Ein Sozialfall
Zwei Mal in zwei Monaten überfiel Peter K. dasselbe Einzelhandelsgeschäft. Verzweiflung und Einfalt machten ihn zum Räuber. Das Gericht schickte den 27-Jährigen für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis.
Im Herbst war der Gerüstbauer arbeitslos geworden. Die Bearbeitung seines Hartz-IV-Antrages schleppte sich über Monate hin. „Die wollten immer neue Papiere“, klagt K. Die Miete konnte er längst nicht mehr zahlen, Essen und Trinken musste er schnorren.
„Man macht sich ja Gedanken, wie man zu Geld kommen kann“, erklärt K., warum er, statt sich mit dem Amt auseinanderzusetzen, auf die Idee verfiel, einen Raubüberfall zu begehen. Als Zielobjekt wählte er einen Tante-Emma-Laden in seiner Nachbarschaft, von dem er wusste, „dass dort nie viel los ist“ – also auch kaum viel Beute zu erwarten war.
„Geld her! Geben Sie mir Ihr Geld! Ich schieße nicht! Ich schieße nicht!“, rief K., als er mit einer ungeladenen Schreckschusspistole ausgerüstet und mit einer Strumpfmaske vermummt an einem Tag im Januar gegen 17.40 Uhr in das Geschäft stürmte.
Die Verkäuferin, 55, hielt die silbern glänzende Waffe für potenziell tödlich und reagierte entsprechend panisch. Schreiend und zitternd tat sie, was von ihr verlangt wurde und schüttete den Kasseninhalt in den Einkaufsbeutel des Räubers. Peter K. entkam unerkannt auf seinem Damenfahrrad.
Von den zirka 300 Euro Beute lebte er – bis zum nächsten Mal. Inzwischen war ihm die Wohnung gekündigt worden und seine hilflose Verzweiflung noch gewachsen. Im März erschien er wieder im Laden, diesmal bereits um kurz nach sieben Uhr morgens.
Dieselbe Verkäuferin wurde sein Opfer. „Nein, nicht schon wieder, das darf nicht wahr sein!“, schrie sie entsetzt auf, als sie den großen schlanken Mann mit der „fürchterlichen“ Maske sah. „Was machst du bloß mit mir?“
Auf den Hinweis, so früh sei noch kein Geld in der Kasse, erwiderte der Maskierte: „Ein bisschen ist da schon“. Eine 38-jährige Verkäuferin, die dazu kam, hatte Angst um ihre Kollegin, die unter dem Schock zusammenzubrechen schien. Eilig übergaben die Frauen dem Räuber 150 Euro Wechselgeld.
Peter K. hatte sich gerade mit dem Fahrrad davon gemacht, als ein 58-jähriger Bauleiter Wilhelm R. zum Brötchenholen am Laden eintraf. Die jüngere Verkäuferin hatte beobachtet, dass der Räuber auf den Wanderweg am Fluss eingebogen war. Kurz entschlossen setzte der Bauleiter nach und schnitt ihm mit dem Auto den Weg ab.
Der Flüchtende stoppte, riss sein Fahrrad herum und stürzte. Er zog die Pistole heraus und richtete sie auf seinen Verfolger. Der Bauleiter legte den Rückwärtsgang ein und brachte sich in Sicherheit.
Inzwischen war auch die jüngere Verkäuferin dem Räuber hinterher gelaufen und traf auf ihn, als er auf dem Wanderweg zurückfuhr. „Aus dem Weg!“, brüllte der Mann und fuchtelte mit der Pistole. Die beiden Zeugen gaben aber noch nicht auf.
Im Auto des Bauleiters folgten sie der Fährte, die das Fahrrad des Täters im frisch gefallenen Schnee hinterlassen hatte – bis sie sie verloren. Die unterdessen alarmierte Polizei war erfolgreicher. Die unverkennbare Spur der abgefahrenen Reifen führte sie direkt zu einem Schuppen am Wohnhaus des Täters.
Zu einem ersten Prozesstermin war der Angeklagte nicht erschienen und wurde in Untersuchungshaft genommen. Er war auf Arbeit in Flensburg gewesen, sagt er und begreift in seiner Einfalt nicht, dass er deswegen einsaß.
Er versteht auch nicht, dass er seinen neuen Job auf jeden Fall los ist – mag sein Chef ihm auch versprochen haben, ihn nach der Verhandlung wieder einzustellen. Erst auf der Anklagebank schwant ihm, dass ihm auf jeden Fall eine Zeit im Gefängnis bevorsteht.
Mit seinem Urteil ging das Gericht über den Antrag der Staatsanwaltschaft hinaus, die zwei Jahre Haft auf Bewährung gefordert hatte.
Kriminalfälle halten der Gesellschaft den Spiegel vor. Sei es ein Amokläufer in einer Schule, der schlagartig ein halbes Dutzend Problemfelder auf einmal ins Blitzlichtgewitter der Medien rückt, sei es ein ganz gewöhnlicher Räuber wie Peter K.
Verzweiflungstaten wie seine spitzen zu, worüber, abseits der Medien, immer öfter und immer lauter geredet wird: die Praktiken der aus Bundesagentur für Arbeit und Kommunen gebildeten Stelle unter wechselnden Namen, die für die Verwaltung oder vielmehr die Verweigerung des Armengeldes zuständig ist. Um die kommunalen Kassen zu schonen, werden Anträge auf die lange Bank geschoben oder abgelehnt. Die Betroffenen werden zu einem juristischen Verfahren gezwungen, um ihren Rechtsanspruch geltend zu machen. Bei den Sozialgerichten stapeln sich die Klagen, die absehbar zu Gunsten der Kläger entschieden werden.
Peter K. begriff nicht, dass er für sein Verfahren vor einer Großen Strafkammer einen Anwalt brauchte. Auf die Idee, sich gegen die Sachbearbeiter, die die Bearbeitung seines Hartz-IV-Antrages verschleppten, zur Wehr zu setzen und einen Anwalt gegen sie in Stellung zu bringen, kam er nicht. In seiner Not wurde er zum Verbrecher. Statt Not zu verhindern, verstärken die Ämter diese noch.
Meist sind den am Verfahren beteiligten Juristen, Staatsanwalt, Verteidiger, Richter, und den Schöffen, die zumeist aus der politischen Klasse rekrutiert werden, die Milieus der Angeklagten außerdienstlich fremd. Drastisch führt der Fall Peter K. den Zusammenhang von Unterschicht und Kriminalität vor Augen. Wer bereits von der Gesellschaft so weit ausgegrenzt ist, seinen notwendigsten Lebensunterhalt nicht mehr sicherstellen zu können, dem liegt es allerdings näher, die Grenze zur Straftat zu überschreiten als jenen, die nie erfahren haben, wie Hunger und Obdachlosigkeit sich anfühlen. Sie haben keine Vorstellung von der Verzweiflung, die daraus entsteht.
Juristisch mag das Urteil gegen Peter K. in Ordnung sein. Wünschenswert wäre gewesen, dass in der öffentlichen Hauptverhandlung die Mitschuld der Behörden, die die Verzweiflung des Angeklagten ausgelöst und verstärkt hatten, immerhin angesprochen worden wäre. Auch das hätte zur Wahrheitsfindung gehört, die neben allen juristischen Prozeduren, den Strafprozess als gesellschaftliche Instanz kennzeichnet.
Der Verteidiger und der Staatsanwalt zeigten sich außerhalb der Verhandlung überzeugt, dass der Angeklagte seine Angaben über die Amtsschikanen erfunden hätte.
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© Uwe Ruprecht
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