Scientology in Stade im Blick des Lokalanzeigers und ein Rückblick an selber Stelle
Im Bild: »Dianetik«-Stände im Winter und Frühjahr 2018 in der Holzstraße in Stade.
Aufmerksame Leser des Stader Tageblatt wissen längst, dass sich die Redaktion in einem Zustand zwischen schein- und hirntot befindet (metaphorisch gesprochen; ich bin kein Mediziner [besser sagt man das heutigen Tags dazu, wo Satire zwar angeblich alles darf – nur Böhmermann nicht, dem Rechtsstaat sei Dank – aber sonst jeder beim Wort genommen werden soll und will]).
Aktuelles Beispiel: ein Bericht, der online folgendermaßen aufgemacht wird: »Kleine Hefte mit dem Titel ›Fakten über Drogen‹ sind am Wochenende an Haushalte in Horneburg verteilt worden. Dahinter verbirgt sich eine Scientology-Tarnorganisation, die unter dem Deckmantel von Drogenaufklärung versucht, neue Sektenmitglieder zu rekrutieren.«
Die Religion des Science-Fiction-Autors L. Ron Hubbard, deren prominenteste Anhänger die Hollywood-Größen Tom Cruise und John Travolta sind, gilt hierzulande als verfassungsfeindlich und wurde in den 1990ern von den Medien gründlich durchleuchtet. (Habe selbst mal am Steindamm in Hamburg »observiert«, wo sie ihr Hauptquartier hatten, bis sie es vergrößert an prominentere Stelle verlegten, und bei Sektierern auf dem Sofa gesessen.) Seither ist es ziemlich still um sie geworden.
Die druckfrische Skandalisierung ihrer Aktivitäten im Lokalanzeiger ist an Lächerlichkeit nicht zu überbieten. Würden die Damen und Herren Redakteur/innen nicht bloß mit dem Auto von Termin zu Termin rasen oder Pressemitteilungen kopieren, sondern den Alltag in ihrer Umgebung wahrnehmen, hätten sie bemerkt, dass die Sekte seit Jahren mit Genehmigung des Ordnungsamtes ganz ohne Tarnung in der Fußgängerzone der Inneren Stadt von Stade »versucht, neue Sektenmitglieder zu rekrutieren«.
Ich kann mich hier, über ein indigniertes Kopfschütteln hinaus, mit dem Verweis auf meine vor zwei Monaten veröffentlichten Betrachtungen beschränken: → Alltagsanordnungen.
Eine heute aktuelle Geschichte müsste sich statt mit einer einzelnen Flugblatt-Aktion mit der begründeten Vermutung verstärkter Scientology-Aktivitäten im Stader Sektor beschäftigen. Quod errat demonstrandum machen sie inzwischen so viel her, dass die Schnarchnasen (metaphorisch wie oben) im Käseblatt es riechen.
Provinzialität heißt auch im Internet-Zeitalter, dass die Nachrichten, die in Stade förmlich verbreitet werden, stets von frühestens vorgestern sind.

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Wo ich bei Zeit und Zeitung bin: besagtes Blatt begeht das 20-Jährige seines Einstiegs ins Internet mit einer »Chronik« der abgelaufenen Ereignisse.
Mehr als Stichworte sind in der Online-Ausgabe nicht im Angebot. Wenn das alles sein soll, was den Namen nach, zwei Redakteure verbrochen haben, kann ich mich nur wundern. Dergleichen Chroniken habe ich etliche Male angefertigt (auch ohne Computer, in Papier-Archiven, und unter Termindruck) und solo Substantielleres zusammen gebracht. Wahrscheinlich erklärt sich die Dürftigkeit der Texte damit, dass sie nur das Archiv des eigenen Blatts durchgesehen, Zeilen angeklickt und kopiert haben.
Darin besteht der grundsätzliche Mangel dieser und ähnlicher Chroniken. Sie wiederholen nur, was ehedem aktuell war – oft ohne Rücksicht darauf, was davon längst nicht mehr als wahr gelten kann, was sachlich überholt ist, wie die Geschichte weiter gegangen ist, etc.; ohne Rücksicht darauf, ob Leser, die von dem Ereignis nie gehört haben, diese Veränderungen kennen oder einschätzen können.
Solche Chroniken sind keine »Rückblicke«, als die sie sich ausgeben. Dann müssten sie die Ereignisse aus heutiger Sicht beschreiben und dem, was sich seither in der Wahrnehmung geändert hat, Rechnung tragen. (Für eine Zeitung, die seit dem Kaiserreich die Stimme ihrer jeweiligen Herren ist, eine freilich unlösbare Aufgabe.)
Mehrfach sind Ereignisse, die in der Tageblatt-Chronik den Jahren hervorgehoben zugeordnet werden, solche, mit denen ich selbst publizistisch befasst war. Da stellt sich mir die Frage der jeweils zugemessenen Relevanz – zumal, wenn es sich um Kriminalgeschichten handelt.
Gerade weil das eines meiner Metiers ist, bin ich vorsichtig damit, die Wirkung auf das öffentliche Bewusstsein zu überschätzen. Gehört haben alle von den Geschehnissen, aber für daran beteiligte Journalisten waren sie unvergleichlich einprägsamer, als für gemeine Bürger, die nach kurzer Zeit das eine nicht von dem anderen Verbrechen unterscheiden können und sich die abgekürzten Namen kaum merken. »Maskenmann«, das bleibt hängen; bei der Zahl der Morde wird es schwieriger.
»2004 – Das Jahr, in dem ein Tsunami 230.000 Tote fordert« wird in der Tageblatt-Chronik lokal durch den Prozess gegen einen Kindermörder repräsentiert, der 2005 stattfand. Ausschlag gebend dafür war, dass dies allerdings der erste Prozess war, in dem der Gerichtsort in einen dauerhaften medialen Ausnahmezustand geriet.
Ich schreibe ausdrücklich »Gerichtsort«, weil bis dahin statt gehabte Medienaufläufe außerhalb der näheren Umgebung des Justizgebäudes kaum wahrgenommen wurden. Nach höchstens ein paar Stunden war alles vorbei. (Wenn das TV einen Wirtschaftsverbrecher filmte, war außer mir keiner sonst zugegen. [→ Wirtschaftsverbrechen vor Gericht]) Diesmal lungerten Kamerateams acht Tage lang in den Gassen herum, während bildlos verhandelt wurde; es gab Aufläufe und angemeldete Demonstrationen.
Bemerkenswerterweise unerwähnt bleibt in der Chronik, wie die Kindermorde selbst lange vor Prozessbeginn auf das öffentliche Bewusstsein einwirkten. In einem Rückblick auf das bisherige Internet-Zeitalter wäre gerade das herauszustellen: für Norddeutschland waren sie die ersten Kriminalfälle, bei denen das Web als Medium Gewicht erhielt.
Das wird erläutert in der Darstellung, für die ich, schon im Rückblick, drei Jahre später meine Prozessnotizen durchgesehen habe: → Kinderfalle auf Achse. Begehung, Aufklärung und Wirkung zweier Kindermorde in Niederdeutschland 2004/05).
2005 soll das Jahr gewesen sein »in dem ein Amoklauf Stade erschüttert«. Dazu heißt es, polizeilich protokollarisch: »Am späten Abend des 25. Juli lockt Rüdiger S. sein erstes Opfer, die 34-jährige Jennifer P., aus dem Haus. Er legt ihr Blumen vor die Tür und teilt es ihr per SMS mit. Als diese den Strauß holt, hält S. ihr seine Waffe an den Kopf und zwingt sie mit ihm zu seiner Wohnung in die Johannisstraße zu fahren.«
»Jennifer P. kann fliehen und schreit nach Hilfe. Drei Passanten eilen herbei. Auf der Ecke Salzstraße/Hansestraße entsteht ein heftiges Handgemenge, in dessen Verlauf S. sechs Mal schießt. Drei Kugeln treffen Jennifer P. Passanten. Sie überlebt. Weitere drei Kugeln verletzen die Passanten.«
»Rüdiger S. flüchtet mit seinem Wagen in den Streuheidenweg, wo eine weitere Ex-Freundin, Iris P., wohnt. Er trifft sie auf der Straße an, ein tragischer Zufall. Gegen 23.27 Uhr gehen Notrufe bei der Polizei ein: Schüsse im Streuheidenweg. Rüdiger S. hat Iris P. mit einem Kopfschuss getötet, danach richtet er sich selbst.«
Fehlt da nicht etwas? »… hält S. ihr seine Waffe an den Kopf«: seine Dienstwaffe war es nicht, er hatte keine, obwohl er – Polizist war. In der Verwaltung in Hamburg. Und stadtbekannt in Stade, auch mir, vom Sehen. Wenn man schon von »erschüttert« schreibt, gehört das dazu, die Nähe und das Ausgelassene.
Freilich waren es vor allem Kriminalgeschichten, denen Stade mehr als das normale Maß an Medienzulauf verdankte. Meine Stories aus der Region musste ich überregionalen Zeitungen anbieten – beim »Amoklauf« riefen sie mich an, weil er schon von den Agenturen vermeldet wurde.
Wieso ich am Vormittag nach der Tat die Waffe zu sehen bekam und was ich zu ihrer Geschichte erfuhr – behalte ich bis auf Weiteres für mich. Dass einer der Hauptzeugen der Medien, der Besitzer des Restaurants, vor dessen Tür die ersten Schüsse fielen, später nördlich der Elbe wegen Brandstiftung an der eigenen Gaststätte verurteilt wurde, soll nicht unterschlagen werden. Was immer seine nie von einem Gericht geprüfte Aussage wert gewesen war – der Name, den er mir für meinen Bericht im Weser Kurier angab, war jedenfalls nicht der, mit dem er in anderen Medien zitiert wird.
Für 2006 haben die Tageblatt-Redakteure ein Video aus alten Fotos gebastelt und Text einmontiert. Tatsächlich wurde zum Doppelmord an einem Rentner-Ehepaar in Fredenbeck mit viel bildträchtiger Polizeiarbeit ermittelt. Die ergibt freilich ein falsches Bild von dem, was für die Causa wichtig war.
In gewissem Sinne sind die Zeitungsberichte nur eine Kulisse, ein polizeilicher Paravent für die wirklich wesentlichen Ermittlungen. Einiges von dem Veröffentlichten wäre durch den Prozess richtig gestellt worden. Zu dem es nicht kam, weil der Hauptverdächtige sich in der Zelle selbst das Leben nahm.
Der Tod des gerade Angeklagten brachte mich in die Lage, Material einzusehen, das mir gemeinhin verschlossen ist. Ich weiß über den Fall so ziemlich das, was den Richtern von der Staatsanwaltschaft vorgelegt worden war, als sie die Anklage zur Hauptverhandlung zuließen. Den Anfang meiner pseudonymisierten Darstellung habe ich → hier eingestellt.
Der Fall ist ungeklärt – das müsste in der Überschrift stehen. Die Polizei hat einen Tatverdächtigen – damit brach vor 12 Jahren die Berichterstattung ab. Die Unschuldsvermutung wird durch die aktuelle Video-Kurzfassung des Tageblatt weg gewischt. Freitod in der Haft = Schuldeingeständnis.
Was indes tatsächlich geschehen ist, weiß die Zeitung heute nicht besser als damals zu berichten. Zwei Menschen ermordet – der mutmaßliche Täter tot. Das ist schon alles. Was soll mir so eine »Chronik«?
Anzeigen, dass der Chefredakteur gegenwärtig auf Spesen bei der Fußballweltmeisterschaft in Russland ist, um seine Erfahrungen als Vorzugsreisender zu kommunizieren, und daheim nur Leute am Werk sind, die Dienst nach Vorschrift schieben, damit sie pünktlich auf die Minute am reservierten Mittagstisch Platz nehmen können?
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