Die Erfindung des Kleinpflasters in Stade

Irgendwer hatte mir einen Hinweis gegeben. Von der Kreuzung der Bundesstraßen 73 und 74 ging ich ein Stück Richtung Cuxhaven. Linkerhand war vage ein Granitblock auf einem Sockel aus Findlingen erkennbar. Ein Sprint über die Fahrbahn, ein Sprung über einen Graben, ein Gefecht mit dem Gestrüpp – und ich stand vor dem abseitigsten Denkmal der Stadt.

Das war vor fast 20 Jahren. Zwar ist der Gedenkstein aus der unzugänglichen Ecke geholt. Aber dort, wo er nun steht, im Wendehammer einer Sackgasse, sehen ihn weiterhin nur jene, denen das „Denk mal“ am wenigsten besagt: Autofahrer.

„Wie einst Rom mit seiner hochentwickelten Straßenbautechnik der Lehrmeister der europäischen und an Europa grenzenden Länder gewesen ist, so ist die Erfindung Gravenhorsts bahnbrechend gewesen für den modernen Straßenbau“, huldigte vor 110 Jahren eine Fachzeitschrift dem Erfinder des Kleinpflasters.

1912 wurde das Mahnmal errichtet: „Zur Erinnerung an die Herstellung des ersten Kleinpflasters im Jahre 1885 auf der Ritzebütteler Chaussee km 4,250 – 4,254 durch den Landesbauinspektor Geh. Baurat Gravenhorst“.

Damals waren in der preußischen Provinz Hannover 1480 Kilometer Landstraße nach Gravenhorstscher Art gepflastert; in ganz Preußen waren es 2475 Kilometer. Hinzu kamen drei Millionen Quadratmeter Straßendecke in den Städten. Ungezählt die Fahrbahnen in Europa und Übersee, bei denen die Idee aus Stade Anwendung fand.

Wenn die Wege und Straßen nicht, wie zumal auf dem Lande, überhaupt unbefestigt waren, kam zweierlei Belag in Frage: die so genannte Steinschlagbahn aus einer Schotterdecke und das Kopfsteinpflaster. Schotter war billig, nutzte aber leicht ab, und es bildeten sich Schlaglöcher. Friedrich Gravenhorst suchte nach einem Belag, der weniger kostete als Kopfsteinpflaster, aber ebenso haltbar wäre.

Gravenhorst wurde 1835 als ältester Sohn eines Gutsbesitzers in Holstein geboren. Zunächst arbeitete er als Förster in der Nähe von Kiel. Als Landvermesser finanzierte er sein Studium von Mathematik, Mechanik und Tiefbau in Hannover.

Friedrich Gravenhorst (Zeichnung: urian)
Friedrich Gravenhorst (Zeichnung: urian)

Mit 25 Jahren begann er eine Laufbahn als Beamter im preußischen Bauwesen mit den Stationen Celle, Meldorf, Bad Segeberg und Otterndorf. 1873 übernahm er die Leitung des Landesbauamtes in Stade.

Sein Zuständigkeitsbereich umfasste die damaligen Kreise Stade, Freiburg, Jork, Bremervörde, Geestemünde (Bremerhaven), Lehe und Hadeln. In 36 Dienstjahren als Wegebauinspektor legte Gravenhorst 275.000 Kilometer zurück.

Er reiste zu Fuß oder in der Kutsche. Eine Eisenbahn gab es zunächst nur zwischen Bremen und Bremerhaven, ab 1881 auch zwischen Harburg und Cuxhaven.

Während Gravenhorst den Zustand der Straßen im Elbe-Weser-Dreieck begutachtete, reifte seine Idee des Kleinpflasters, einer glatten Decke aus würfelförmig zugeschnittenen Steinen. Statt der 15 bis 18 Zentimeter des Kopfsteinpflasters betrug die Kantenlänge eines Kleinpflastersteins nur vier bis sechs Zentimeter.

Am ursprünglichen Standort des Denkmals entstand im Sommer 1885 eine vier Meter lange Teststrecke. Die ersten Handgriffe versetzten den 50-jährigen Theoretiker Gravenhorst in Verlegenheit. Als alles vorbereitet war, fragte ihn der Steinsetzer: „Wie soll es gemacht werden?“

„Geben Sie mir Ihren Hammer, so will ich’s Ihnen zeigen“, erwiderte der Baurat. „Der Wegemeister und mehrere Arbeiter sahen mir auf die Finger“, erinnerte sich Gravenhorst. „Noch nie hatte ich einen Pflasterstein versetzt. Ein gelinder Schreck war die Folge, als ich beim Setzen der ersten Steine erkannte, dass auch diese Arbeit geübt sein will.“

Pflasterung nach Gravenhorstscher Art (Zeichnung: urian)
Pflasterung nach Gravenhorstscher Art

Jahr um Jahr beobachtete Gravenhorst seine Versuchsstrecke. Schließlich erwies sich, dass die Absenkung der Straßendecke um das Achtfache geringer war als bei einer Steinschlagbahn. Ein Stück der Teststrecke wurde 1925 in der Münchner Verkehrsausstellung gezeigt und anschließend in den Bestand des dortigen Deutschen Museums übernommen.

Eine Spaltmaschine rationalisierte ab 1900 die Herstellung der Steine. Größere Abmessungen und andere Zuschnitte als bei der Teststrecke wurden üblich. Basalt wurde bevorzugt. In Stade, das traditionell enge Handelsbeziehungen zu Skandinavien unterhielt, war anfangs schwedischer Granit verlegt worden. Doch in regenreichen Gegenden wird das feinkörnige Gestein leicht glatt und zum gefürchteten rutschigen „schwarzen Pflaster“.

Im Straßenbau ist das Kleinpflaster durch Asphalt und Beton abgelöst worden. Auch deshalb, weil es Handarbeit erfordert und ein Pflasterer nicht mehr als 13 Quadratmeter am Tag verlegen kann. Doch allenthalben wird Friedrich Gravenhorsts Andenken buchstäblich mit Füßen getreten: in den Fußgängerzonen von Innenstädten.

1915 starb Gravenhorst mit 80 Jahren. So versteckt wie der Gedenkstein war sein Grab auf dem Stader Horst-Friedhof, als ich es suchte. Ich schob Gebüsch beiseite, um den Findling mit dem Namen zu entdecken. Hierzulande erinnert man sich lieber an den ersten Spatenstich zum Bau der Autobahnen.

Stader Pflaster (Foto: urian)
Stader Pflaster

Literatur

G. Beermann: F. G., Niedersächsische Lebensbilder 2, Hildesheim 1954 | U. R. in Hamburger Abendblatt 4.12.1998 | W. Spies: Gegen Steinschlag und Schlaglöcher, Zwischen Elbe und Weser 4/1989

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