Beobachtungen im Alltagsverkehr
Bei Verkehr denkt man in Stade und umzu nur an Automobile. Das Bürgertum schwätzt zwar seit einer Weile über den Klimawandel, aber die hysterischen Anfälle der Gegenwart wiegen nicht die Ignoranz von Jahrzehnten auf. Bevor irgendeine Maßnahme zur Verringerung der Erderwärmung Wirkungen zeigen kann, wäre ein Bewusstseinswandel vonnöten. Dieser wiederum kann erst stattfinden, wenn alles das wahrgenommen wird, was die Wohlstandsbürger bisher für vernachlässigenswert hielten.
Obwohl Klimakitsch in aller Munde ist, wird nicht ernsthaft darüber nachgedacht, die Verhältnisse bei Bahn und Bus zu ändern. Als Alternative zum Auto werden sie auf sehr lange Sicht nicht in Frage kommen. Für kürzere Strecken steigen manche Automobilisten inzwischen auf das Rad um und schaffen damit neue Probleme statt, wie sich die Betreffenden womöglich vormachen, irgendeines zu lösen.
Da es zu wenig Radwege gibt oder diese zu schmal sind, weichen die Radfahrer auf die Gehwege aus. Denn auf die Straße trauen sie sich nicht. Da sind ihresgleichen unterwegs, Autofahrer, die sich für die Herren der Welt und Rücksichtnahme für Schwäche halten. Wie diese ihnen gegenüber verhalten sich die Radfahrer gegenüber Fußgängern. Die einzige spürbare Folge des Klimatrends ist, dass Fußgänger sich nicht nur ständig und überall vor Autos in Acht nehmen müssen, sondern nun auch von rabiaten Radfahrern körperlich bedroht werden.
An Autofahrer, die mit der Achtsamkeit überfordert sind, die von ihnen als Fußgänger gefordert wird, habe ich mich in einem Vierteljahrhundert in der Kleinstadt gewohnt. Das Risiko angerempelt zu werden ist in der Inneren Stadt von Stade um ein Vielfaches höher als in der Mönckebergstraße in Hamburg. Wer sich vorwiegend in einer beschilderten Spur durch die Welt bewegt verliert offenbar die Fähigkeit, sich in einer anarchischen Menge von Passanten zu bewegen ohne anzustoßen.
Für die ländlichen Autofahrer ist bereits die Stader Altstadt eine Zumutung und Überforderung ihrer taktilen Möglichkeiten. An großstädtischen Passantenverkehre gewohnt, brauchte es eine Weile, bis ich mich darauf eingestellt hatte, für andere Fußgänger mit darauf zu achten, wohin sie gehen, weil sie sich selber wie Schlafwandler oder eben wie Autofahrer hinterm Steuer durch die Gassen bewegen.
Nun kommen also noch Radfahrer hinzu, und alle Vorsicht ist vergebens. Slalom rasenden Rädern auszuweichen ist so gut wie unmöglich. Kein Tag vergeht, an dem ich nicht mehrmals knapp einer Kollision entgangen bin. Das Gefährdungspotenzial ist dabei umso höher, je unsicherer die Radler selbst sind.
Tatsächlich sind es in Stade vor allem ältere Herrschaften, die das Rad für sich entdeckt haben. Dasselbe arrogante Volk, das mich Jahrzehnte lang geächtet hat, weil ich nicht wie sie ein Auto benutzte. Nun halten sie sich für die Avantgarde und benehmen sich entsprechend. Wo sie sind ist immer der Mittelpunkt der Erde.
Sie wackeln auf ihren Rädern durch die Fußgängerzone und setzen selbstverständlich voraus, dass die anderen ihnen Platz machen. Und diese müssen es notgedrungen, wollen sie nicht unter die Räder kommen. Ich gehöre selbst zur Klasse der Senioren und kann nicht verdächtigt werden, ein Altersvorurteil zu haben, wenn ich es für überfällig halte, dass die Alten zur Ordnung gerufen werden.
Darüber, dass Tattergreise nicht mehr am Autoverkehr teilnehmen sollten, wird gelegentlich folgenlos diskutiert. Dabei sitzen diese immerhin bequem hinterm Steuer und müssen sich bereits bei den paar Fuß- und Handbewegungen anstrengen, die ihnen das Auto abfordert. Den körperlichen Erfordernissen eines Zweirades sind allzuviele der Neulinge offenbar ebenso wenig gewachsen.
Mein täglicher Weg führt über die Schwingewiesen, wo eine Art Radschnellweg entstanden ist, auf dem Fußgänger nurmehr als Störfaktor wahrgenommen werden. Während der zwölf Minuten langen Strecke muss ich als Fußgänger stets gewahr sein, einem Radler in den Weg zu geraten, der blindlings drauflos rast und freie Bahn für sich erwartet.
Bei jungen Leuten muss ich weniger aufmerksam sein, denn sie sind durchaus noch in der Lage auszuweichen. Die älteren scheinen es als eine Art Beleidigung aufzufassen, dass sich ein Fußgänger in ihrer Bahn befindet und halten auf diesen zu, als müsse er ihnen aus dem Weg springen. Tut er dies nicht, weichen sie mit hasserfüllten Blicken in letzter Sekunde aus. Gerne auch klingeln sie sich den Weg frei, und wenn ich darauf nicht reagiere, darf ich mir eine Pöbelei gefallen lassen.
Bis ich die Innere Stadt erreiche, sind Engstellen zu passieren, die kein Verkehrsplaner im Rathaus auf dem Zettel hat. Etwa eine Brücke über den Burggraben, die von den Radfahrern als ihr Weg reklamiert wird. Noch mehr Autofahrer, die auf das Rad umsteigen, und hier geht nichts mehr.
Kurz bevor ich den Pferdemarkt betrete, wird es äußert eng, weil sich hier Auto-, Rad- und Passantenverkehr ungeregelt überschneiden. Der Parkplätze wegen kurven hier ständig an- und abfahrende sowie einen freien Platz suchende Autos herum. Deswegen und des Holperpflasters wegen meiden die Radler die Straße und benutzen den ohnedies für die bereits anfallenden Fußgängerverkehre zu engen Gehweg. An zwei Passagen müssen sich Fußgänger vorsehen, nicht mit anderen zu kollidieren. Nun biegen auch noch Räder um die Ecke.
Ich bin in Städten mit dem Rad unterwegs gewesen, als noch nicht einmal über Radwegenetze geredet wurde. An Stellen, an denen sich heutige Radfahrer breit machen, wäre ich abgestiegen. »Festina lente« schien mir immer ein gutes Motto und ein Grund, weshalb ich nie einen Unfall hatte.
Das kommt für die neuen Generationen von Zweiradnutzern nicht in Frage. Sie fahren wie im Auto darauf los und bremsen nur für die Polizei. Wo das Fahren erkennbar riskant ist, steigen sie gerade nicht ab, sondern reklamieren ihre Vorherrschaft.
An besagter Stelle müssen sich Fußgänger durch Autos lavieren und erreichen schließlich einen schmalen Schlauch, die Pferdestraße, der sie auf den viel zu engen Gehweg am Bushalteplatz vorbei führt. Dort darf ich nicht zu dicht an der Kante gehen, denn wenn ein Bus vorüber kommt, könnte mir sein Seitenspiegel an den Kopf knallen.
Die Pferdestraße steigt zum Pferdemarkt an, weshalb die Radfahrer in dieser Richtung meist absteigen. Aus der Gegenrichtung fällt die Gasse ab, und so muss mit Rädern gerechnet werden, die vom Pferdemarkt her auf einen zuschießen.
Wie die Autos an dieser Stelle nur dann Schritttempo fahren, wenn ihnen andere im Weg sind, bleiben die Radler im Sattel. Wer zu Fuß unterwegs ist, hat dazu nur eingeschränktes Recht.
Man könnte das Parken an dieser und anderen Stellen rund um die Innere Stadt schlicht verbieten und die Fußgängerzone bis zur Ringstraße erweitern. Das würde dem schönen leeren neuen Parkhaus Zulauf verschaffen und die Stressrate insgesamt senken. (→ Parkhaus Wallstraße Stade)
Aber ich bezweifle, dass irgendeiner der Verantwortlichen besagte Stellen überhaupt kennt, um Überlegungen anstellen zu können. Die kurven immer nur mit dem Auto herum. In der Pferdestraße habe ich nie einen von denen gesehen, die in der Zeitung über städtische Angelegenheiten zitiert werden. Und würden sie Überlegungen anstellen, stünde deren Ergebnis von vornherein fest: Das haben wir immer schon so gemacht.

E-Roller sind Stade erspart geblieben. Einmal habe ich einen über die Schwingewiesen rasen sehen. Auf die Straßen voller ländlicher Autofahrer wird er sich nicht gewagt haben, und auf dem Holperpflaster der Inneren Stadt macht das Rollern nicht den Spaß, den allein es bedeutet.
So wie Radfahren und E-Rollern als Klimatrends nur Profite und Probleme machen, wird man sich weitere scheinbare Novitäten einfallen lassen, um nur das eine nicht zu tun: über Mobilität in neuen Bahnen nachzudenken.
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Und wo ich schon dabei bin: eine andere Stelle, an der sich ablesen lässt, wenn es eine »Verkehrswende« gegeben haben wird: wenn Fußgängern wie Radfahrern nicht mehr droht, zwischen Autos zerrieben werden, egal wie sie angetrieben werden.
Heute spricht sich der ehemalige Erste Bürgermeister von Hamburg Ole von Beust für eine autofreie Hamburger Innenstadt aus. Darauf hätte er auch früher kommen können. Immerhin, er sagt, was in Stade undenkbar ist und den beräderten Bürgern ungeheuerlich erscheint: eine Strecke zu Fuß zurückzulegen, die in einer Großstadt auf jeden Fall anfällt, egal wo man geparkt hat.
In Hamburg sind einige fußlahme Poser auf E-Roller umgestiegen; in Stade fahren sie unverändert durch Straßen, in denen vor lauter parkenden Fahrzeugen längst keine zwei Fahrspuren mehr zur Verfügung stehen. Also rauf auf den Gehsteig. Wo die anderen bleiben, interessiert schon gar nicht die Automobilisten im Rathaus, die an auch an dieser Engstelle noch nie gesehen wurden. Politik wird in Stade von Leuten gemacht wird, die ihre eigene Stadt nicht kennen.
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Siehe auch
→ Kein Pardon für Passanten
→ Herrenradler
→ Lifestyle und Tod
→ Bitte nicht den Bus!
→ Kein Wort mehr vom Klima
→ Klimatäuscher unter sich
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