Jahre alt, von Handschellen und Fluchten in nächtlichen Wäldern. Wegen eines Vorfalls in der Nähe von Debstedt (Kreis Cuxhaven), bei dem eine 17-Jährige mehr Widerstand leistete als er zu brechen vermochte, wurde 2000 ergebnislos gegen ihn ermittelt.
Wie oft er Frauen am Straßenrand auflas, sich allerhand ausmalte, aber nichts ausführte, ist unbekannt. Er ließ sich leicht abschrecken.
Hatten seine Streifzüge keine gefahrlos erscheinende Gelegenheit ergeben, kehrte er auf dem Straßenstrich in Bremerhaven ein. Fast täglich, sagt er, war er wenigstens auf Stippvisite dort, wo die Lust, die er sich vorstellt, jederzeit verfügbar ist – freilich nur gegen mehr Geld, als er schließlich aufzubringen vermag.
1995 war er der Mutter an die Nordseeküste gefolgt. Die Verpflanzung verwand er nicht. Zu den Kreisen, die er auf Landstraßen und Autobahnen drehte, kreuz und quer zwischen Bremen und Hamburg, kamen die Wiederholungen alter Routen, fuhr er heim ins Sauerland.
Er ging schließlich als Tod auf Tour, indem er auf Opfer verfiel, dessen Gegenwehr er nicht zu achten brauchte. Mit denen er seine schauerlichsten Erfahrungen unternahm.
Das Verschwinden des achtjährigen Mädchens Levke aus Cuxhaven-Altenwalde am Donnerstag, 6. Mai 2004, gegen 12.30 Uhr löste monatelange Suchaktionen in beispiellosem Umfang aus. »Kein Mensch, kein Kind kann unbemerkt von öffentlicher Straße verschwinden«, gibt sich der Hauptsachbearbeiter der Sonderkommission noch vor Gericht überzeugt.
Das Mädchen verschwindet
Das Mädchen schaute seiner Freundin hinterher. Dann kramte es nach dem Hausschlüssel. Es hätte ihn auf Anhieb finden sollen. Er war nicht, wo er sein sollte. Das Mädchen kramte weiter, obwohl es bereits wusste: Der Schlüssel war überhaupt nicht da. Vergessen!
Das Mädchen war stolz gewesen, die Zeit zwischen seiner und seines Vaters Heimkehr allein bewältigen zu können. Wie hieß noch mal das Wort, das die Eltern benutzten? »Verantwortung«. Was wird Mutter sagen!
Das Mädchen stöberte weiter, der Schlüssel war wirklich nicht da. Es schob seine Brille mit dem Zeigefinger auf dem Nasenrücken hoch. Wie viele Minuten noch?
An diesem Tag war für das Mädchen die Schule um Viertel nach zwölf aus gewesen. Eine Freundin hatte es nach Hause begleitet.
Das Mädchen wohnte nicht im tiefen dunklen Wald. Nur der Name des Stadtteils von Cuxhaven, der Kleinstadt an der Elbmündung, in dem das Elternhaus des Kindes lag – Altenwalde – bewahrte die Erinnerung an den Urwald, der die norddeutsche Tiefebene einst bedeckte.
Einige Generationen her, nach dem Dreißigjährigen Krieg, war »Wolfszeit« zwischen Elbe und Weser. Die Rudel »folgten der Trommel« und ernährten sich von den Leichen auf den Schlachtfeldern oder verendeten Pferden aus dem Heerestross. Im Zusammenbruch der Zivilisation, in verwüsteten Dörfern und Städten breitete sich der graue Räuber aus. Ein Jahrhundert lang herrschte Isegrimm im Wald und auf den Feldern.
Das Mädchen wusste nichts von Wölfen oder allenfalls aus dem Fernsehen; es lebte in dem, was als stabile Zivilisation gelten konnte.
»Erst ein paar Wochen vorher hatten wir darüber gesprochen, dass sie mit niemand mitfährt ohne Absprache, auch nicht mit Bekannten wie dem Großvater einer Schulfreundin«, erinnerte sich die Mutter ein Jahr später im Gerichtssaal. Die Eltern wollten immer wissen, wo ihr Kind war; eine Autofahrt barg ein Risiko, auch wenn man dem Fahrer größtes Vertrauen schenkte.
Auf der kürzesten Strecke konnte ein Unfall passieren, an dem derjenige, dem man sein Kind in Obhut gegeben hatte, vollkommen unschuldig wäre. Rettungswagen, Notarzt – das Kind wäre verschwunden und man wüsste nicht einmal, dass man die Krankenhäuser abtelefonieren sollte – bloß weil es mit einem Freund des Hauses eine Fahrt von wenigen Minuten unternommen hatte.
Zur Schule und zurück hatte das Mädchen nur einen kurzen Fußweg in nächster Nachbarschaft zu bewältigen, und zwar zu einer Zeit, wenn andere Kinder und Eltern ebenfalls unterwegs waren. Hätte es ihr Sicherheitsgefühl merklich erhöht, die Eltern würden das Mädchen mit dem Auto bringen und abholen; sie würden Protestaktionen unterstützen, wenn ihren Kindern zugemutet würde, einen Bus zu besteigen, um eine höhere Schule zu besuchen.
Die Eltern des Mädchens waren weder überängstlich oder überfürsorglich, vielmehr gut organisiert, Eventualitäten einkalkuliert.
»Wir haben uns für sie entschieden«, begann die Mutter im Gerichtssaal ihren Rückblick auf das geraubte Leben des Kindes. Ein zehnjähriger Sohn und eine weitere Tochter von zwölf Jahren vervollständigten das Familien-Gebäude.
»Wir haben uns vor zwei Jahren das Haus gekauft«, fuhr die Mutter fort und verglich ihre Familie mit einem ausbalancierten Mobile. Ein beliebter Zierrat im windigen Norden. Das bewegliche, aber untereinander verankerte Gebilde, das in allem Hin- und Hergeschaukel die Grundform bewahrt, markierte Heimat.
Beide Eltern waren berufstätig, anders ließ sich der Haushalt mit einer überdurchschnittlichen Anzahl Kinder nicht finanzieren. Der Familienalltag war so abgestimmt, dass die Jüngste nicht länger als ein paar Minuten allein zu Hause war. Als die Achtjährige sich am Donnerstag auf den Heimweg von der Schule machte, war der Vater schon unterwegs zu ihr.
Das Mädchen war auf dem Weg nicht allein, es hatte einen Hausschlüssel, es würde nur einen Moment lang den Blicken ihrer Schulfreundin, der Nachbarn, der Geschwister, der Eltern entzogen sein. Nur ein Lidschlag, in dem keine Gardine beiseite geschoben wurde; ein Augenaufschlag lang, in dem niemand, der in seinem Vorgarten harkte, das Mädchen bemerkte; wenige Minuten, in denen vielleicht nur ein Auto die Straße durchfuhr.
Die Freundin verabschiedete sich an der Straße vor dem Haus, sie musste zügig nach Hause, sonst würde ihre Mutter sich sorgen, wo sie so lange bliebe. Nachbarn bemerkten das blonde Kind mit der Brille, das seinen Schlüssel vergessen hatte, noch gegen halb eins wartend vor der Haustür.
Das Haus war teilweise Baustelle, über Gerüsten knatterten Plastikplanen. Das Mädchen wartete nicht lange. Als der Vater eintraf, war es fort. 20 Minuten ohne Zeugen für die Vorkommnisse auf der Straße vor dem Einfamilienhaus.
Die Polizei leitete unverzüglich maximale Suchmaßnahmen ein. Kinder verschwinden allenthalben, mit mehr oder weniger großem Aufsehen, aber sobald ihr Verschwinden bemerkt wird, kennen die Ordnungskräfte nichts Ernsteres. Oft genug wird das Kind rasch im engeren Radius um das Elternhaus entdeckt.
Während des Prozesses verschwand in der Nachbarstadt des Gerichtsorts ein zweijähriger Junge spätabends von einer Hochzeitsfeier. Plötzlich war er fort. Ältere Polizisten ahnten etwas, Ähnliches hatte sich an gleicher Stelle schon einmal zugetragen: Das Kind war in den Fluss gerutscht; die Überreste trieben Jahre später an.
Trotz größtmöglichen Aufwandes, verstärkt noch durch das Medieninteresse – die Kamerateams, die vor dem Gerichtsgebäude lauerten, nahmen die passende Geschichte gleich mit – entdeckten Wassersportler den Leichnam des Zweijährigen, diesmal nach wenigen Tagen, durch Zufall außerhalb des Suchradius.
»Wenn ich heute einen Hubschrauber höre«, sagte die Mutter unterdessen im Gerichtssaal, »ist der Sechste Fünfte da.«
Binnen eines Tages war die ganze Region involviert: Die Suche schränkte den Autoverkehr zwischen Bremen und Hamburg ein; die durch Kontrollen entstehenden Staus drückten über Umleitungen in sonst ruhige Nebenstraßen. Die Fahndung fand vor der Haustür statt. Ab Freitag wurde das Schlimmste wahrscheinlicher, die Suche zur Treibjagd.
»Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens trug das Mädchen nach offiziellen Angaben der Polizei eine blaue Jacke mit roten Streifen, eine bordeauxfarbene Cordhose, hellblaue Schuhe und ein helles T-Shirt. Es hatte eine Schultasche mit Pferdemotiv und eine lila Sporttasche bei sich. Das Mädchen ist ca. 1,20 Meter groß und wirkt nach ihrem äußeren Erscheinen wie eine 12-Jährige. Sie hat schulterlange blonde Haare und trägt eine Brille.«
Als die Medien noch Beschreibungen verbreiten, waren Jacke, Ranzen und Tasche bereits gefunden. Spaziergänger entdeckten sie auf einem Parkplatz im Wald zwischen Flögeln und Fickmühlen, knapp 30 Kilometer von Altenwalde entfernt.
Eine südliche Route, rechnete die Polizei für den Täter aus, nach Bremerhaven oder Bremervörde, aber ebenso gut nach Bremen oder Hamburg … Von Cuxhaven in der äußerst nördlichen Ecke, wo nur Küste ist, war das kaum anders zu erwarten, da sich nun bestätigt, dass ein Fremder als Täter in Frage kommt.
Die familiären Verhältnisse hatten die ersten Vermutungen, die polizeiliche Routine eingibt, umgehend ausgeschlossen. Mögliche Täter in der näheren Nachbarschaft kamen nie so weit ins Visier der Behörden, dass die Medien es für erwähnenswert hielten. Früh deutete alles auf einen wandernden Wolf hin.
Die Suchmaßnahmen wurden vervielfacht und verstetigt. Hunderte Beamte von Polizei und Bundesgrenzschutz, Feuerwehr und DLRG, Mitarbeiter der Straßenmeistereien, Nachbarn, Freunde und Mitschüler, die ganze Region hielt nach dem Mädchen Ausschau, noch in der Hoffnung, es verstört aber unversehrt zu entdecken.
Spürhunde, Hubschrauber, Reiterstaffeln. Mit Wärmebildkameras wurden entlegene Winkel eines Truppenübungsplatzes inspiziert, ein Areal von 2500 Hektar, durchzogen von 40 Kilometern Straßen Meter für Meter abgesucht. Woche um Woche neue Suchgebiete. Taucher stiegen in Teiche, Seen und Flüsse, deren Ufer mit dem Auto erreichbar sind.
Die nach kurzer Zeit auf 46 Beamte aufgestockte Sonderkommission der Kriminalpolizei ließ Plakate und Flugblätter anfertigen und verteilen. Virtuell breitete sich die Fahndung über ganz Deutschland aus.
Vom ersten Tag an ergriff sie einen weiten Umkreis mit ungewohnter Unmittelbarkeit. Die Polizei gab sich selten und geradezu aufdringlich medienfreundlich; sie lieferte selbst Fotos aus ihren Büros und von ihren Aktionen, stand für jede Kamera und jedes Interview bereit.
Niemand entging dem Mädchen. Sein Name, sein Bild, die Umstände seines Verschwindens, so weit sie bekannt gegeben wurden, jede Spur, die veröffentlicht wurde, jede Bierdose, die ein Hinweis sein könnte, wurde auf allen zugänglichen Wegen über Wochen präsentiert.
Das Mädchen prangte auf jedem Bahnhof als Plakat, das Mädchen erschien in E-Mails, die Familie des Mädchens und die Sonderkommission, die seinen Namen trug, unterhielten im Internet Homepages.
Für Norddeutschland war dieses Verschwinden der erste Fall, der das Internet in den Kreis der Öffentlichkeit ganz einbezog. Über private E-Mail-Verteiler erreichten Zeugenaufrufe Hunderttausende, gar Millionen von Empfängern; Tausende posteten Bemerkungen in Foren, von »Todesstrafe für Kinderschänder« bis zu Beileidsbekundungen für die Eltern.
Die spärlichen Informationen, die sonst kaum über ein paar Zeitungen und Fernsehbilder hinausgelangt wären, schwollen im elektronischen Datennetz zur Flut an – der nur unterbrochen wurde von den Berichten über die einheimischen Opfer eines Tsunamis, der die Urlauberparadiese im Fernen Osten überrollte.
In der Kirche von Altenwalde wurde am Sonntag ein Gottesdienst abgehalten, an dem die Eltern des Mädchens teilnahmen. »Dabei wurde deutlich«, schrieben die Cuxhavener Nachrichten, »dass die Bewohner des ganzen Ortes in der Stunde der seelischen Not und Verzweiflung enger zusammenrücken. In der voll besetzten Kreuzkirche brachten die Menschen dies durch bewegende Gesten zum Ausdruck; die Gottesdienstbesucher fassten sich an den Händen und versicherten sich stumm der Solidarität.«
Den Medien zufolge bestimmten »Angst und Verunsicherung« den Alltag in Altenwalde. Eltern ließen ihre Kinder nicht mehr allein, fuhren sie im Auto zur Schule und holten sie ab, ließen sie nicht mehr aus den Augen und vor die Tür.
Der Schwarze Mann selbst war wohl längst fort, sein Schatten aber wurde immer länger. Kinder, die sonst nichts von der Bedrohung bemerkt hätten, wurden nun wirklich verstört.
Was der Schwarze Mann nicht geschafft hätte, vollbrachten die Medien, voran das Fernsehen, das sich mit seinen Kameras gierig ins Getriebe stürzte und Aufregung aller Art herzhaft schürte. »Kamerateams auf der Jagd nach Interviews von Mitschülern sollen die Situation an der Altenwalder Schule gestern noch verschlimmert haben«, vermerkte die Lokalzeitung vorsichtig. Sechs Teams nahmen auf, wie Schülerinnen und Schüler in Altenwalde Flugblätter verteilten.
Die Bezirksregierung in Lüneburg setzte eine Belohnung von 5000 Euro »für den Fall aus, dass eine Straftat vorliegt und zur Aufklärung führende Hinweise eingehen«. Die Suchaktionen begannen, sich im Kreis zu drehen. Etliche potenzielle Tatorte wurden mehrfach durchforscht, vor allem das Waldgebiet und die Seen um den Parkplatz bei Flögeln. Wo die Habseligkeiten des Mädchens gelegen hatten, könnte es selbst am ehesten verborgen sein, hoffte man.
Ein Wochenende lang durchforsteten 260 Soldaten, Jäger und andere Freiwillige nördlich der Autobahn 1 eine Fläche von mehreren tausend Quadratkilometern mit über 700 Jagdrevieren. Für die Eventualität relevanter Entdeckungen stand die Kriminalpolizei mit Hubschrauber, Spürhunden und Spurenteams in Bereitschaft. Die Intensität der Suche hielt bis Anfang Juli an.
Mitte Juni hatte sich die Polizei so eindringlich wie verzweifelt zum wiederholten Mal an die Masse des Publikums gewandt: »Von besonderem Interesse ist weiterhin das Geschehen von 12.30 bis 13 Uhr im Karkweg«, wurde verlautet.
»In bisherigen Gesprächen haben Anwohner oft Scheu gezeigt, sich ›wichtig zu machen‹ – hätten sie doch ihrer Ansicht nach gar nichts Wichtiges oder Außergewöhnliches gesehen. Doch selbst Alltagsbeobachtungen könnten einen wichtigen Beitrag zur Ermittlungsarbeit darstellen. Wer am 6. Mai bis 14 Uhr oder an einem der Vortage im Karkweg oder in einer der benachbarten Seitenstraßen war, wird gebeten, sich mit der Polizei in Verbindung zu setzen, ebenso alle, die bereits befragt wurden und denen doch noch etwas eingefallen ist.«
Hatte jemand aus Unachtsamkeit, Angst, aus Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit geschwiegen und immer wieder den Zeitpunkt verpasst, sich mitzuteilen? Wie eine dermaßen öffentliche Fahndung überflüssige und unsinnige »Hinweise« aufwühlt, kann sie jemand, der eine bedeutsame Mitteilung zu machen hätte, verschrecken. Das immer greller werdende Rampenlicht, das auf prominente Verbrechen fällt, lockt die einen an, die einen Meineid nicht scheuen, um eine kurze Weile auf dem Bildschirm zu baden, während andere, die nur beiläufig etwas gesehen oder gehört haben, davor scheuen, sich diesem Getriebe anzuvertrauen.
Tote auf Touren
Der Wolf aus dem Straßendschungel schlug am hellichten Tag zu. Für Norddeutschland war es das Jahr des Kindermörders. Erschüttert wurde das Sicherheitsgefühl auf dem platten Land.
Manche schließen ihr Auto vor der Haustür nicht ab, so sicher glauben sie sich. Um das Kind sorglos ein paar Kilometer weit zur Freundin, zur Schule schicken zu können, war man aus den Großstädten hinaus gezogen.
Eine Illusion, betonen Kriminologen. Die soziale Kontrolle ist nur scheinbar engmaschiger. Im weiten leeren Land, wo jeder jeden kennt, fällt ein fremdes Auto sofort auf – aber kümmert es auch wen?
Der Waldparkplatz bei Flögeln, auf dem Jacke, Ranzen und Tasche des Mädchens gefunden worden waren, wurde mit einer Kamera überwacht. Im Juni zeichnete sie drei Mal einen dunkelblauen Honda Accord auf, Kennzeichen »HB N – 9543«.
Die Polizei sah erst Monate später hin. Sie suchte vorrangig einen BMW mit fremdem, ausgerechnet Siegburger Kennzeichen, der vor der Schule von Altenwalde aufgefallen war.
»Die sieht aus wie du damals«, entfuhr es einer Hausfrau im Sauerland vor dem Fernseher. Sie hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, denn an das Thema zu rühren, brachte ihre Tochter ansatzlos in Rage und an den Rand des Zusammenbruchs. Eine weit offene Wunde, die nie behandelt worden war.
Vieles erinnerte die Hausfrau an diese alte Schuld. Sie hatte keine stichhaltigen Gründe, die sie beim Anblick des Mädchens aus Cuxhaven an ihre Tochter und im nächsten Gang an den Nachbarsjungen, den Sohn ihrer besten Freundin, denken ließen.
Aber die »Ahnung« peinigte sie. Bald darauf, bei nächster Gelegenheit, auf einem Fest, vertraute sie sich einem ihr bekannten Polizisten an. Er meldete ihre »Ahnung« weiter, sie kam in die Akten: Spur 2481.
Am 11. Mai waren 100 Spuren und Hinweise aus der Bevölkerung gezählt worden; am nächsten Tag waren es schon 200. Und so ging es weiter: 250 am 13. Mai; 26. Mai: 900; 1. Juni: mehr als 1000; 30. August: 2500; 6. September: 2800 Spuren.
Am 5. Juli durchkämmte die Polizei noch einmal das Flögelner Holz. Dann verdrängten andere Katastrophen, wirkliche und virtuelle, die auftraten und vorbeizogen, das Mädchen aus dem Blickpunkt der Welt. Die Sonderkommission arbeitete die Spuren ab.
Bis ein Pilzsammler in einem Wald an einer Straße am Biggesee bei Attendorn am 23. August verstreute Teile eines kindlichen Skeletts und Kleiderfetzen entdeckte. Für die Polizei vertiefte sich die Siegburger BMW-Spur.
Anfang September gingen zwei Hinweise ein aus dem näheren Umfeld des Angeklagten auf diesen als potenziellen Täter oder jemand, der etwas zur Aufklärung beitragen könne. Die Tippgeber konnten nur eine »Ahnung« geltend machen, ein intuitives Erkennen des Tatmusters.
Drei Mal klingelte die Polizei im Oktober bei dem Verdächtigen. Er war nicht da oder machte nicht auf, war gerade auf Tour.
Am Samstag, 30. Oktober 2004, gegen 16.15 Uhr wurde der achtjährige Junge Felix von einem Waldparkplatz bei Heinschenwalde verschleppt. Adelina, Dennis: Namen, die für verschwundene und ermordete Kinder in der Elbe-Weser-Region stehen, ungeklärte Fälle, für die der Angeklagte ins Gespräch gekommen ist.
Ulrike, Christina: zwei Mädchen, die 1996 und 1998 im Oldenburgischen ermordet wurden. Auch dieser Täter kein Außenseiter, selbst Familienvater. Das Tatwerkzeug: ein Auto – jedoch eine niedrigere Frequenz der Fahrten. Man wohnt, wo niemand hinkommt, der keinen kennt, der hier wohnt. Doch die Abgeschiedenheit ist relativ.
Kein Täter im Fall Felix. Keine verwertbare Spur. Keine Verbindung zum Fall des Mädchens.
Unterdessen rückte Spur 2481 aus der Akte des Mädchens in der Bearbeitung durch die Soko voran. Der Rest war Routine.
Am 7. Dezember unternahmen zwei Kommissare mit dem Verdächtigen eine Autofahrt von Bremerhaven nach Attendorn. Ungefragt gab er an, sich im August an der Auffindestelle der Leiche des Mädchens aufgehalten zu haben, »was zunächst einmal etwas merkwürdig erschien« und die Polizisten aufhorchen ließ. Er habe einen »Wildunfall« gehabt an der Stelle, sagte er.
Keine Spuren davon an seinem Wagen. Der Unfallort, den der Verdächtige den Beamten wies, lag nur wenige Meter vom Leichenfundort entfernt. Im Honda wurden Abklebungen vorgenommen, die Wohnung des Verdächtigen wurde durchsucht, sein Alibi taugte nichts: er gestand.
Nach einem Streit mit seiner getrennt lebenden Ehefrau war er am 6. Mai auf Tour gegangen. Altenwalde liegt einen Katzensprung über die Autobahn von Bremerhaven entfernt, in der Nachbarschaft. Fünf, sechs Mal sei er an dem Mädchen vorbei gefahren, bevor er es angesprochen habe. Er lockte es ins Auto, indem er es verängstigte: Der Mutter sei ein Unglück zugestoßen.
Und weiter ging die Fahrt. Warum gerade dieses Mädchen? Keine Antwort dazu vom Angeklagten. Nur Zufall. Kein besonderes Kriterium. Es war einfach da.
Er preschte über die Autobahn Richtung Süden. Fuhr ab, kreuzte über die Dörfer. Der Honda parkte auf einem »Feld- oder Waldweg«, dem Tatort des sexuellen Missbrauchs. Er übte Macht aus, er masturbierte. Und setzte sich wieder in Bewegung.
Über das Maß der Gewaltanwendung gaben die sterblichen Überreste der Opfer keine Auskunft. Dem Psychiater gegenüber behauptete der Angeklagte, sie hätten sich «nicht so viel gewehrt«, alles wäre «ohne Widerstand«, »ohne großen Widerstand« verlaufen, das heißt, eigentlich habe er »aufs Wehren nicht geachtet«.
»Und der Fehler eben, von den Kindern eben, die waren eben ruhig. Ich konnte nicht mehr klar denken, was ich da wirklich tue, und die haben mich einfach nicht abgelenkt, verstehen Sie, die haben mich nicht ablenken können, weil dadurch, dass sie eben nichts gesagt haben.«
Unter dem Vorwand, ihr eine Kette umlegen zu wollen, erdrosselte er das Mädchen auf einem »Feld- oder Waldweg« bei Neuenwalde mit einem bereit liegenden Kabelbinder. Er warf die Brille des Mädchens in den Wald und legte die Leiche in den Kofferraum.
Ein paar Autominuten später deponierte er sie zum ersten Mal. Anschließend warf er die Jacke, Ranzen und Sporttasche des Mädchens auf dem nahen Waldparkplatz bei Flögeln fort.
Er fuhr nach Hause, zu seiner Tochter. Am nächsten Tag kehrte er wieder. Legte die Leiche in den Kofferraum. Passierte den Waldparkplatz, den die Polizei inzwischen abgesperrt hatte. Er will kontrolliert worden sein, gab er zu Protokoll; »Gute Fahrt« habe ihm eine Polizistin gewünscht.
Zurück nach Bremerhaven. Das Kind im Kofferraum wartete vor der Tür, bis er am Abend erneut mit ihm aufbrach, heim nach Attendorn, in einen Wald entlang einer Straße, in dem er sich seit Kindertagen auskannte. Er versteckte die Leiche ein paar Meter tief im Unterholz.
Zurück in Bremerhaven hatte er keine Ruhe. Abermals 400 Kilometer nach Attendorn, wo er die Leiche tiefer ins Unterholz zog.
»Hat er Ihnen etwas dazu erzählt, was er gedacht hat?«, fragte der Vorsitzende Richter den Polizisten, der die Aussage referierte, aber keine Antwort hatte. Um den 20. August herum, wenige Tage, bevor es entdeckt wurde, hielt der Angeklagte Nachschau beim toten Kind.
Felix ist mit dem Fahrrad unterwegs, an einer regelmäßig befahrenen Straße. Er wird auf einem Parkplatz abgepasst und ins Auto gezerrt. Mit ihm wird ähnlich wie mit dem Mädchen verfahren.
Ein wie beiläufiger Missbrauch auf einem »Feld- oder Waldweg«, diesmal jedoch nach langem Warten auf Dunkelheit und sofort gefolgt vom Erwürgen mit bloßer Hand. Der Tatort bei Debstedt war als solcher bereits vertraut.
Noch eine Irrfahrt mit der Leiche im Kofferraum. Vielmehr eine Tour Sentimentale, über Bremerhaven nach Attendorn. Den Jungen wollte er zunächst vergraben. Er machte Zwischenstation bei seiner Tochter, bevor er das Sauerland ansteuerte.
Das Eingraben misslang, »zu dicke Wurzeln«, er nahm die Leiche mit, um sie am nächsten Tag in einem Wald beim Mordort einzugraben. Kam zurück, grub sie wieder aus, versenkte sie schließlich zum Bündel verschnürt im Fluss Geeste.
Mit beiden Leichen war er jeweils zwei Tage lang beschäftigt und fuhr hunderte von Kilometern mit ihnen, beim Jungen eine Runde mehr.
Strecke aus Leichen
Ein Ermittler nannte es vor Gericht einen »Gedankenfehler«, dass sie sich nicht den streunenden Fahrer vorstellten, sondern jemandem, der »einen Grund« hatte, die in Frage kommenden Strecken zu benutzen; lange und groß im Visier stand daher der Handelsreisende im Siegburger BMW.
Der Sprung über die Geschlechtergrenze bei den Opfern irritierte außerdem, man glaubte an zwei Täter. Der Täter war auch nicht pädophil. Er war wahllos.
Die Ermordung des Jungen und den Ablageort der Leiche gestand der Angeklagte einem Betrüger, mit dem er 33 Tage lang in Untersuchungshaft die Zelle teilte, sowie seinen Anwälten im Januar 2005.

Dem Mitgefangenen erzählte er, einmal in Fahrt, noch mehr: zwei Kindermorde in Ostdeutschland, an einer 86-jährigen Frau und einem »Tippelbruder«. Nicht alles, was der Mitgefangene gehört hatte, durfte im Prozess verlautet werden. Weil die Medien »in einer nicht zu rechtfertigenden Weise Kritik geübt« hätten, verweigerte die Polizei bald jede Aussage.
Das Auto blieb Beweismittel. Die Kinderfalle jedenfalls war unschädlich gemacht, bevor sie wieder zuschnappen konnte. Ob der Angeklagte ein Serien- oder Massenmörder ist, ein Hannibal Lecter, als der er sich dem Psychiater gegenüber gerierte, oder ein Aufschneider – stand dahin.
Eine mögliche Antwort gab der Knastgenosse. Ob er keine Angst vor ihm in einer gemeinsamen Zelle gehabt habe? »Der traut sich nur bei Kindern oder mit einer Waffe«.
Markierung für Gefahr war im Gerichtssaal die Glaswand, die Publikum von Prozessbeteiligten trennte. Zur Sicherheit des Angeklagten – nicht etwa vor den Eltern des ermordeten Mädchens, die sich mit ihm innerhalb des Käfigs befanden, sondern vor anonymen Attentätern oder dem geballten Volkszorn, der Wächter und Brüstung, die sonst nur zugegen wären, überwände. Sonderbare »Bestie«, die in einem Käfig geschützt werden musste.
Die Glaswand wurde vom Justizministerium den Gerichtsorten, die ihrer bedürfen, zur Verfügung gestellt. Ein mobiler Schutzpanzer, wie einst die hannoversche Regierung eine Guillotine anschaffte, die von einem Exekutionsort zum anderen wanderte. (→ Der Kopf ging nicht ab)
In den Medien machte man viel Aufhebens davon, dass die Eltern des ermordeten Mädchens dem Täter Auge in Auge gegenüber saßen und fantasierte dazu einiges, wie dieser Blickkontakt sich gestaltete.
Der Platz der Eltern war mein Stammplatz in diesem Saal, den ich kaum einmal wegen ähnlichen Andrangs räumen musste; meine Notizbücher sind voller Skizzen der Köpfe von Angeklagten aus den sich bietenden Perspektiven. Verbleibt der Angeklagte wie in diesem Verfahren hinter der Balustrade der Arme-Sünder-Bank und darf nicht neben seinem Anwalt Platz nehmen, wäre es schwierig, von dort aus mit ihm Blickkontakt aufzunehmen, von dem während der meisten Zeit nur der Scheitel des gesenkten Kopfes sich über die Balustrade erhob, falls er nicht ganz von den vor ihm sitzenden Verteidigern verdeckt wurde.
Die geänderte Sitzordnung verschaffte mir bessere Sicht auf seine Mienen, und, nachdem er bemerkt hatte, dass ich seine Züge aufzeichnete, zwei oder drei Blicke, in denen ich nicht mehr erkannte als die verkrampfte Gleichgültigkeit, mit der er die Stunden im Gerichtssaal zu überstehen entschlossen war.
Das Straftheater des Prozesses erlaubt viele Variationen; bei einem Bühnenbild mit Panzerglaswand und Kamerablitzen war nicht mehr zu erwarten als Prangergehabe und Selbstdarstellungen. In strafrechtlich vergleichbaren Verfahren ohne jedweden Medienandrang können aus schweigenden Angeklagten redselige werden, ändern Verteidiger und Staatsanwälte ihre Strategien, wenn es der Sache dient, sagen Zeugen Sachverhalte aus, die ihnen selbst unbewusst waren, kann die Untersuchung eines Verbrechens eine Wahrheit erkunden, die über die individuelle Tat hinausweist.
Sie habe im Gericht keine Antworten erhalten, beschwerte sich die Reporterin einer großen Zeitung nach dem ersten Verhandlungstag, als hätte an diesem bereits das Urteil gefällt werden sollen: »Nicht auf das Warum. Nicht auf das Wer-noch. Nur auf das Wie. Aber das wollte man lieber gar nicht wissen«, schloss sie, stellvertretend für das Gros ihrer Kollegen.
»Warum?« fragte das Pappschild, das ein junger Mann am ersten Prozesstag vor dem Gerichtsgebäude in die dankbaren Fernsehkameras hielt, weil es ein Schild war. Die Schwurgerichtskammer gab in ihrem Urteil über lebenslange Haft plus »besonderer Schwere der Schuld« keine Antwort. Sie entschied, wie mit dem Angeklagten weiter verfahren werden sollte.
Die Antwort auf das Warum, die der Angeklagte seiner Mutter gegeben haben soll, umfasst alles in finsterster Gleichgültigkeit: »Das hat sich so ergeben.« Oder gegenüber dem Zellengenossen: »Es kam auf einmal über mich.«
Das Grauen kommt mit gewöhnlichem Gesicht daher, als Allerweltstäter. Eine Art Automatikgetriebe glitt in immer höhere Gänge. Die bedrückend triviale Bilanz zog jemand, der die Akten kannte und als Quelle nicht namentlich zitiert werden darf, bereits vor Prozessbeginn: »So sind die Menschen.«

Der junge Mann vorm Gericht hielt noch andere Pappschilder hoch, darunter »Höchststrafe«. Eine Neonazi-Partei war zwei Mal da und rief, was sie dafür hielt. Die Todesstrafe wurde in den Medien nur einmal laut, als Zitat aus dem Gerichtssaal: »Eine gerechte Strafe wird es nicht geben«, sagte die Mutter des ermordeten Mädchens, »denn er lebt weiter, und sie nicht.« Ihr wird man diese Auffassung von Gerechtigkeit nachsehen.
In Internet-Foren überbot man sich bei detaillierten Beschreibungen der Foltern, die man dem Angeklagten antun möchte, bevor man ihn umbringt. Ist nicht die höchste Strafe, als Marc H. leben zu müssen?

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Siehe auch
→ Die Weide des Bürgermeisters. Missbrauch zwischen Justiz und Medien in Fällen aus Stade, Harsefeld und Buxtehude
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Weitere Kriminalgeschichten vom 16. bis 21. Jahrhundert siehe im Menü »Gerichtsgeschichten« oder die Linksammlung am Schluss von → Pitavalgeschichten. Eine Übersicht sowie → Kriminalgeschichten
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