Anmerkungen zu einer Alltagserscheinung
Ob meine Betrachtungen mehr »Studien zur Stadtsoziologie« sind oder »Meditationen über den Spieltrieb«, muss ich nicht entscheiden. Ich habe Beobachtungen zusammengetragen, die ich im Gefolge von Pokémon-Go-Spielern machte.
Was ein Spieler ist, scheint nur klar. Denn was genau verbindet den Stammgast in der Automaten-Spielhalle mit der Kundschaft im Casino oder dem Gamer am PC? Stehen Spieler von Counter Strike eigentlich immer noch auf den Amok- und Terrorlisten obenan?
Statt »homo sapiens«, statt die »Weisheit« als Hauptmerkmal des Menschen zu deklarieren, wurde »homo ludens« vorgeschlagen: das Spielerische als Urquell des Menschseins. »Wir spielen, bis uns der Tod abholt«, sang Kurt Schwitters. Sein Spiel war Kunst.
Kürzlich fiel mein Blick vor einem einschlägigen Geschäft auf einen Schaukasten, in dem antike Konsolen von Nintendo präsentiert wurden. Die Verbreitung der Heimcomputer ab Mitte der 1980er war auch eine Konjunktur von Spielen. Die avanciertesten Produkte gab es jedoch nur in Spielhallen. Mit den Konsolen, die sich an den TV-Monitor anschließen ließen, wurden Spiele daheim verfügbar, mit denen handelsübliche PCs überfordert gewesen wären.
Es war um 1993, als ich Zelda ebenso kennen lernte wie die Pokémon-Figuren. Eine von dem Plakat, das im Zimmer meiner Nichte hing, merkte ich mir, eine graue traurige Gestalt, »Traumato«. Als Krieger ungeeignet, oder?
Bei Pokémon Go werden die possierlichen Tierchen gejagt und erlegt – sofern die Monstren, in die sie sich verwandeln, es zulassen.
Das Spielfeld ist die Realität und ist es nicht. Stubenhocken ist jedenfalls ausgeschlossen, und darin unterscheidet sich Pokémon Go von allen anderen Spielen, denen es im Übrigen gleicht: Gegner werden bekämpft, und neuerdings sind Rätsel zu lösen.
Die »Arenen«, in denen Ungeheuer gestellt werden, befinden sich in Städten, Dörfern und in der Landschaft. Manche sind anderweitig hervorgehobene Orte, andere befinden sich in Abseiten, denen niemand außer den Spielern Aufmerksamkeit zollt.

Einige sind fußläufig dicht beieinander, andere für Automobilisten gedacht, da niemand sonst auf die Idee käme, dorthin zu gelangen oder sich aufzuhalten. Ein Spieler muss das Auto nicht verlassen, um einen Kampf zu absolvieren, aber viele tun es und wandern über ihre Smarties gebeugt umher.

Bei älteren Leuten und → Fredenbeckern besteht das Vorurteil, man könne nicht auf das Display und den Weg zugleich achten. Sie können es sich nicht vorstellen, weil sie es nicht können. Sie werden leicht unwirsch, weil sie meinen, für die anderen mit Acht geben zu müssen, wenn sie selbst ausnahmsweise das Auto verlassen haben und zu Fuß unterwegs sind. Sie treten den vermeintlich Unachtsamen in den Weg, um sie auf etwas aufmerksam zu machen, das nur in der eigenen äußerst beschränkten Wahrnehmung besteht.
Die Bezeichnung »ältere Leute« trifft auch auf mich zu, aber ich bin eine Ausnahme und mit einem rechteckigen Gegenstand herum gelaufen, als niemand noch von Smartphones träumte. Lässt sich denken, welche Blicke ich von den Fredenbeckern erntete. Der Gipfel war, wenn sie kategorisch zu wissen verlangten, was ich in mein Notizbuch eintrug, wenn ich scheinbar unmotiviert stehen blieb wie ein Pokémon-Go-Spieler.

Elektronische Notizbücher im Format heutiger Smarties kamen etwa zur selben Zeit auf wie Zelda und Pokémon, waren aber zunächst mehr schick als brauchbar – bis PCs zu Notebooks verkleinert und erschwinglich wurden.
Zunächst konnte man einzelne Pokémon-Go-Spieler durch die Straßen streunen oder an bestimmten Plätzen verweilen sehen. Sie fielen allenfalls einander auf.

Inzwischen wurde das Spiel um Gruppenfunktionen erweitert. So finden gemeinsame »raids« (Angriffe, Überfälle) statt, zu denen sich 20, 40, 60 Leute für zehn Minuten versammeln.
Dass sich Menschen unterschiedlichen Alters – vom Kind bis zum Rentner – und sozialem Status – vom Armengeldbezieher bis zum Geschäftsmann – in dem öffentlichen Raum zeitweise zusammenrotten, in dem sie sonst beziehungslos aneinander vorbei laufen, geschieht sonst nie.
Nachdem Pokémon Go das Computerspiel aus dem Haus auf die Straße geholt hat, hat es die Interaktivität um eine Ebene erweitert. Gruppen von Spielern gab es bereits, aber sie begegneten sich außer im Spiel regulär virtuell und blieben dabei unter sich.

Unter anderem wird damit eine Schamschwelle gesenkt, die das Bekenntnis betrifft, ein Spieler zu sein. In denselben Medien, die mit Spielen unterhalten, wird zum Spiel in kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Debatten automatisch »Sucht« assoziiert. Mithin schweigen Spieler oder heucheln. Pokémon-Go-Spieler geben sich zu erkennen.

Worin im Einzelnen die Differenz zwischen herkömmlichen Online-Spielen und Pokémon Go hinsichtlich der Gruppendynamik bestehen, wäre zu untersuchen. Sicher ist, dass es einen Unterschied macht, ob man sich medial vermittelt oder leibhaftig begegnet.

Die deutlich über 200 Spieler in Stade haben bereits eine Krise, die sich virtuell entwickelte, hinter sich gebracht, weil bei der Kommunikation untereinander mehr in Betracht kommt als die Güte von Zeichensätzen auf dem Bildschirm. Wäre das allein Ausschlag gebend – würde die Welt von Philosophen regiert. In der Realität fällt ins Gewicht, was kein Monitor vermitteln kann: persönliche Präsenz.

Wer also an den abgebildeten oder anderen Orten auf Ansammlungen von Menschen trifft, die in die Betrachtung von Bildschirmen versunken auf diese eintippen, kann dies fürderhin zum Anlass für eine Selbstbetrachtung nehmen.

(Gravenhorst-Denkmal? Siehe → hier)
1. August 2018
»Provinzialität«, schrieb ich bei → ähnlicher Gelegenheit, »heißt auch im Internet-Zeitalter, dass die Nachrichten, die in Stade förmlich verbreitet werden, stets von frühestens vorgestern sind.«
Zwei Wochen, nachdem die Pokémon-Go-Spieler in der Hansestadt an der Este für Aufsehen gesorgt haben, erscheint im Stader Tageblatt ein Artikel »Auf Pokémon-Jagd in Buxtehude«.
»Vor zwei Jahren war es der große Trend des Sommers: ›Pokémon Go‹ eroberte die Handys der Welt und Millionen von Spielern gingen auf die Jagd nach virtuellen Fantasiewesen in den realen Straßen unserer Städte.« So beginnt der Text im Werbe-Tonfall (der Autor empfiehlt sich für eine Karriere als Pressesprecher), um fortzufahren: »Heute sind weniger Spieler zu sehen, doch es gibt sie noch.«
Ob vor zwei Jahren mehr Spieler in Stade und Buxtehude unterwegs waren, steht dahin; ich bezweifle es. Gesehen oder vielmehr bemerkt hat man sie weniger, weil sie vorwiegend vereinzelt auf der Jagd waren. Heute sieht man erheblich mehr von ihnen, und sie fallen als Gruppen auf.
Das Tageblatt hat 30 Leute vor der Post in der Buxtehuder Bahnhofsstraße gezählt. Bei einem »raid« im Mai in Stade waren es 60. Am letzten Juni-Wochenende strichen 50.000 auf der Jagd durch Dortmund. Events dieser Art gab es vor zwei Jahren nicht.
»Heute ist Pokémon Go beinahe ein anderes Spiel«, heißt es im Tageblatt. Gemeint sind lediglich die Erweiterungen des Spiels, die auf dem Display erscheinen. Die Veränderungen, die bewirken, dass die Spieler selbst von der verschnarchten Tageblatt-Redaktion registriert werden, streift der Artikel nur.
Mehr war vielleicht nicht herauszubringen in ein paar Stunden des beschriebenen und nicht datierten Tages. Wenn aber der Artikel schon nicht aktuell erscheint – hätte man sich auch mehr Zeit nehmen und gründlicher hinschauen können. Und womöglich »Anlass für eine Selbstbetrachtung« gefunden.
Und wie steht es aber mit dieser Beobachtung: »Es sind weniger die 12- bis 16-Jährigen, die auf der Pokémon-Jagd durch Städte und Dörfer ziehen. Die meisten Spieler scheint die Generation 30plus zu stellen, und sogar 60-Jährige hängen vereinzelt am Handy. Dabei spielt Nostalgie sicherlich eine Rolle: Das Pokémon-Gameboy-Spiel, die Serie und die Sammelkarten kamen Ende der 90er Jahre heraus.«
Anfang der 1990er; Nostalgie wäre es für die unter 30-Jährigen. Die mehr als vereinzelten 60-Jährigen haben sich seinerzeit eher verwundert amüsiert über das Spielzeug und die Animationsfilme aus Japan, die sich in Europa etablierten. Die 40-Jährigen lernten die Pokémon-Welt erst auf Go! kennen.
Auf die Figuren kommt es eigentlich nicht an, es könnten andere sein. Freilich sind Spielproduzenten bereits an Konkurrenz-Varianten gescheitert – nicht, weil es die Pokémons sein müssen, sondern weil sie eine in drei Jahrzehnten ausgereifte Galerie bilden, bei der Design und Spielzüge aufeinander abgestimmt und vielfach erprobt sind.
Das Kindische am Spiel funktioniert über alle Generationen hinweg. Allein, die Zehnjährigen sprechen die Namen der Gestalten mit mehr Begeisterung aus, als die Älteren, die sie kaum in den Mund nehmen.
Jagdbild (0:59) auf meinem Kanal bei YouTube
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