Als die Flora in Hamburg noch nicht rot war
Nun ist die Rote Flora also weltberühmt, und ich kann via google Klicks erwarten, wenn ich mich über sie äußere. Zugleich steht dem Haus der drei Jahrzehnte lang hinaus gezögerte Untergang bevor; könnte eine der letzten Gelegenheiten sein, ein Wort darüber zu verlieren.
Leider könnte ich nur wiederholen, was ich schrieb, als das Gebäude noch gar nicht besetzt war – als aber das, was seither immer wieder geschehen ist und mit den Ausschreitungen um den G20-Gipfel einer breiten Öffentlichkeit vor Augen trat, deutlich absehbar war.
Meine Mahnung verhallte keineswegs ungehört – sie stieß vielmehr auf erbitterten Widerstand. Ich warf die Gewaltfrage auf. Damals wie heute verhält „die Linke“ sich dazu vieldeutig unbestimmt.
Ein schwarzes Loch
„Hausbesetzung“ war einmal ein allgemein geläufiger politischer Kampfbegriff. Obwohl die betreffenden Verhältnisse sich nicht wesentlich verändert haben, sind Besetzungen aus der Mode gekommen. Die Rote Flora, darauf heben die aktuellen Berichte ab, gilt als die längste Okkupation im Land.
Ehedem wurden mir „bürgerlich-reaktionäre“ Ansichten zugeschrieben. Dazu sei angemerkt, dass ich als Jugendlicher Mitte der 1970er in Buxtehude an einer Besetzung teilnahm, die ein „autonomes Jugendzentrum“ erzwingen wollte. Es endete damit, dass einer der Besetzer das Haus abfackelte, in dem ich mit ihm viele Stunden verbracht hatte.
Seither finde ich es schwierig, politische von privaten Motiven zu unterscheiden, und fand sie auch vermischt, als ich Umgang mit meinen zeitweiligen Nachbarn in der Hamburger Hafenstraße hatte. Dieselbe Mischung finde ich übrigens auch beim Parteipolitiker, der seinen Eigennutz als Engagement für das Gemeinwohl verkauft. Oder beim Umweltschützer, der im Geländewagen zum Krötenretten fährt und Vielfliegermeilen sammelt. „Links“, „rechts“ oder sonst welche Überzeugungen besagen umso weniger, je genauer ich hinschaue.
Im Zentrum des Streits um die G20-Straßenkämpfe steht der Schwarze Block als Keimzelle der Krawalle. Was ihn abseits von stereotypen Statements, die außer Eingeweihten niemand zur Kenntnis nimmt, antreibt, ist nebulös und wird in Medien und Sozialen Netzwerken mit willkürlichen Annahmen krimineller oder revolutionärer Energie gefüllt. Tatsächlich ist der Schwarze Block ein Schwarzes Loch, hinsichtlich der politischen Perspektive wie der Überzeugungen und Motive der Personen.
Gerade wird wieder einmal die Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremisten bemüht. Was die Gefährlichkeit anbelangt, werden die Unterschiede geflissentlich verwischt: Linksextremisten kann Gewalt gegen Sachen und die Verletzung von Polizisten und Kritikern vorgeworfen werden; Neonazis haben wahllos zahlreiche Menschen getötet.
Über Neonazismus ist die gemeine Gesellschaft zwar lückenhaft informiert und wird mit Nebelkerzen beworfen, aber die verfügbaren Fakten sind unvergleichlich vielfältiger, als jene über das Phänomen, das sich gegenwärtig als Schwarzer Block vorgestellt wird.
Am Radio höre ich einem Politologen zu, der sich über die mangelnde Distanzierung der Linken vom Schwarzen Block auslässt. Abgesehen davon, dass auch er nicht angeben könnte, aus welchen Personen sich dieser zusammensetzt, legt er den Finger in die Wunde, die älter ist als die Rote Flora und an ihrem Ursprung bereits unübersehbar war. 29 Jahre später wird über sie geredet wie vorher bereits viele Jahre lang über die Häuser an der Hafenstraße, als sei in der Zwischenzeit nichts vorgefallen.
Eine Versammlung
Die Flora, 1888 als Concerthaus Flora eröffnet und zuletzt Sitz des Billigheimers 1000 Töpfe, sollte abgerissen werden, um Platz zu schaffen für ein Musical-Haus, das schließlich an der Stresemannstraße errichtet wurde. Das Vorhaben hätte den Charakter des Schanzenviertels verändert.
Noch handelte es sich um Kulturpolitik, und daher kam ich im Januar 1988 als freier Autor der Kulturredaktion der taz-hamburg dazu, einen Artikel über die denkmalschützerischen Argumente gegen einen Abriss des 100-jährigen Gemäuers zu verfassen.
Ein paar Tage später fand am Schulterblatt, der Hauptstraße des Viertels, eine Versammlung statt, bei der über den „Widerstand“ gegen die, wie es hieß, „Yuppisierung“ des Quartiers beraten werden sollte. Förmlich handelte es sich um eine öffentliche Veranstaltung; doch ich war in eine geschlossene Gesellschaft geraten und wurde gehörig beargwöhnt.
Inmitten der schwarz Gekleideten fiel ich auf. Ich trug einen Ledermantel der 1950er-Jahre in Braun, der bei vielen Leuten Gestapo-Assoziationen aufkommen ließ. Mit meinen 30 Jahren war ich außerdem einer der Ältesten im Raum.
Während man zögerlich beriet, behielt man mich im Auge. Am Bezeichnendsten finde ich heute noch, dass niemand einfach fragte, wer ich denn sei. Am Anfang war die Paranoia. Als ich mein Notizbuch zog, las ich „Spitzel“ in den Gesichtern, obwohl ich gerade dann wohl kaum die Aufmerksamkeit auf mich gezogen hätte. Immer wieder warf mir ein Sprecher (ach ja, es handelte sich fast ausnahmslos um Männer) Blicke zu, wie um den anderen zu signalisieren, dass er mit Rücksicht auf den unerwünschten Zuhörer nicht deutlicher werden könne. Ohne es zu ahnen, war ich in eine Versammlung von Verschwörern geplatzt.
Es wurde eifrig nach „Aktion“ gerufen und „Aktionsformen“ ventiliert. Lag ich falsch, wenn ich erwartete, dass man in diesem Kreis immerhin über den letzten Stand des politischen Widerstands im Bild hätte sein sollen? Es wurde spekuliert, wie es mit dem Denkmalschutz bestellt sei, und mancher meldete sich mit überholten Informationen zu Wort. Als Beobachter schwieg ich, statt auf meinen Artikel aus der Vorwoche zu verweisen.
„Aktion“ blieb das Wort des Abends. In den Augen sah ich den Widerschein brennender Barrikaden, und es schauderte mich. Besonders ein Herr von Ende 40, ein namhafter Fotograf, tat sich als Aufpeitscher hervor. Inzwischen selbst ergraut stößt es mich nach wie vor ab, wenn einer anderen Taten nahe legt, vor denen er sich selbst zu hüten weiß.
Endlich, nach einer Stunde etwa, fasste jemand Mut und fragte, für wen ich spioniere. Ich antwortete knapp und merklich ungehalten und fiel zurück in das Schweigen des Beobachters.
Edle Einfalt
Die Glosse, die ich dem Abend widmete, erschien am 4.2.88 als „Störzeile“. Später zitierte mich damit der Spiegel: „Selbst die alternative ‚taz‘ lästerte zunächst über die ‚Schanzenkrieger‘, die als ‚Truppen der edlen Einfalt‘ rund um Flora ‚einen erneuten Endschlag gegen das imperialistische Mördersystem‘ probten.“
Als „Schanzenkrieger“ hatte ich die 50 Uniform-ähnlich gekleideten Personen wahrgenommen, die am liebsten gleich los marschiert wären und zugeschlagen hätten. Die Flora interessierte sie nicht die Bohne; sie war nur ein Anlass, höchstenfalls ein Symbol des Bürgerkriegs und/oder der Revolution, für die sie sich in Stimmung brachten.
„Sie sind nicht die Avantgarde des globalen Lumpenproletariats, die Uwe Mundlos oder Andreas Baader so gern anführen wollten.“ Den Satz lese ich heute in der Zeit über das angenommene Selbstverständnis der aktuellen Täter. Ebenso selbstverblendet kamen mir die Schanzenkrieger vor.
Wenn es einen Zusammenhang gibt, besteht er in dem zeitenthobenen Reservat, dem „rechtsfreien Raum“ des Gebäudes selbst, an das die Krieger an jenem Abend am Schulterblatt keinen Gedanken verschwendeten, und das – wie erwartet – Schauplatz und – vielleicht – Ausgangspunkt der Szenen im Juli 2017 war, mit denen das Haus im kollektiven Gedächtnis verbunden bleiben wird. Wo die prärevolutionäre Stimmung wie ein Lagerfeuer gehegt und von Generation zu Generation weiter gegeben wird.
Ekelhaft feige
Am Erscheinungstag meiner Glosse erreichte mich ein Brandanruf der Redaktion. Eine Delegation aus dem Schanzenviertel verlangte nach mir. Ich wohnte zwei Minuten entfernt und traf ein, bevor vielleicht etwas zu Bruch gegangen wäre wie bei ähnlichen „Besetzungen“ der Redaktionsräume. Ein Redakteur war ins Krankenhaus geprügelt worden, als er der Auffassung irgendeiner „Bewegung“ nach „bürgerlich-reaktionäre“ Ansichten vertreten hatte.
In ihrer Postille schanzenleben beklagten die Aktivisten nachher eine „Hatz gegen links“. Darunter taten sie es nicht. Eine individuelle Meinungsäußerung genügte nicht, es musste eine Kampagne sein. Am meisten enttäuschte sie, dass mein Text nicht das Ergebnis einer Redaktionskonferenz war, sondern allein der Chef vom Dienst ihn vorher gelesen hatte. Harter Tobak, aber, bitteschön, Dein Risiko, hatte er gemeint und ihn in den Satz gegeben.
Die Angesprochenen fanden den Text „einfach ekelhaft“, die „übelste Diffamierung des sich entwickelnden Widerstandes gegen die Sanierungspolitik des Senats“; er erinnerte an die „Kommunistenhatz der 20ziger Jahre“.
„Seine [meine] Art und Weise läßt darauf schließen, daß er sich absolut keine Mühe gemacht hat und machen wollte, etwas über die Hintergründe der Veranstaltung zu erfahren, sondern nur auftaucht um der radikalen Linken im Viertel eins auszuwischen.“
Über ihren „Besuch“ in der taz-Redaktion behaupteten sie: „U. R. hatte es vorgezogen nicht zu erscheinen und so zogen wir mit der Versicherung, daß unser Artikel am 6.2. erscheint, wieder ab. Gerade als wir die W3 [Werkstatt 3] verlassen wollten und draußen vor der Tür noch ein bißchen klönten, tauchte er dann doch noch auf. Auf unser Nachfragen, bestätigte er seine Identität und meinte, daß er kein Bock hätte mit uns auf der Straße zu diskutieren. Er verschwand in Richtung Taz-Redaktion. Nach kurzen Hin und Her entschieden einige von uns nochmal die fünf Stockwerke zu besteigen, um mit U.R. zu reden. Er verhielt sich uns gegenüber mit einer ungeheueren Arroganz und Verachtung. Daher er gerade aufgestanden sei, hätte er keine Lust sich mit uns inhaltlich auseinanderzusetzen. Ansonsten gab er sich als genauso dumm, wie wir es nach seinen abgedruckten Unwahrheiten erwartet hatten.“
Ich traf niemand vor der Tür der Werkstatt 3 und begegnete meinen Kontrahenten erst in der Redaktion. Dass ich gerade aufgestanden und keinen Bock hatte, über Inhalte mit ihnen zu diskutieren, stimmt auffallend. Hätten sie an dem Abend haben können, als sie darüber nachdachten, wie sie es dem „System“, sprich den „Bullen“, zeigen könnten. Was denn eigentlich zeigen?, hatte mein Text gefragt. Die Antwort der Krieger war die Ausgrenzung des Fragestellers. Scheiß-Intellektueller, grübelt rum statt zu handeln.
Die Aktivisten fühlten sich nicht bloß von mir abgestoßen. „Was bleibt, ist der Eindruck, daß die Taz offensichtlich nicht die Notwendigkeit sieht sich mit ihrer Redaktionsarbeit öffentlich auseinanderzusetzen. Sie wird also bleiben wo sie sich nach eigenen Worten sieht: losgelöst von den sozialen und politischen Bewegungen.“
Nichts erfuhren die Leser des schanzenleben von dem „Viertelverbot“, das die „Besucher“ gegen mich verhängten. Mein Stammlokal war das Olympische Feuer direkt neben der Flora, und dort traf ich am selben Abend auf den Anführer der Redaktionsbesetzer. Er muckste sich nicht, und so entging ich dem, was ich verabscheue und lebenslang erfolgreich vermieden habe: Gewalt anzuwenden, wofür oder wogegen auch immer.
Erfolgsgeschichte
Mag sein, dass Gewalt manchmal unabwendbar ist. Ich habe es lediglich dann erlebt, wenn der Kampf schon im Gang war – um ihn zu beenden. Meine Erfahrung, zumal als Verbrechensversteher, besagt vor allem, dass Gewalt umso vermeidbarer ist, wenn keiner Lust auf sie verspürt. Jene Lust, die ich den Schanzenkriegern unterstellte.
Inzwischen sind auch Frauen dabei, aber der Kern der „Truppen der edlen Einfalt“ sind Männer um die 20. Sie sind immer um die 20 und werden nie älter. Wie viele Generationen des Schwarzen Blocks habe ich demnach erlebt; drei, vier? Könnte aufschlussreich sein, was aus denen geworden ist, die anno 88 selbsternannt „an vorderster Front“ standen. Auf den aktuellen Fotos und Videos der Brandtage erkenne ich keine 50-Jährigen.
Ob sie mir wegen meines Spotts über ihren revolutionären Furor immer noch zürnen? Ich gehe jede Wette ein, dass viele von ihnen inzwischen „bürgerlich-reaktionärer“ sind, als ich es damals bereits nicht war.
2009 wiederholten die Rotfloristen ihre Legende: „die taz verunglimpft den entstehenden widerstand als ‚schanzenkrieger‘, die nichts auf die reihe kriegen.“ Zugegeben, dem Schanzenviertel blieb das Musical-Theater erspart, nicht aber die „Yuppisierung“. Die Rote Flora hat sich halten können als Trutzburg, und daran haben die Schlachten, die die Schanzenkrieger geschlagen haben, ihren Anteil. Eine Erfolgsgeschichte also?
Ihr unklares Verhältnis zur Gewalt fällt den Rotfloristen gerade wieder auf die Füße. Sie geben sich als Verfolgte aus, weil sie mitverantwortlich gemacht werden für das, was vor ihrer Haustür geschah. Waren sie es? In einer weitschweifigen Erklärung, die vor allem an die eigenen Leute und die sonstigen „Linken“ gerichtet scheint, die nun an ihnen zweifeln, gehen sie schlicht nicht näher darauf ein.
Das Statement aus der Roten Flora beantwortet keine der allenthalben gestellten Fragen. Das ist allemal klug, wenn man in Strafverfahren verwickelt ist. Das aber ist das Hauptproblem der Schanzenkrieger: dass ihre „Politik“ in allererster Linie die Polizei betrifft und sie höllisch aufpassen müssen, was sie sagen. Keine gute Voraussetzung für politische Praxis in einer Demokratie.
Aber die besteht ja in Wirklichkeit nicht, oder? Weshalb ich nicht laut sagen darf, was ich meine? Untersagen wollten es mir schon einige, Linke wie Rechte. Für die Polizei hat es nie gereicht.
Die Rote Flora zu stürmen und zu räumen, gäbe denen Recht, die sie als belagerte Festung begreifen. Festung für was, wenn nicht für Gewaltfantasien? Wofür das Haus sonst noch einsteht, müssten die Bewohner eben jetzt allgemein verständlich erklären. Oder die Schotten dicht und sich beschämt aus dem Staub machen.
© Uwe Ruprecht
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