Geschichten aus dem Justizalltag 1999 – 2006
zuerst erschienen im Hamburger Abendblatt

Gerichtsgebäude Stade (Foto: urian)

Der Ente gehts gut

Spontaner Ortstermin des Gerichts. Der Tatort liegt vor der Haustür. Dort soll Herr T. beim Einparken einen Citroёn 2CV gerammt und sich des „unerlaubten Entfernens vom Unfallort“, gemeinhin Fahrerflucht genannt, schuldig gemacht haben.

Der 67-jährige Rentner, der Berufskraftfahrer war und nie einen Punkt in Flensburg kassierte, leugnet den Unfall rundweg. Sein Hauptargument: Mit der Anhängerkupplung seines Geländewagens könne er die tiefer liegende Stoßstange der Ente gar nicht berührt haben. Dass ein Zeuge die Kollision beobachtete, ignoriert der Angeklagte, der sich selbst verteidigt.

In 35 bis 45 Zentimetern Höhe hat die Polizei die Schäden an der Ente lokalisiert, nicht nur an der Stoßstange, sondern auch am Kühlergrill. Der Schwerhörige nimmt es einfach nicht zur Kenntnis. Starrsinnig beharrt er darauf und wiederholt es immer wieder: Mit der Anhängerkupplung kann er die Stoßstange nicht getroffen haben.

Es geht um fast nichts, einen minimalen Schaden, eine geringe Strafe – für Herrn T. jedoch ist es eine Frage der Ehre, des Prinzips. Autofahren als Beruf, immer unfallfrei, und nun, als Rentner, soll er ungeschickt geparkt haben, das kann nicht angehen! Er hat ein Maßband dabei, verlangt einen Ortstermin und die Gegenüberstellung seines Autos mit der Ente.

Der Oldtimer ist nicht verfügbar, aber der Richter erbarmt sich und nimmt den Geländewagen in Augenschein. Er misst eigenhändig den Abstand zwischen Anhängerkupplung und Straßenpflaster: 39 bis 48 Zentimeter. Das ist alles andere als entlastend, aber Herr T. registriert es gar nicht.

Würde er verurteilt, wäre das ein Versicherungsbetrug, meint er, weil seine Versicherung für den Schaden aufzukommen hätte, und er ist doch unschuldig! Auch diese Schlussfolgerung wiederholt er, bis alle anderen sie mitbeten können. Der Richter beweist äußersten Langmut. Er duldet es, wenn Herr T. die Zeugen und die Staatsanwältin kommentiert.

Den Vorwurf des Angeklagten, der Richter würde sich des Versicherungsbetrugs schuldig machen, quittiert dieser, indem er die Augen verdreht. Anlass für ein Ordnungsgeld wegen ungebührlichen Verhaltens wäre reichlich gewesen; es hätte nur die keimende Paranoia von Herrn T. verstärkt. Stattdessen rät der Richter ihm dringlich, sich mit einer Einstellung des Verfahrens gegen eine geringe Geldbuße einverstanden zu erklären: Es könne nur schlimmer werden.

Umsonst; Herr T. sieht und hört nichts. Die verhängte Geldstrafe wird er selbstverständlich in der nächsten Instanz anfechten. Dann wird ihm ein Rechtsanwalt zur Seite stehen, dem er ein Dauermandat bescheren könnte. Herr T. hat den Inhalt seines Ruhestandes gefunden: den einzigen Unfall seines Lebens abzustreiten.

Die Ente hat sich unterdessen erholt. Im Winter wird sie ohnehin in der Garage geschont.

Dreckschleudern

Nachbarschaft in Drochtersen wird so friedlich oder unfriedlich sein wie anderswo und nur zufällig muss sich das Gericht zwei Mal hintereinander mit einem buchstäblich bis aufs Blut ausgetragenen Streit unter Einwohnern der Kehdinger Gemeinde befassen.

Sieben Jahre währt die Fehde zweier Familien in einem Doppelhaus im Ortsteil Dornbusch. Reichlich Arbeit für Anwälte und die Zivilgerichte. Fall Nummer 17 bringt die Streithähne vor den Strafrichter: Körperverletzung.

Eines Märzabends gegen 23 Uhr will der 22-jährige Tobias noch mit dem Auto los. Doch die Reifen sind zerstochen, und der ganze Wagen ist mit einem klebrigen Film überzogen, Leimöl vermutlich. Die Polizei wird gerufen, lässt aber auf sich warten.

Während Tobias mit seinem 61-jährigen Vater auf der Straße steht, taucht der Nachbar auf. Der 60-Jährige marschiert auf den Vater zu und gießt den Inhalt einer Dose über ihn aus – mintgrüne Lackfarbe. Außerdem kriegt Vater eins mit der Faust auf die Nase.

Die Farbattacke bestreitet der angeklagte Nachbar nicht. Aber er sei zuerst geschlagen worden, und das mit dem Auto war er schon überhaupt nicht.

„Den Wagen parken wir sonst nicht auf der Straße, da ist schon so viel vorgekommen“, bemerkt der Vater und wirft dem Nachbarn finstere Blicke zu. Dieser seinerseits sieht sich gefährdet und zählt auf: eingeworfene Scheiben, ein zerstörter Zaun, Nägel auf der Auffahrt, Luftgewehrschüsse auf einen Schuppen.

Was immer der Angeklagte spätabends mit der Farbdose auf der Straße vorgehabt haben mag – die Sachbeschädigung am Auto wird ihm nicht zweifelsfrei nachgewiesen: Freispruch. Sicher ist das Gericht über den Faustschlag ins Gesicht des Vaters und verhängt eine Geldstrafe.

Den Schaden am Auto wird man versuchen, vor einem Zivilgericht geltend zu machen, und dass der Anwalt der anderen Familie empfiehlt, den Zwist endlich beizulegen, wird unwirsch abgewiesen.

Nebenan, im Ortsteil Assel, schleudert der Dreck buchstäblich hin und her. In der Version von Frau R., 35, fand sie den Dreck vor ihrer Haustür. Wo der herkam, schien klar: von Nachbarin Frau S., 61. So etwas habe die nämlich schon einmal gemacht. In der Eigentümergemeinschaft des Reihenhaus-Blocks liegt jeder mit jedem im Rechtsstreit; fünf Verfahren sind vor den Zivilkammern anhängig.

Frau R. beförderte den Dreck also zurück zu Frau S. Es dauerte nicht lang, und er war wieder da. Im Vorgarten stand Frau S., „schaufelte wie verrückt und fing an, mich mit Dreck zu bewerfen“, erzählt Frau R. Sie bekam Erde in Mund und Augen und schützte sich mit einer Fußmatte.

Alles gar nicht wahr, erklären die Nachbarn. Vielmehr hätten sie den Dreck auf ihrer Schwelle entdeckt und ihn dem nächstliegenden Kandidaten, nämlich Familie R., zurückgebracht. Und dabei habe Frau R. sie beide mit der Kehrschaufel ins Gesicht geschlagen.

„Wo soll das hinführen?“, seufzt die Richterin. Unabhängige Zeugen gibt es nicht, offenkundig gelogen hat keiner. Das Verfahren wird eingestellt. Mit einem Urteil, egal, wie es ausgefallen wäre, „hätten wir nur weiteren Unfrieden gestiftet“, findet auch die Staatsanwaltschaft.

Schwankende Gestalten

Die Schlüsselfrage im Verfahren gegen den 27-jährigen Martin aus Kutenholz lautete: Wie lange hat er sich am Tatabend mit Bier, Korn und Weinbrand betrunken? Am Nachmittag war er mit seiner Freundin und dem Freund Ralf auf einer Party in Harsefeld. Weil er beruflich als LKW-Fahrer bis 18 Uhr auf Abruf bereit stand, sei er abstinent geblieben, gibt Martin an.

Doch dann gab es Streit mit der Freundin. Wutentbrannt fuhr Martin los, Ralf auf dem Beifahrersitz. Die Nachbarn sahen „schwankende Gestalten“ und hörten die Abfahrt mit „quietschenden Reifen“. Sie riefen die Polizei an, die um 18.45 Uhr den „Verdacht auf eine Trunkenheitsfahrt“ notierte.

In Kutenholz kehrten die beiden Freunde bei einer Geburtstagsfeier ein. Hier habe er sich „reichlich viel reingetan“, gibt der Angeklagte zu. Während er den Beziehungsfrust ersoff, fuhr Ralf plötzlich mit seinem Auto los. Nach ein paar hundert Metern kriegte er eine scharfe Kurve nicht und prallte gegen einen Findling. Das war gegen 19.15 Uhr.

Wie Ralf an den Autoschlüssel kam, bleibt ein Rätsel. Martin sagt, er habe den Schüssel nicht herausgegeben, und Ralf selbst blieb der Verhandlung fern. Die Anklage, Martin habe dem führerscheinlosen Ralf sein Auto überlassen, war mithin nicht zu beweisen.

Blieb der Vorwurf, dass Martin bereits auf der Fahrt von Harsefeld nach Kutenholz alkoholisiert war. Bei der um 20.30 Uhr entnommenen Blutprobe wurden 1,45 Promille festgestellt. Martins Darstellung, dass er eine Stunde Zeit hatte, sich das nötige Quantum anzutrinken, hält der medizinische Sachverständige für stimmig.

Zwischen dem Anruf der Harsefelder Nachbarn bei der Polizei und dem Unfall liegt allerdings, abzüglich Fahrtzeit, bestenfalls eine halbe Stunde. Bei einem Besäufnis in so kurzer Zeit, meint der Sachverständige, hätte Martin anschließend einen Arzt gebraucht. So hilflos aber erschien er der Polizei nicht. Und wenn er in Harsefeld doch getrunken hätte, aber nur ein bisschen, unter 0,8 Promille? Nichts Genaues weiß man nicht, und also wurde Martin freigesprochen.

„Schrecken der Geschäftsleute“

Frau B. 59, ist krank. Statt im Gerichtssaal sollte sie in einer Arztpraxis sein. Während der Verhandlung murmelt sie unablässig vor sich hin oder fällt Zeugen, Staatsanwältin und Richter ins Wort. Der Richter, der sie schon kennt, ermahnt sie immer wieder geduldig, dass sie gefälligst schweigen möge.

Frau B. ist „der Schrecken der Geschäftsleute der Innenstadt“, sagt der Polizist, der noch am Tag vor der Verhandlung eine neue Anzeige gegen sie wegen Ladendiebstahls aufgenommen hat. Frau B. lässt Kleinigkeiten mitgehen: eine Schachtel Zigaretten, eine Halskette, eine Flasche Hochprozentiges, binnen einer Stunde in drei Läden in Stade.

Wird sie erwischt, empört sie sich stets, sie habe ja bezahlen wollen. Die anderen, die sie angezeigt hätten, die gehören vor Gericht. Dorthin hat es sie bislang sechs Mal wegen Ladendiebstahls gebracht und zwei Mal, weil sie ohne Führerschein gefahren war, einmal inklusive Fahrerflucht unter Alkohol.

Ihren größten Auftritt hatte sie, als ihre Aussage den Prozess platzen ließ, den sie selbst anstrengt hatte. Nachdem sie von ihrem neuen Liebhaber mit einem vorherigen Gespielen im Bett erwischt worden war, zeigte sie eine Vergewaltigung an. Im Zeugenstand war sie verwirrt und nicht bei der Sache, was überdeutlich wurde, als ihr Handy klingelte, sie den Anruf ungerührt entgegen nahm und sich pikiert und unwillig zeigte, als der Richter sie aufforderte, das Gespräch abzubrechen.

Das war vor drei Jahren. „Ich geh nie mehr ins Kaufhaus, ich geh nirgendwo hin, ich mach das nie wieder“, brummelt Frau B., während sich Richter und Staatsanwältin kopfschüttelnd ansehen. Der Richter führt der Angeklagten vor Augen, dass ihr bei der nächsten Verurteilung Haft sicher ist.

„Nein, ich will nicht“, erwidert sie, als würde das genügen, um das Unheil abzuwenden.

„Wenn ich das an­ordne, dann gehen Sie ins Gefängnis“, versichert ihr der Richter.

Während der Urteilsverlesung will Frau B. schon den Saal verlassen. „Nein, ich geh nicht ins Gefängnis!“

Sie hat nur „sieben Mo­nate Haft“ gehört. Der Richter ruft sie zurück.

„Auf Bewährung“, darf er zu Ende sprechen. Neben gemeinnütziger Arbeit erhält sie zur Auflage, sich dorthin zu begeben, wo sie besser aufgehoben ist als vor der Schranken der Justiz, zu einem Neurologen.

Rücksichtslos überholt

100.000 Kilometer im Jahr fährt er, sagt der Zeuge, ein 55-jähriger Kaufmann, aber „soviel Angst hatte ich noch nie“. Tatort: Die Landstraße von Stade Richtung Harsefeld in Höhe Hagen. Eine unübersichtliche Rechtskurve. Plötzlich sieht der Kaufmann im Seitenspiegel einen Wagen, der zum Überholen ansetzt. Gleichzeitig kommt ein Auto von vorne. Der Kaufmann steigt in die Eisen. Notbremsung, rechts an.

„Im Kreis Stade wird derart gerast“, findet der Kaufmann, „da gilt man mit Tempo 100 ja als Verkehrshindernis.“ Zumal die Landstraße zwischen Stade und Harsefeld ist eine berüchtigte Raser-Strecke.

Das gefährliche Überholmanöver ist auch von anderen beobachtet worden. Der Fahrer wird von der Polizei gestoppt. Er ist betrunken: 1,32 Promille. Gegen den Strafbefehl legt er Einspruch ein. Er will den Führerschein nicht für 14, sondern nur für 12 Monate los sein.

Vor Gericht sagt der 45-jährige Deutsch-Russe Rawie kein Wort. Er kann kein Deutsch, und ein Dolmetscher ist nicht bestellt worden. Nervös knackt er seine Finger. Außer einem schmalen Ehering trägt er auch eine breite Ring-Tätowierung.

Der Zeuge murmelt etwas von „Russen-Mafia“. Davon will der Richter nichts hören. Der Fall ist ohnehin klar. Für rücksichtsloses Überholen an übersichtlicher Stelle sieht das Gesetz ohnehin 14 Monate Führerscheinentzug vor. Dass Rawie betrunken war, könnte es nur noch schlimmer machen. Der Strafbefehl wird bestätigt.

Vor der Tür des Gerichtssaals beklagen sich der Angeklagte und seine Angehörigen bei dem Anwalt, den sie umsonst bezahlt haben.

Gentlemangeständnis

Der 51-jährige Jürgen Hans V. ist viel herumgekommen: Paris, Toulon, Nizza, Sylt, Garmisch-Partenkirchen. Er versteht sich auf abenteuerliche Geschichten, die den Frauen, die ihm vertrauen, das Geld aus der Tasche ziehen. Hat V. sich aus dem Staub gemacht, gehen den Betrogenen die Augen auf, und sie erstatten Anzeige.

Er kommt dann nicht mehr so viel herum: 19 Jahre hat er in Deutschland und Frankreich hinter Gittern verbracht. Mit 15 Jahren begann er seine Karriere als Dieb und Betrüger. Vor 15 Jahren endete sie. Vorübergehend. Nachdem er seinen Lebensunterhalt anscheinend ehrbar bestritt, wurde er rückfällig.

Für insgesamt zehn Taten steht er vor Gericht, außerdem läuft in München ein Verfahren gegen den notorischen Hochstapler. Als „Prof. Dr. Dr. Alexander Jonathan Taucher vom Deutschen Herzinstitut München“ erschwindelte er von einer gutgläubigen und wohlhabenden Staderin drei Wochen lang tausende in Bargeld, Kleidung und Unterkunft. Seine Kollegen, machte er der 63-Jährigen weis, hätten seine Brieftasche; er erwartete sie bald.

Ehe sie eintreffen sollten, zog er weiter nach Niebüll, zu einem neuen Opfer, einer verheirateten Frau, mit der er fünf Monate zusammenlebte. Sie hielt ihn aus, versetzte dafür ihren Schmuck. Nach jüdischem Glauben, hatte er sie aufgeklärt, seien sie bereits verheiratet, wenn sie sieben Tage zusammenleben. Nachdem er sich abgesetzt hatte, brach sie zusammen und kam in die Psychiatrie.

Vor Gericht lässt V. sich nicht lumpen: „Ich stehe ein für die Sachen, die ich gemacht habe“, verkündet der robuste Mann mit kräftiger Stimme in trotzigem Ton. Er „möchte keinen Dreck aufwühlen“, wehrt er Fragen des Richters nach Einzelheiten seiner Lügengeschichten ab. „Die Frauen sind geschädigt genug“, gibt er sich, wenngleich spät, als Gentleman. Wenn die Damen die Vorgänge so geschildert haben, wie es in der Akte steht, dann soll es so sein: „Ich übernehme die Verantwortung!“ Die Anhörung der Zeuginnen fällt daher kurz oder ganz aus.

Der Verteidiger macht geltend, die Eitelkeit der Geschädigten habe Anteil an den Taten: die Welt will betrogen sein. Der Richter weist eine Mitschuld der Opfer nachdrücklich zurück. Und seien sie auch eitel gewesen und hätten sich im Licht der falschen Titel gesonnt, hat „Prof. Dr. Dr. Taucher“ sie dennoch ausgenutzt. Er wird wegen „fortgesetzten gewerbsmäßigen Betrugs“ auf Staatskosten abtauchen.

Ampel-Arithmetik

Die 16-jährige Franka aus Fredenbeck ist immer da, wo es knallt. Vor ein paar Wochen trat sie vor dem Landgericht als Zeugin auf. Bei einer Schießerei vor der Stader Diskothek „Metropol“ war sie durch herumfliegende Glassplitter verletzt worden. Zwei Monate vorher war sie Insassin eines Autos gewesen, das in einen Unfall verwickelt war, der jetzt vor dem Amtsgericht verhandelt wurde. Zur Aufklärung konnte Franka sowenig beitragen wie die übrigen sechs Zeugen.

Abends um halb neun krachte es in Stade an der Kreuzung Hansebrücke Ecke Salztorswall. Ein praktischer Arzt soll ein rotes Ampellicht missachtet haben, befand die Polizei. Gegen den Strafbefehl legte der Arzt Widerspruch ein. Nicht der 250 Mark Bußgeld und des einen Monats Führerscheinentzug wegen, sondern weil die Versicherung den Totalschaden seines Autos nicht zahlt, wenn er schuld war.

Er habe Gelb gehabt, sagt der Arzt. Grün will der Fahrer des Autos, das er rammte, für sich gesehen haben. Eine unbeteiligte Fahrerin auf der Abbiegerspur hatte ebenfalls Grün. Kann das sein?, wurden zwei Sachverständige gefragt. Wie synchron sind die Ampeln auf der Abbiegerspur zur Hansebrücke und für den Geradeausverkehr auf dem Salztorswall geschaltet? Kann Pkw A Rot haben, wenn Pkw B Gelb hat und Pkw C Grün?

Zwar gibt es einen Schaltplan für die Ampeln, aber sie regulieren sich mittels Induktionsschleifen selbst je nach Verkehrsaufkommen. Im Nachhinein lässt sich das Verhältnis der Ampelphasen zueinander nicht präzise feststellen. Möglich, dass beide Unfallgegner Gelb sahen. Dann wäre eigentlich die Ampelschaltung schuld daran, dass sie zusammenstießen.

Jedenfalls war die Aussage des Arztes nicht zu widerlegen: Freispruch. Statt ein Bußgeld einzunehmen muss die Staatskasse die wesentlich höheren Verhandlungskosten tragen.

Auto als Beziehungskiste

Der Staatsanwalt ist wütend. „Das nächste Mal tragen Sie Ihren privaten Kram woanders aus, aber lassen uns da raus!“, schimpft er mit der Zeugin. Die 36-jährige Meike hat ihren Freund Berndt angezeigt und damit Justitias Mühlen in Gang gesetzt.

Dann, im Prozess, will sie alles rückgängig machen und beruft sie sich auf ihr Aussageverweigerungsrecht – weil sie inzwischen mit dem Angeklagten verlobt sei. Wann die Verlobung stattgefunden hat, weiß sie nicht. Der Versuch, den Freund in letzter Minute zu retten, muss scheitern.

Verhandelt wird das Verbrechen des „gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr“. Und das wird auch ohne Anzeige verfolgt. Meikes Aussage war für das Gericht nicht nötig, um zu einem Urteil zu kommen. Mehr geholfen hätte ihrem Freund wahrscheinlich, wenn sie die Beziehungsprobleme dargestellt hätte, die ihn bewogen, zwei Mal mit seinem Auto ihren in Stade geparkten Wagen zu rammen.

Das Rammen selbst wäre nicht des Aufhebens wert. Aber im Auto saßen zwei Kinder, zwei und drei Jahre alt, der Nachwuchs des zerstrittenen Paares und einer Nachbarin. Unmittelbar nach dem Vorfall, erzählt ein Polizist, wollte Meike, dass ihr Freund „sofort eingesperrt“ wird.

Soweit kam es nicht. Berndts Haftstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt. Den Führerschein ist er sowieso los und muss eine Geldbuße zahlen, an eine Kinderhilfsorganisation. „Wenn den Kindern etwas passiert wäre“, ermahnt der Richter den aufbrausenden Verlobten, „sähe es für Sie ganz düster aus.“

Angeklagter und Notizen aus dem Gericht (urian)

Balkonfall

Laute Musik die ganze Nacht, ständig fahren Autos an und ab, „meine Kinder können nicht schlafen, das ist ein Puff, und er ist der Zuhälter“, schimpft der Hausbesitzer und zeigt auf den Angeklagten. Milde lächelnd schüttelt die Richterin den Kopf: „Das gehört nicht hierher.“

Thema ist nur, was in Kutenholz-Mulsum passierte, als der 30-jährige Hausbesitzer, mit einem Bekannten als Zeugen, sich zum x-ten Mal über die Zustände bei einer Mieterin beschweren wollte. Die Mieterin bekam er nicht zu Gesicht, denn deren 26-jähriger Neffe versperrte die Tür. Ob der Haubesitzer sich gewaltsam Zutritt verschaffen wollte oder ob der Neffe ihn grundlos angriff, findet das Gericht nicht heraus.

Jedenfalls stürmte der Neffe auf die beiden anderen los, sodass alle drei rücklings vom Balkon fielen. Aus dem ersten Stock, drei Meter tief. So morsch war das Geländer, dass es dem Aufprall nicht standhielt. Und dafür wäre ja eigentlich der Hausbesitzer verantwortlich zu machen. Aber auch das ist nicht Gegenstand des Prozesses.

Mit einer Arbeitsauflage wird das Verfahren gegen den Neffen eingestellt. Anschließend hat der Hausbesitzer noch ein Anliegen: Ob er die Adresse der Tante bekommen könne. Die ist nämlich ausgezogen und hat reichlich Mietschulden hinterlassen. Nein, entscheidet die Richterin, auch das gehört nicht hierher.

Vom Schwell zum Sturz

Die „Kaffee-Klappe“, der Kiosk auf dem Elbanleger vor Twielenfleth, ist ein beliebter Ausflugspunkt. Zum Reiz gehört das mehr oder weniger starke Schaukeln des Pontons. Eines Abends ist der Schwell enorm hoch. Schwell heißt im Seemannsdeutsch das verdrängte Wasser, das ans Ufer brandet, wenn ein Schiff vorbeifährt. Zwei Gäste fallen von den Stühlen, der Kiosk-Betreiber stürzt und zerbricht sein Gebiss. Nicht zu vergessen den Kühlschrank, der aufspringt und seinen Inhalt ausspuckt.

Als Verursacher des Schwells wird ein Containerschiff ausgemacht. Der Elblotse soll die „Harmony“ mit erheblich überhöhter Geschwindigkeit an dem Kiosk-Ponton vorbei gesteuert haben. Was der Lotse bestreitet. Nahe dem Kiosk sei damals eine Baustelle gewesen, ein Schwimmbagger zur Vertiefung der Fahrrinne, und schon deshalb sei er auf „halbe Kraft“ gegangen, sagt er.

Laut Maschinenprotokoll war die „Harmony“ acht bis neun Knoten schnell. Von der Radarzentrale in Brunsbüttel bekam die Wasserschutzpolizei andere Daten. Demnach fuhr Codename D 7, die „Harmony“, mit 18 Knoten. Über Grund oder auf dem Wasser? Und bei welcher Missweisung der Radardaten? Der Anwalt des Lotsen wartet mit Fachkenntnissen auf und streitet mit dem Polizeizeugen über die Zuverlässigkeit der Radardaten.

Die Staatsanwältin hätte gern die Geschichte des Kiosk-Betreibers gehört, aber der war einfach nicht zum Prozess erschienen. Der in maritimen Dingen nicht beschlagene Richter lässt sich gerne belehren. Wie lange braucht ein Schwell vom Schiffsrumpf bis zum Ufer? Dass der Elblotse „grob fahrlässig“ den Schiffsverkehr gefährdet und den Sturz verursacht hat, ist nicht erwiesen, er wird freigesprochen.

Keine Chance gegen Fahrverbot

„OWi-Sachen“ vor dem Amtsgericht: Verhandlungen über Einsprüche gegen Bußgeldbescheide wegen Ordnungswidrigkeiten. Heute: Geschwindigkeitsüberschreitungen im Straßenverkehr. Das Bußgeld stecken die meisten achselzuckend weg, es ist das Fahrverbot, das kneift.

Aber die Chancen, dagegen gute Gründe geltend zu machen, sind gering. Dass der Führerscheinentzug unbequem ist, reicht nicht – das soll er nämlich sein. Da muss man in Kauf nehmen, öfter mit Bahn, Bus oder Taxi zu fahren oder gar ein Hotelzimmer zu beziehen, um pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen zu können.

Siegfried H., 65, war mit mindestens 89 statt der erlaubten 50 Stundenkilometer in Burweg unterwegs. Die 200 Mark Bußgeld kratzen ihn nicht, aber er braucht das Auto. Ohne Auto kann er seinen „schwerst körperbehinderten“ Sohn in der Klinik nicht besuchen oder zum Wochenende nach Hause holen, sagt er.

Ob er die Strecke mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigen kann, hat er noch nicht untersucht, und dass es für Fälle wie seinen Sohn Fahrdienste gibt, deren Kosten die Krankenkasse trägt, ist ihm unbekannt. Medizinisch zwingend sind seine täglichen Besuche jedenfalls nach den von ihm eingereichten Unterlagen nicht. Auf Anraten der Richterin zieht er seinen Einspruch zurück. Einen Monat muss es jetzt ohne Lappen gehen.

Natürlich lässt sich ein Leben ohne Auto bewältigen, meint eine Anwältin auf dem Gerichtsflur, aber dazu gehöre die „Umstellung der Lebensgewohnheiten“. Und das sei für viele unverhältnismäßig erschreckend. So dass sie die Anwaltskosten gern auf sich nehmen.

Der Mann von der Verkehrsaufsicht war umsonst als Zeuge geladen worden. Die Messungen, die er und seine drei Kollegen an wechselnden Standorten im Landkreis Stade vornehmen, wurden nicht in Zweifel gezogen. Es war unstrittig, dass das Motorrad von Dierk M., 41, in der Ortsdurchfahrt von Grünendeich mit 108 Stundenkilometern geblitzt worden war. Bloß will M. nicht selbst gefahren sein.

Er habe verschiedenen Leuten sein Motorrad zu Probefahrten überlassen – einer von denen müsse es sein, dessen Augen- und Nasenpartie trotz Helm auf dem Foto zu sehen sind. Er sei es nicht, und er könne auch niemanden erkennen. Also muss der Gutachter ran.

Für Gesichtsvergleiche gibt es nur eine Handvoll qualifizierter Anthropologen. Der Gutachter, der in Stade eingesetzt wird, kommt aus Süddeutschland. 400 bis 500 Mark kostet bereits die Voranfrage, ob das Foto überhaupt ausreichend gerichtsverwertbare Merkmale aufweist. Reist der Gutachter dann zum Prozess an, wird es richtig teuer. Dierk M. lässt es darauf ankommen, die Verhandlung wird vertagt.

Von Bermen und Blitzen

Dass man auf dem Deich nicht parken darf, versteht sich. Aber was ist mit der Berme? Was ist das überhaupt? „Horizontaler Absatz einer Böschung“, belehrt der Duden, hier: der Grünstreifen am Deichfuß. 15 widerrechtlich abgestellte Autos schrieb die Stader Wasserschutzpolizei an einem Nachmittag im Mai in Bassenfleth auf. Alle zahlten das Bußgeld von 50 Mark; nur ein 48-jähriger Beamter nicht, er ging vor Gericht.

Auch der Amtsrichterin leuchtete nicht ein, warum der Deichschutz durch die wild geparkten Autos beeinträchtigt werden soll, nicht aber durch den wenige Meter entfernten offiziellen Parkplatz am Deichfuß. Im Sommer ist die Stelle, wo Zugang zum Sandstrand besteht, derart zugeparkt, dass niemand Berme, Gehsteig oder regulären Parkplatz zu unterscheiden vermag. „Da will der Landkreis bloß abzocken“, vermutete der beklagte Beamte. Das Verfahren gegen ihn wurde immerhin eingestellt.

Halb sechs Uhr abends im März blitzte es am Ortsausgang von Barnkrug auf der L 111, dem Obstmarschenweg. 109 Stundenkilometer zeigte das Messgerät für das Auto eines 30-jährigen Netzwerkadministrators aus Drochtersen, mithin mehr als doppelt so viel wie die erlaubten 50 km/h. Die 370 Mark Bußgeld wollte der Netzwerker zwar bezahlen, aber nicht auch noch seinen Führerschein für einen Monat verlieren.

Sein Widerspruch war chancenlos. Dass er ohne Auto nicht zur Arbeit nach Hamburg kommt, zieht nicht: Dann muss er sich halt ein Hotelzimmer nehmen. Dass er innerhalb Hamburgs Dienstfahrten mit Werkzeugkasten unternehmen muss, ist auch egal: Dafür gibt es Taxis. Nur wenn der Führerscheinentzug die Existenz gefährdet, kann davon abgesehen werden, erläuterte die Amtsrichterin. Dass es sich ohne Lappen teurer und mühsamer lebt, ist schließlich der Sinn der Übung.

Alltagsärger am Fließband

Hinter den Ordnungswidrigkeiten, die alltäglich im Halbstunden-Takt vor dem Amtsgericht verhandelt werden, verbergen sich nicht selten kleine Dramen, die anlässlich einer Nebensache kurz aufblitzen.

Monatelang stand das auf den Namen des pensionierten Oberstudienrats T. zugelassene Auto am Straßenrand in Stade. Dreimal bemerkte die Polizei, dass die Abgasuntersuchung des Autos überfällig war und ließ jeweils einen Bußgeldbescheid über 80 Mark ergehen.

T. legte Widerspruch ein. Nicht er, sondern sein Sohn, ein Facharzt für Anästhesie, sei der Fahrzeughalter. Die beiden haben sich überworfen, der Sohn hat den Wagen einfach stehen lassen und ist verschwunden. T.s Anwalt hat ihn nicht ausfindig machen können, eine Ladung als Zeuge zum Gerichtstermin hat er ignoriert.

An dem verwaisten Auto, das inzwischen von der Polizei abgeschleppt wurde, muss der Vater den Bruch mit seinem Sohn stellvertretend abarbeiten. Für diesmal hielt die Richterin es für „unverhältnismäßig, tiefer nachzuforschen“ und stellte das Verfahren ein. Spätestens wenn die Kosten für das Abschleppen des Autos anfallen, wird Herr T. wieder prozessieren.

Von dem Verdruss durch einen leichtfertig hergegebenen Namen handelte auch ein zweiter Fall. Die Brüder von Thomas R. waren als Geschäftsleute bereits in Verruf geraten. Als der 40-Jährige selbst einen Betrieb eröffnete, ließ er seine Lebensgefährtin Martina M., 41, das Gewerbe anmelden. Mit den Geschäften, die die Firma nach eineinhalb Jahren in die Pleite führten, hatte die Verwaltungsangestellte nichts zu tun.

Doch die 92.000 Mark Schulden, die R. ansammelte, gehen formal ebenso zu ihren Lasten wie ein Bußgeldbescheid des Arbeitsamtes Stade über 1500 Mark. Zehn Tage hatte Thomas R. eine Aushilfskraft beschäftigt. Als diese sich später arbeitslos meldete, brauchte sie eine Bescheinigung. Die verbummelte R. Monat für Monate, und so hielt sich das Arbeitsamt an Frau M.

Vor Gericht nimmt R. immerhin alle Schuld auf sich. Er ist Freigänger, sitzt noch bis Mai in Haft, weil er Unterhaltsverpflichtungen nicht nachkam. Das Arbeitsamt wird auf das Bußgeld verzichten müssen: Verfahren eingestellt.

Ratlos ist ein Mitarbeiter desselben Amtes, als die Richterin von ihm eine Erklärung für eine Aussage in der Broschüre für Arbeitslosengeld-Empfänger haben will. Ohne dass die arbeitslose Petra S. sich darum bekümmert hätte, hat ihr Ehemann ihre Steuerklasse ändern lassen. 500 Mark Bußgeld will nun das Arbeitsamt, weil Petra S. versäumt hat, die Änderung zu melden.

Aus der Broschüre geht aber hervor, dass die Steuerklasse für die Berechnung des Arbeitslosengeldes nicht relevant ist. Auf die Frage, warum dennoch die Nachlässigkeit von Petra S. ahnden geahndet werden soll, zuckt der Mann vom Arbeitsamt mit den Achseln: „Mein Dienstherr will es so.“ Verfahren eingestellt.

„Ein untypischer Tag“, betont die Richterin, nachdem sie noch ein Verfahren ohne Urteil zu den Akten gelegt hat. Die beiden Beteiligten an einem Unfall mit Blechschaden in einem Stader Parkhaus wollen ihre Bußgelder von je 75 Mark nicht zahlen. Der 33-jährige Journalist Torsten W. hat die Spielzeugautos seines Sohnes mitgebracht, um den Unfallhergang zu demonstrieren.

Aber ohne ein aufwendiges Gutachten kann das Gericht den Sachverhalt ohnehin nicht beurteilen. Einstellung „aus prozessökonomischen Gründen“. Die Unfallgegner werden sowieso noch vor dem Zivilgericht um den Schadensersatz streiten, dann wird es auch Gutachten geben; eine der Versicherung wird dafür aufkommen.

Durchgang des Frauenhassers

Vorher hat das Publikum aus Schülern und Polizeianwärtern im Gerichtssaal noch geulkt. Auf der Tagesordnung steht Exhibitionismus. Doch zu lachen gibt es nichts.

Die Polizei hatte von mehreren Frauen Hinweise auf einen schwarz gekleideten Mann erhalten, der sich in der Stader Altstadt vor ihnen entblößte. Einer Frau hatte er sich bereits zwei Mal gezeigt. Vier Tage lang begleiteten Polizisten in Zivil die Frau auf ihrem Weg zur Arbeit durch die Hökerstraße.

An einem Mittwochmorgen kurz vor acht konnte der 36-jährige K. in der Birnbaumpassage festgenommen werden. „Ich habe einen Hass auf Frauen“, erklärt der schmächtige Mann mit der Halbglatze vor Gericht, „ich wollte sie ärgern“.

„Sie haben Sie in Angst und Schrecken versetzt“, hält die Richterin ihm vor.

„Ich hätte ihnen ja nicht weh getan.“

Das bezweifelt sie. K. ist nicht nur als Exhibitionist vorbestraft. Als 21-Jähriger hatte er es nicht beim Zeigen belassen und war über eine Frau hergefallen. Für Vergewaltigung wurde er zu eineinhalb Jahren Haft verurteilt. Zuletzt hatte die Justiz allerdings vor einem Jahrzehnt mit ihm zu tun.

„Ich finde es beunruhigend, dass Sie nach so langer Zeit wieder auffällig geworden sind“, meint die Richterin. Das entschlossene Vorgehen der Polizei habe diesmal vielleicht das Schlimmste verhindert. Die Gefängnisstrafe wird zur Bewährung ausgesetzt, in der K. Erfolge bei einer Therapie vorweisen muss, um nicht doch eingesperrt zu werden.

Familiengericht

Vater und Tochter verkehren seit zwei Jahren nur über ihre Anwälte miteinander. „Er hat mein Vertrauen missbraucht“, sagt die Tochter, 31. Der Vater, 61, angeklagt der Urkundenfälschung, weist alle Vorwürfe von sich.

Erst starb die Ehefrau und Mutter durch eigene Hand, dann ging es mit der Baufirma des Vaters in Himmelpforten bergab. Auf den Namen der pro forma als Gesellschafterin eingesetzten Tochter wurden Autos gemietet und gekauft, angemeldet und versichert. Sie, die längst als Krankenschwester in Süddeutschland arbeitet, blieb auf unbezahlten Rechnungen sitzen.

Ein Zivilprozess wurde mit einem Vergleich beendet, weitere juristische Hakeleien von Vater und Tochter stehen aus. Der Strafrichter hat Mühe, Familiengeschichte und finanzielle Verwicklungen aus dem Verfahren herauszuhalten. Die Anklage geht zurück auf eine Anzeige des Anwalts der Tochter. Zwei von drei Punkten erweisen sich gleich als gegenstandslos.

Bleibt noch die Frage: Hat der Vater ein Auto auf den Namen der Tochter ohne ihr Wissen angemeldet? Oder hat sie dafür sogar telefonisch ihre Zustimmung gegeben? Sie sagt, sie habe zu dem betreffenden Zeitpunkt nicht mit ihrem Vater telefoniert. Er präsentiert einen Zeugen, der erst noch geladen werden muss. Das wäre der dritte Termin in der Sache.

Der erste war ausgefallen, weil die Tochter kurz vor der Niederkunft stand. Jetzt hat sie ihr Kind dabei. Solange Vater und Tochter die Anwälte für sich reden lassen, wird Opa sein Enkelkind nicht zu sehen bekommen.

Mit Dank in den Knast

„Sie sind ein Drehtür-Kandidat“, sagt der Richter zum Angeklagten: Raus aus dem Knast, neue Straftat, wieder rein in den Knast. 29 Mal ist Mario verurteilt worden. Beim ersten Mal war er 15, heute ist er 38 Jahre alt. Diebstahl, Einbruch, Betrug – zuletzt ging es immer nur darum, den täglichen Schuss Heroin bezahlen zu können.

Und ständig wurde er beim Autofahren erwischt, obwohl er nie einen Führerschein gemacht hat. Erst kürzlich schickte der Richter ihn für zwei Jahre ins Gefängnis: Er hatte bei Versandhäusern Waren bestellt, nicht bezahlt aber anderweitig verkauft.

Bevor er die Haft antreten kann, macht er wie gehabt weiter. Vorerst werden nur die ersten drei Taten aus der neuen Liste verhandelt. Erstens kassierte Mario Pfand für Propangasflaschen, die andere geklaut hatten: Hehlerei.

Dann wohnte er bei einem 47-Jährigen, den er in der Stader Wärmestube kennen gelernt hatte und der durch epileptische Anfälle behindert wird. Er lieh Mario zwei Handys, die dieser in Drogen umsetzte: Unterschlagung.

Ob er drittens auch eine Kameraausrüstung aus der Wohnung mitgehen ließ, ist nicht zu beweisen. Das soll, laut Mario, jemand anderes gewesen sein. Jedenfalls, so der Richter, habe er „die Gutmütigkeit des Mannes schamlos ausgenutzt“.

Mario will endlich eine Therapie machen, beteuert er. Im Knast komme er von der Droge keinesfalls weg. „Bei uns liegen auf dem Flur fünf Mann, die Heroin verkaufen; ich muss mich ja fast selbst einschließen“, sagt er. Einen der begehrten Therapieplätze hat er bereits.

„Aber ohne Druck packen Sie es überhaupt nicht“, meint der Richter. „Das stimmt“, pflichtet ihm Mario bei und bedankt sich artig für die 22 Monate, die er absitzen soll.

Gesichter aus dem Gerichtssaal (Zeichnung: urian)

Not am Deich

Dingo ist tot. Er starb mit fünfeinhalb Jahren an einem Messerstich ins Herz. Das Gericht soll den vermeintlichen Mord am Schäferhund sühnen. Dingos Besitzer, ein 54 und 48 Jahre altes Ehepaar, gingen mit ihm Gassi am Deich in Abbenfleth. Sie ließen Dingo von der Leine, und er lief weit voraus.

Er hatte nämlich Meilo erschnüffelt, einen wesentlich kleineren Mischlingshund, in den er sich schon einmal verbissen hatte. Nur mit Knüppelhieben hatte dessen Herrchen, 29 Jahre, Schlimmeres verhindern können. In der Nachbarschaft ist Dingo berüchtigt. Des Öfteren soll er andere Hunde angegriffen haben.

An diesem Nachmittag halfen keine Schläge und Tritte. Meilos Herrchen gelang es nicht, sein jämmerlich fiependes Tier von Dingo zu trennen. „Der Hund war wie im Wahn“, erinnert sich Meilos Frauchen, 24; die einjährige Tochter auf ihrem Arm schrie vor Entsetzen über den Kampf.

Meilos Herrchen griff zum Messer, mit dem er eben noch Kaninchenfutter geschnitten hatte. Erst nachdem er mehrmals zugestochen hatte, ließ Dingo von Meilo ab, torkelte zur Seite und fiel tot um. Dingos Besitzer haben nichts unternomme, um ihren Hund zurückzuhalten, sagen Meilos Herrchen und Frauchen.

Die Gegenseite hat einen Angriff des Menschen auf den besten Freund beobachtet: Sie hätten Dingo aus der Ferne zurückgerufen, und der hätte Meilo sofort in Ruhe gelassen; erst dann habe dessen Herrchen das Messer eingesetzt.

Keine der Parteien hat offenkundig gelogen, findet die Richterin, hält die Version von Meilos Herrchen aber auch nicht für widerlegt. Demnach hat er in „gerechtfertigtem Notstand“ gehandelt und sich keiner „grundlosen Tötung eines Wirbeltieres“ schuldig gemacht.

Freundin verunglimpft

„Fünf Minuten Pause. Wir müssen erstmal lüften“, verkündete der Jugendrichter, ehe er zu einem Urteil kam. Mit der Lüftungspause versuchte er offenbar, dem Gewitter vorzubeugen, das über dem Angeklagten niederzugehen drohte. „Ihr patziger Ton gefällt mir nicht“, warnte er ihn.

Muffelig und einsilbig, als ginge ihn das alles nicht an, saß Dennis, 19, da und erkannte nicht, dass Richter und Staatsanwalt ihm eine goldene Brücke bauten, als sie die Einstellung des Verfahrens gegen eine Geldauflage anboten. „Kann ich nicht zahlen“, erklärte er unwirsch, als sei die Sache damit aus der Welt.

Die Sache hatte im vergangenen Dezember an der Schule in Oldendorf für Aufsehen gesorgt. „Dies ist die Geschichte von …“ begann ein Pamphlet, das Dennis in 120-facher Ausfertigung im Gebäude plakatiert hatte. Darin wurden die vermeintlichen Vergehen einer gewissen Marina aufgelistet: Sie schwänzt die Schule, sie lügt alle an, und so weiter.

Marina, 16, man ahnt es, war die Freundin von Dennis, und die beiden hatten Knatsch. Mit der Zettelaktion überschritt Dennis die Grenze des Erlaubten und wurde wegen Beleidigung vor Gericht zitiert.

Von Marina zur Rede gestellt, hatte er sich prompt entschuldigt. Geglaubt habe sowieso niemand, was auf dem Zettel stand, sagte das Mädchen als Zeugin aus.

Das sei ein „absolut pubertäres Gehabe“, hielt der Richter Dennis vor. Von jemanden, der als Zeitsoldat bei der Bundeswehr Vorgesetzter von über 50 Leuten ist, würde man ein reiferes Verhalten erwarten. Aus den Akten ergab sich dann auch noch, dass Dennis bereits im Sommer 1999 wegen anonymer Anrufe bei einer Frau Ärger bekam, der im Zuge eines Täter-Opfer-Ausgleichs bereinigt worden war.

In der Lüftungspause nahm der Jugendgerichtshelfer Dennis beiseite und redete ihm zu, die Geldauflage zu akzeptieren. Für 1000 Mark in zehn Raten an einen Buxtehuder Verein, der Missbrauchs-Opfer betreut, ist die Sache erledigt.

Autofalle

Der Richter hat Spielzeugautos zur Verhandlung mitgebracht, mit denen Angeklagte und Zeugen den Tathergang nachstellen. Wer stand wo und wie an der Kreuzung am Ausgangs Stades Richtung Elbe? Und handelte es sich um einen „räuberischen Angriff auf Kraftfahrer“, wie die Staatsanwaltschaft findet, ein schweres Verbrechen also? Oder war gar nichts strafbar, wie die Verteidigung meint?

Remzo, 24, Bürgerkriegsflüchtling aus dem Kosovo, hat Hans-Uwe, 47, für seinen alten Opel einen Kombi beschafft. Doch mit dem eingehandelten Wagen ist Hans-Uwe unzufrieden. Schon nach der ersten Fahrt lässt er die Öl leckende Karre bei einem befreundeten Obstbauern stehen und will ihn zurücktauschen. Inzwischen drängt der Vorbesitzer darauf, dass der Wagen umgemeldet wird. Das dauert.

Remzo geht es nicht schnell genug, also montiert er die Kennzeichen vom Kombi ab. Temperamentvoll, den radebrechenden Redefluss pantomimisch untermalend erzählt er seine Geschichte: Er habe einem Freund einen Gefallen tun wollen, und der lohnt es ihm, indem er ihn vor Gericht zerrt! Er ist maßlos enttäuscht von Hans-Uwe, den er seit Jahren kennt: „Wir haben gegessen, getrunken, geschlafen, alles!“

Eine gute Stunde brauchen Richter, Schöffen und Staatsanwalt, um die Vorgeschichte einigermaßen zu begreifen. Hans-Uwe hat sich also neue Kennzeichen besorgt, um den Kombi vom Hof des Obstbauern zurück zu Remzo zu bringen. Stellt ihn dort ab und hinterlegt die Fahrzeugpapiere. Die Schilder behält er „als Pfand“, wie er sagt. Um ihn heim zu fahren, begleitet ihn der Obstbauer mit seinem Pickup. Ebenfalls dabei ist Hans-Uwes 20-jährige Lebensgefährtin.

Sie sind noch nicht weit gekommen, halten an einer roten Ampel, als sich Remzo mit seinem Wagen vor ihnen quer stellt. „Wir konnten weder vor noch zurück“, sagt Hans-Uwe. Remzos Vater, 45, steigt aus, wütet herum, greift dem verdutzen Fahrer, dem Obstbauern, ins Lenkrad, er soll rechts ran fahren. Als der nicht reagiert, läuft der Vater zur Beifahrerseite, geht Hans-Uwe an die Gurgel und schnappt sich dann die neuen Kennzeichen, die auf dem Armaturenbrett liegen.

Draußen schimpft Remzo: „Ich weiß, wo du wohnst. Ich bring dich um.“ Etliche Autos überholen, die Fahrer gucken, aber keiner hält an. Nur eine 37-jährige Hausfrau aus Drochtersen erkundigt sich, ob es einen Unfall gegeben habe.

„Dass ich noch mal vor Gericht stehen würde, habe ich mir nicht träumen lassen“, seufzt sie.

„So gehen Träume in Erfüllung“, erwidert der Richter.

„Ach, darauf hätte ich verzichten können.“

Der Richter lächelt: „Auch Albträume sind Träume.“

Der Staatanwalt spricht von einer „Autofalle“ und hält das Entwenden der Kennzeichen für Raub. Regelstrafmaß: fünf bis 15 Jahre. Soweit will er jedoch nicht gehen und beantragt ein Jahr und neun Monate Haft, ausgesetzt zu Bewährung.

Das bringt die Verteidiger in Harnisch: „Das Ganze war nicht einmal eine Ordnungswidrigkeit!“ Remzo habe die Nummernschilder nur an sich genommen, um sie anschließend beim Straßenverkehrsamt abzuliefern, wo sie vernichtet werden sollten.

Ein „Klausurfall für Jura-Studenten“, scherzt der Richter und befindet: Weil Remzo die Nummernschilder nicht habe behalten wollen, habe er eine „Wegnahme mit Raubmitteln ohne Zueignungsabsicht“ begangen. Vater und Sohn haben sich einer Nötigung schuldig gemacht. Und der Griff von Remzos Vater an den Hals von Hans-Uwe wird als Körperverletzung gewertet: Geldstrafen für beide Angeklagte, Remzo muss seinen Führerschein abgeben.

Der „Autofallen“-Paragraf ist eines Gesetze, das die Nationalsozialisten schufen, als Antwort auf die grassierende Methode, offene Autos auf Chausseen mit Stahlseilen über der Fahrbahn zu stoppen und auszurauben. Vorgesehen war dafür ursprünglich die Todesstrafe.

Keilerinnen im Zug

Vier Monate lang war er arbeitsunfähig, sagt der 44 Jahre alte Polizist als Zeuge aus. Er war mit Frau, Kind und Schiegereltern auf dem Rückweg vom Weihnachtsmarkt in Hamburg und wollte in Himmelpforten aus dem Zug steigen, als eine Gruppe Mädchen über ihn herfiel. Der große schwere Mann wurde auf die Gleise gestoßen. Als er sich aufrappelte, sprang ihm jemand in den Rücken. Am dadurch ausgelösten Bandscheibenvorfall leidet er seitdem.

„Schläge prasselten auf mich ein“, erinnert er sich. Halb besinnungslos von Tritten an den Kopf blieb er liegen. Das Eintreffen seiner Kollegen vertrieb die mindestens fünf Furien. Auf dem Podium des Gerichtssaals geben sich die 18-jährige Lisa, die 16-jährige Inna und Olga, 15, als verfolgte und beleidigte Unschuld. Ein bisschen geschubst hätten sie wohl, weil es ihnen beim Aussteigen nicht schnell genug gegangen sei, sich aber sonst nur gewehrt.

Ihre beiden 17-jährigen Freundinnen, die als Zeuginnen den „Mega-Konflikt“ am Bahnhof ausmalen, kriegen die verabredeten Details durcheinander. „Eine reine Lügengeschichte“, kommentiert der erfahrene Jugendrichter knapp. Ein Jugendgerichtshelfer warnt besonders die jüngste Angeklagte vor dem Abstieg. Olga hat Arbeitsstunden als Strafe für dauerndes Schuleschwänzen nicht abgeleistet und ist außerdem angeklagt, weil sie im Streit die Scheibe einer Haustür eingetreten und ein anderes Mädchen massiv bedroht hat.

Anführerin Lisa ist wegen Körperverletzung vorbestraft. In Olgas Alter schlug sie Polizisten, die sie zu bändigen versuchten. Fernseher und Laptop ihrer El­tern hat sie längst in Drogen umgesetzt. Über den verhängten Freizeitarrest feixen die Mädchen. Der Prozess war alles andere als ein „Mega-Event“.

Filius, der Eierdieb

Erst steht jetzt wieder „unter der Fuchtel seiner Eltern“, erklärt der Vater des 26-jährigen Mathias, und so eine „Eierdieberei“ wird nie wieder vorkommen. Dass Filius zwei Mal in einer Nacht mit zwei Kumpanen über den Zaun eines Getränkemarkts steigt und Leergut klaut. Nachdem sie Beute an einer Tankstelle versilbert haben, werden sie geschnappt.

Filius ist jetzt wieder auf dem rechten Weg, beteuert der Vater. Filius sagt fast nichts, und was er sagt, sagt er sehr leise. Er hat eine Freundin und ein Kind und wohnt wieder bei den Eltern im Alten Land. Nach Vaters Vorbild baut er sich eine Existenz als selbständiger Obst-Spediteur auf. Da fehlt ihm natürlich das Geld für die Strafe, die er für seinen Diebstahl aufgebrummt bekommen hat.

Freilich wurde das Verfahren schon gegen eine Geldbuße eingestellt, die Filius nicht zahlte. Diesmal wird es nur noch teurer, und der Richter drückt ein Auge ganz fest zu. Aber Vater wird die Strafe zahlen. Und wenn Filius in Zukunft sein karges Einkommen nicht mehr in der Spielhalle verplempert, wird vielleicht alles noch einmal gut.

Gerichtssaal Stade (Zeichnung: urian)

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