Volksvergnügungen in Stade – Passage des Passanten
Unfreiwillig war ich Zeuge des Exzesses geworden, mit dem die zukünftige Elite des Landes ihre bestandene Reifeprüfung begeht. Auch wenn es den knapp Volljährigen so vorkommen mag, war das nicht immer so. Als das Abitur noch nicht als Regelschulabschluss galt und kostbarer war, wurde der Erhalt nicht so opulent öffentlich begangen wie heuer, wo er im Dutzend billiger ist.
Mit einer Unterbrechung tobten die Söhne und Töchter der guten Gesellschaft im Beisein ihrer Familien in und um den Brunnen auf dem Stader Pferdemarkt, bis das Wasser und die Flaschen leer waren ab 12 Uhr; die letzten ließen die Tröten um 18 Uhr schweigen.
Für Außenstehende sind Rituale immer seltsam, und wer nicht besoffen ist, kann die Stimmung von Betrunkenen nicht teilen. Aber, bitteschön, die Abiturienten feiern nicht für sich und unter sich, sondern mitten auf dem Marktplatz und fordern mithin eine externe Ansicht heraus.
Ich sah und hörte weniger »ausgelassene Fröhlichkeit« als Verzweiflung. Die Schreie klangen nicht gelöst, sondern gewollt, nicht nach Freude sondern Angst. Bei der Gruppe, die den Platz überhaupt nicht mehr verlassen mochte, nachdem alle anderen fort waren und von Passanten angestaunt wurden, die sie nicht mit dem Bad im Brunnen in Verbindung brachten und nach der Art der Tröte, die immer wieder einsam über den Platz schallte, an eine verpasste Fußballweltmeisterschaft denken mochten – bei dem letzten verlorenen Häufchen war die Melancholie erkennbar, an die ich mich vor allem erinnere, als ich meine Schullaufbahn beendete.
Meinetwegen sollen sie sich noch einmal in aller Öffentlichkeit wie unerzogene Kinder betragen – aber mit den Postings auf facebook müssen sie vorsichtig sein. Das Ritual deckt nicht alles, und was auf einzelnen Foto- oder Filmaufnahmen zu erkennen sein kann, könnte von Jahr zu Jahr, von Schritt zu Schritt auf der höheren Karriereleiter immer peinlicher werden.
»Wildschweinbratwurst« wird mir am Ausgang der Holzstraße entgegen gerufen, dahinter dudelt es aus einer Cocktail-Bar. Schon wieder Budenzauber, grummele ich, als ich den Pferdemarkt erreiche.
Bereits vor der offiziellen Eröffnung des »Altstadtfestes« sind Sanitäter im Einsatz … Aber das ist eine Täuschung, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. So wie die Polizeipatrouille albernes Getue ist, an dem höchstens Hetzer von der Alternative für Deutschland Gefallen finden. Oder ist wirklich vorgesehen, dass die jungen Männer zwischen 18 und 25, nachdem sie die Straßen unsicher gemacht haben, an einem Donnerstag gegen 15 Uhr sich die Plautze mit »Wildschwein aus unserer Region« voll hauen, besinnungslos saufen und über Frauen herfallen?
Inzwischen ist Sonntag, und ich werde Mühe haben, an freies WLAN zu gelangen, ohne Feierwütigen zu begegnen.
Am Samstag war irgendeine Trommelgruppe auf dem Pferdemarkt, die anzeigte, wie zwanghaft die Unterhaltung ausfallen würde. »Trommelgruppe« meint genau das, was es heißt; von Musik kann keine Rede sein. Aus Höflichkeit hätte man ihnen fünf Minuten zuhören und sie dann abtreten lassen können. Aber fünf Minuten brauchen sie schon, um von einem Beat in den nächsten zu wechseln.
Wie die Abiturienten statt im Brunnen zu plantschen besser unter sich geblieben wären, war der Auftritt der Trommelgruppe mindestens zu lang und zu laut. Aber im Alkoholrausch wird die Welt stets lauter und gewalttätiger. Hätte ich den Trommlern länger als im Vorbeigehen zuhören müssen, wäre ich unweigerlich aggressiv geworden.
Ich war im Supermarkt am anderen Ende der Inneren Stadt – und auf dem Rückweg heimwärts trommelten sie immer noch. Wenn »feiern« heißen soll, sich gegenseitig auf das Schädeldach zu hämmern, kann ich darauf verzichten. Wie auf »Wildschweinfleisch aus unserer Region« und Cocktails mit Gedudel.
Das Timing stimmt allerdings für diese Zurschaustellung deutscher Leitkultur. Gedränge und Gegröle, Tuten und Trommeln als Vorglühen zum Gewinn der Fußballweltmeisterschaft.
»Konzept führt Stade zu neuen Ufern«, verlautbart der Lokalanzeiger. »Traditionsschiffe anlocken, Fisch verkaufen oder mehr maritimes Flair im Stadthafen etablieren: Jetzt bringt ein neues Konzept zum Wassertourismus in Stade Schwung in die Überlegungen. Und die Politiker sagen: Jetzt muss auch etwas passieren.«
Was denn noch? Auf jedem Foto vom Hafen aus ist zu sehen, was in Stade die Stunde geschlagen hat.
Der Himmel ist bewölkt, ich habe also einen vom Getriebe weit entfernten Platz am freien WLAN zur Wahl, bei dem mir die Sonne nicht das Display verblendet oder den Akku aufheizt. Mit Aussicht auf die Aufschrift der Ruine eines Restaurants, dessen Kriminalgeschichte(n) ich mir für diesmal verkneife.
(Natürlich kommt die Sonne heraus, als ich gerade Platz nehme. Später nieselts. Das habe ich nun davon.)
Eigentlich sollte es »Von denen Fischköppen« heißen, aber die Anspielung des »denen« hätte kaum wer verstanden, und so kann ich mir das ebenfalls sparen.
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