Die Gegenwart des Nationalsozialismus in Verden an der Aller

Nebel zieht herauf. Auf dem Weg um den Wiesengrund sieht der Passant im Dunst, was den ersten Menschen auffiel, von denen man weiß, dass sie in den Niederungen siedelten, nach der Eiszeit: Steine. Im Abwälzen planierten die Gletscher das Land; mit ihnen rollte Gestein heran, das nach der Schmelze liegen blieb.

Die auf dem platten niederdeutschen Land verstreuten Findlinge wurden vor fünf Jahrtausenden gesammelt und zu rätselhaften Gebilden verarbeitet, deren Ruinen in Marsch und Moor, auf Geest und Heide reichlich erhalten sind. Während des Dreißigjährigen Krieges beschrieb sie ein Reisender als »Hünengräber«: wie von und für Riesen gemacht. Bis heute stehen mit dem Gemeindewappen verzierte Steine auf Marktplätzen und vor Rathäusern.

Sachsenhain Verden/Aller (Foto: urian)
Sachsenhain in Verden/Aller

Findlinge säumen den über zwei Kilometer langen Weg um die »Blutwiese« in Verden an der Aller, 4500 sollen es sein. Ein aus schriftlosen Vorzeiten überliefertes Zeichen wie die → Megalithanlage in einem verschwiegenen Buchenhain bei Apensen oder die alljährlich von Massen umlagerten Externsteine bei Detmold – soll man denken und beeindruckt sein.

Man wird getäuscht, das Alter ist nur eine Anmutung, Zitat des Authentischen zur Illustration einer Mär. Grabsteine sollen es sein, einer für jeden Sachsen, die anno 782 auf Geheiß Karls des Großen hingerichtet worden seien. Das angemahnte Ereignis ist nebulös. Zweifelhaft, ob es eine Massenhinrichtung oder eine symbolische Unterwerfung war, bei der vielleicht auch Blut floss. Es könnte nur das Knie gebeugt statt der Kopf abgeschlagen worden sein. Falls gemordet wurde, ist die Zahl unbestimmt.

Als Blutwiese erscheint der Platz 1906 bei Hermann Löns, in der Novelle Die rote Beeke, der rote Bach. Löns verdichtete die nationalistischen Deutungen der akademischen »Volkskunde« seit dem 19. Jahrhundert: Karl der Große als Franke und Franzose steht gegen Widukind als Germane und Deutscher, Christentum gegen Heidentum.

Sachsenhain Verden/Aller (Foto: urian)
Sachsenhain in Verden/Aller

Beklommen machen könnte ein Spaziergang im Sachsenhain, sofern man erkennt, dass Massenmörder es waren, die das vermeintliche Massaker verewigten. Bis 2004 musste ein gewöhnlicher Besucher der »Pferdestadt« Verden die Geschichte recherchieren.

In der Chronik zur Tausendjahrfeier 1985 steht noch kein Wort, danach aber wurde die Anlage als Hauptsehenswürdigkeit neben Dom und Storchenstation angepriesen, und das Stadtmarketing förderte die jungsteinzeitliche Vorspiegelung. Dann machte es daraus ein »Mahnmal« für die Opfer des »Sachsenschlächters« Karl und stand damit im wörtlichen Einklang mit dem Haupt-Urheber des Steinpfads.

Erst nach der Jahrtausendwende wurde in den »Tipps für den Gast« vermerkt: »errichtet 1935«. Endlich wurde eine Informationstafel am Wegesrand aufgestellt; wer sie im Nebel nicht bemerkt oder ganz woanders entlang läuft, bleibt unaufgeklärt.

Sachsenhain Verden/Aller (Foto: urian)
Sachsenhain in Verden/Aller

Der Sachsenhain setzte die Politik des Ahnenerbe um, der Kulturabteilung der Schutzstaffel der NSDAP. Reichsführer-SS Heinrich Himmler hatte das Ahnenerbe im Juli 1935 zwar als Verein gegründet, gliederte es aber 1942 als Amt A in seinen Persönlichen Stab ein und widmete ihm bis zum Ende besondere Aufmerksamkeit. Für ihn war das Ahnenerbe die kulturelle Speerspitze und das fünfte Glied des SS-Apparates neben Allgemeiner SS, Waffen-SS, Polizei und Sicherheitsdienst.

Hunderte Doktoren und Professoren bastelten aus »indogermanischer Glaubensgeschichte« und »Runen und Sinnbildkunde« an der von Himmler gestifteten Religion des Neuheidentum. Der Kanadier Michael H. Kater legte 1974 die erste und bis heute uneingeholte Untersuchung des Ahnenerbe vor, die detailliert ausführt, wie Himmlers Gehilfen ihre Wissenschaften korrumpierten und oft genug schiere Erfindungen als Forschung ausgaben, um letztendlich wie gewünscht beim Massenmordbetrieb weltanschaulich zu Diensten sein zu können.

Einige machten sich auch die Hände blutig. Sie ließen Skelette sammeln oder erfanden in Kooperation mit der Luftwaffe abscheuliche Menschenexperimente. (→ Der letzte Mordbefehl) Himmlers »Wissenschaftler« machten nach 1945 in anderen Fachrichtungen weiter.

Die Niedersachsen galten als reine Germanen und prototypische Arier, weshalb die »Forscher« in Norddeutschland besonders rege waren. Eine umfassende Untersuchung der Kultfiguren, echten und gemachten Kultstätten, von Museen und Schriften und was aus ihnen wurde, steht noch aus, Einzelstudien sind selten.

Sachsenhain Verden/Aller (urian)
Sachsenhain in Verden/Aller

Zeugnisse, die unmissverständlicher sind als der Sachsenhain, haben überdauert und weisen in die Zukunft. Im Höllengrund bei Visselhövede, rund um das Denkmal für Albert Leo Schlageter, den ersten Märtyrer der Nationalsozialisten, belegen Hakenkreuze in den Bäumen, wie unvergessen der Ort ist. Zu schweigen von den Denkmälern, die sich nicht als NS-Zeichen aufdrängen, wie der Kriegsklotz am Dammtor-Bahnhof in Hamburg (→ Der Klotz steht noch) oder das Grabmal für eine von Hitlers Sonderzug ausgelöschte Laientheatertruppe (→ Bahnmeester Dod).

Bei der Errichtung des Sachsenhains rang Himmler noch mit Alfred Rosenberg, dem 1946 hingerichteten Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP, um die intellektuelle Hoheit im Dritten Reich. Ihre Handlanger schufen an den Universitäten Mythen statt Wissen und vernichteten Unpassendes. In ideologischen Belangen lief Himmler schließlich Rosenberg den Rang ab.

Dieser hatte zur Sommersonnenwende 1934 vor 60.000 Menschen im Verdener Reiterstadion den Führer mit Widukind verglichen. Um Mitternacht weihte Reichsjugendführer Baldur von Schirach ein nachgemachtes Hünengrab als vorläufiges Denkmal ein. Die Gemeinden wurden vergattert, unter Aufsicht der SS Findlinge heranzuschaffen.

Am 21. Juni 1935 der Festakt: »Punkt zehn Uhr abends treffen Reichsleiter Rosenberg und Reichsführer Himmler ein. Während die Fackeln entzündet werden, klingen Wagnersche Weisen über den weiten Platz.« Die Findlinge sind um einen rechteckigen »Thingplatz« und eine Redekanzel, den »Führerstand«, angeordnet. Bauernhäuser, die man anderswo abgebrochen hatte, wurden von der SS für Schulungen genutzt.

In diesem »Ensemble wunderschön restaurierter Fachwerkhäuser« unterhält heute die evangelische Kirche einen »Jugendhof«. Mit Bibelsprüchen auf einigen »Hinkelsteinen« wurde das Areal umgewidmet. Nicht alle älteren Inschriften sind getilgt, wie etwa die der Gemeinden, die einen Stein mit Wappen ablieferten. »Angenommen er lebt« steht neben einem Hakenkreuz, Jesus neben Hitler.

Am Karfreitag soll der legendäre »Sachsenmord« stattgefunden haben. An diesem, ihrem »Stillen Freitag« pilgern Neuheiden zum Sachsenhain. »Wir umwanderten das heute von christlichen Bubenhänden mit Meißeln geschändete Mahnmal«, ereiferte sich die Deutschgläubige Gemeinschaft. »Ein neues, riesiges Holzkreuz direkt an der Blutbeeke verhöhnt dort das Opfer, die Treue und die Ehre unserer heidnischen Vorfahren!«

Zum »6. 8. nach Stonehenge«, vulgo 6. August 1991, lud die Artgemeinschaft nach Verden. In einer Gaststätte referierte deren Vorsitzender Jürgen Rieger bei Kaffee und Kuchen: »Was geschah in Verden 782 wirklich?« Die Kirche, führte er aus, habe mit ihren »Sinnsprüchen« Grabsteine geschändet. »Die Versammlung schloss mit dem ›Niedersachsenlied‹ und der Versicherung, dass wir nicht ruhen noch rasten werden, bis dieser Heidenfriedhof wieder in unseren Händen ist, um das Andenken unserer Vorfahren zu schützen.«

Riegers Darstellung des Sachsenhains ist die umfangreichste im Internet verfügbare. Er war bis zu seinem Tod 2009 einer der wichtigsten neonazistischen Drahtzieher und zuletzt in der Führung der NPD. (→ Weltanschauungen)

Sachsenhain in Verden/Aller (Foto: urian)
Sachsenhain in Verden/Aller

»Von der Weser bis zur Elbe, / Von dem Harz bis an das Meer / Stehen Niedersachsens Söhne« heißt es in der Hymne der Niedersachsen, die von den Neuheiden bei ihrer Feier angestimmt wurden. Sie wurde von SPD wie NPD im Wahlkampf eingesetzt und war zuletzt von der AfD zu hören . (→ Männerfantasien) In Strophe drei geht es um das »Blutgericht von Verden«.

Das Märchen von dem Massaker, an das die Massenmörder mahnten, ist in feuilletonistische Geschichtsbücher eingegangen. In einer Abhandlung, die aus den Deutschen ein »rebellisches Volk« machen will und einen Bogen von der Erhebung der »Germanen« unter Arminius zum Fall der Berliner Mauer schlägt, heißt es zum »Blutgericht«: »Auch wenn von der neueren Forschung die Zahl von 4500 Opfern angezweifelt wird, scheint sicher, dass dieser Akt fränkischen Staatsterrors tatsächlich stattfand.«

Rosenbergs und Himmlers Inszenierungen zum »Andenken an das historische Blutbad von Verden« hätten Hitler an die »Nacht der langen Messer« 1934 erinnert (die anderen beiden nicht?) und seien deshalb untersagt worden. Etwa aus Scham, weil der Führer selbst »Aufständische«, die keine waren, hatte massakrieren lassen? Insofern die Motive der Nationalsozialisten gemeinhin überhaupt kein Thema sind, ist umso bemerkenswerter, welche ihnen gelegentlich ohne jede Quelle untergeschoben werden.

Ausgerechnet Wilhelm Hübotter, der den Sachsenhain entwarf, erhielt 1946 den Auftrag für eine Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen und ließ sofort Zäune, Wachtürme und das Krematorium abreißen. »Statt zu erinnern, schuf er ein Idyll. ›Hier ruhen 5000 Tote‹ steht auf einem Stein neben einem Massengrab, so als seien KZ-Häftlinge nicht ermordet worden, sondern sanft entschlafen.«

Literatur

A. Felkel: Aufstand, Bergisch Gladbach 2009 | T. Fiedler / M. Goergen, Die Geschichte der Deutschen, Hörbuch, München 2008 | E. A. Friedrich: Wenn Steine reden könnten I, Hannover 1989 | M. H. Kater: Das »Ahnenerbe« der SS 1935–1945, Stuttgart 1974 | S. Kuhlmann: Der Streit um Karl den Großen, Widukind und den »Tag von Verden«, Stade 2010 | T. Maron in Frankfurter Rundschau 10.7.2002 | A. Röpke: »Wir erobern die Städte vom Land aus!«, Braunschweig 2005 | U. R. in Neues Deutschland 11.5.2000, blick nach rechts 12/2000 | A. Voß in Heimatkalender für den Landkreis Verden 1996

Am 27. September 2023 wird vermeldet, dass das Bundesinnenministerium die Artgemeinschaft verboten und Razzien in 12 Bundesländern vorgenommen hat. Die allermeisten Leser der Meldungen werden noch nie von dieser „Neonazi-Sekte“ gehört und sie gleich danach wieder vergessen haben. Dass dieser verlorene Haufen in Verden über Jahrzehnte wohl gelitten war und sich dort ein Denkmal ihrer Weltanschauung befindet, steht selbstverständlich nicht in den Berichten, und keiner aus dem Stadtmarketing von Verden wird sich unangenehmen Fragen stellen müssen. Welche Gefahr könnte auch schon von bundesweit 300 Anhängern ausgehen?

Die Verbotsverfügung ist erkennbar dem Wahlkampf in Hessen geschuldet, bei dem die Bundesinnenministerin als Spitzenkandidaten der Spezialdemokraten ihre Felle wegschwimmen sieht. Dass das Verbot nicht schon vor Jahrzehnten erfolgt ist und welche Unterstützung die scheinbar so skurrilen Vorstellungen der Artgemeinschaft in sehr viel breiteren Bevölkerungskreisen erfahren hat und weiter erfährt – genau davon lenkt der Meldungseifer der Medien erfolgreich ab.

„‘Artgemeinschaft’: Beamte finden NS-Devotionalien bei Razzia“ titelt eine Zeitung, und die gemeine Leserschaft denkt: Da tut sich was. Weit gefehlt. Keine Anzeige bei google News zu Verden und „Artgemeinschaft“. Die steinerne „NS-Devotionalie“ an der Aller, wo sich die „Neonazi-Sekte“ regelmäßig traf, wird ein Anziehungspunkt bleiben. Und Journalisten, die nur zu gern auf ein Wahlkampfmanöver der Bundesinnenministerin hereinfallen, werden dafür sorgen, dass es so bleibt.

Siehe auch

über Neonazismus und Neuheidentum → Braune Biografien
sowie
Himmlers Ende und Nachleben. Ein Auszug aus dem Graphic Essay über Heinrich Himmlers letzte Tage → HIMMELREICH HIRN