Die Megalithanlage von Grundoldendorf
In einem Reiseführer von 1996 (B. Pollmann: Rund um Hamburg) werden Fremde mit einigen von der Tourismus-Behörde ausgeschilderten Steingebilden bekannt gemacht; über die »Pyramiden der Unterelbe«, wie sie um 1900 getauft wurden, steht auf Seite 83 ein für den Umgang mit ihnen charakteristischer Satz: »Der Weg unternimmt schließlich einen Abstecher (links) in einen schönen Buchenwald, in dem sich Hügelgräber befinden sollen (nicht zu sehen).«
Auf einer Karte für Touristen wurden als einzige Sehenswürdigkeiten drei Dutzend Findlingsformationen ausgewiesen, Großsteingräber, »Hünengräber«. Die beeindruckendste Anlage im Dohrn bei Grundoldendorf in der Samtgemeinde Apensen ist auch hier »nicht zu sehen«.
In dieser Hinsicht ist überholt, was ich zwischenzeitlich darüber in die Welt setzte (→ Kultfindlinge), und meine Diskretion hat sich erübrigt. In den 1980ern wurden die Wegweiser zum Kulturdenkmal abmontiert, weil sie immerzu mit Hakenkreuzen versehen waren. Mittlerweile hat sich das Museum Schwedenspeicher in Stade der Anlage angenommen und sie »digitalisiert«.
Ins Gerede kam das Gelände zuerst und zuletzt im Herbst 2017, als es infolge von Sturmschäden gesperrt wurde. Unterdessen ist das Denkmal nach Auskunft des Direktors der Museen Stade vom 22. Januar 2019 wieder zugänglich.

Ich kenne den Ort seit meiner Jugend, seit zirka 45 Jahren, aber aus der erwähnten und anderen Rücksichten habe ich ihn mir nur einmal publizistisch vorgenommen (Hamburger Abendblatt 28.7.1997, siehe unten) und ausgelassen, was inzwischen in der Zeitung ausposaunt wurde: »Dieser Ort verbreitet etwas Mystisches«.
Bevor ich die Megalithanlage erstmals betrat, kannte ich die Straßenkreuzung in dem Dorf aus sieben Häusern am Rand der Anhöhe mit dem Buchenhain. Sie führte die Liste der Stellen mit den meisten unnatürlichen Todesfällen an.
Seit der Automobilverkehr die Nachkriegslandschaft erschlossen hatte, war hier eine Gefahrenstelle durch Lastkraftwagen, die einen Hang hinunter schossen und vom Querverkehr zu spät gesehen werden konnten.
Die Todesfalle, der sich Ortskundige nur mit Zagen näherten, war zur Gewohnheit geworden, ehe Stoppschilder angebracht wurden. Daraufhin sank die Todesrate, weiterhin aber überfuhren rasende Lkws die unsichtbare Schranke.
20 Jahre vergingen, seit ich erstmals mit Bewusstsein vom Tod am Dohrn gehört hatte, bis eine Ampel installiert wurde. Der Schutz war nicht perfekt, und als die Ampel ausfiel, schlug der Tod sofort wieder zu, bei einem Fremden, der nichts von rasenden Lastern außerhalb seines Blickfeldes wusste.
Es ist nicht mehr in Erfahrung zu bringen, ob die Gegend um den Dohrn in früherer Zeit aus ähnlichen Gründen in Verruf gestanden hat; es sei denn die Ämter hätten sich veranlasst gesehen einzugreifen und eine Aktenspur hinterlassen. Selten notierte ein Heimatforscher abergläubisches Gerede oder widmete ein Gutsherr den Legenden seiner Bediensteten Zeilen in seinem Tagebuch.
Die Überlieferung ist bis heute mündlich. Ich kann mich nur auf eigene Beobachtungen und gelegentliche Erzählungen beziehen. Bevor ich vor mehr als 20 Jahren den nachstehenden Text schrieb, erkundigte ich mich in Grundoldendorf. Aber die Bewohner hatten keine spezifischen Wahrnehmungen gemacht oder wollten sie nicht mit mir teilen.
Die Aura des Ortes hat Einheimische aus der Nachbarschaft ebenso angezogen wie Esoteriker aller Art. Die Konsumreste, die sie hinterlassen, sind so uneindeutig wie ihre Zeichen auf den Steinen. Runen können, müssen aber nicht arisch-germanisch gemeint sein. Was zu den Terminen der Sonnenwendfeiern im Wald vorgehen könnte, muss niemand bemerken.
Pyramiden der Unterelbe
Sie schlugen ihre Zelte auf, wohin der Wind sie wehte. In diesem Frühjahr zog die Nomadensippe zum Großen Strom, um sich für eine Weile vom Fischfang zu ernähren. Am Rande des Urwaldes passierten sie eine Siedlung. Mit den Bauern vertrugen sie sich nicht, die Nomaden umgingen das Dorf.
Verwundert, misstrauisch und erschreckt betrachteten die Kinder der Wanderer das fremde Bild an einem festen Ort lebender Menschen. Auf einer durch Feuer gerodeten Lichtung standen fünf Hütten. Jede war 30 Meter lang, acht breit, fünf hoch und von einem Satteldach überwölbt: Raum für eine Familie mit acht bis zehn Personen, den Erntevorrat und die Haustiere.
Die Nomaden streiften ziellos um, grasten ein Gebiet nach Essbarem ab, zogen weiter, dem Wild nach, während die Bauern ein für allemal einen bestimmten Platz besetzt hatten und sich in seiner Umgebung ausbreiteten. Sie ritten Pferde, schoren Schafe, schlachteten Rinder und melkten Ziegen.
Rings um das Dorf lagen wie Inseln im Urwald die Felder, auf denen sie Weizen und Gerste anpflanzten. Mit Hacken aus Hirschgeweih lockerten die Bauern den zähen aber fruchtbaren Lössboden, mit hölzernen Handhaken gruben sie Furchen für die Saat. Sie warteten, sie hegten die Gewächse, sie ernteten sie mit Sicheln aus Holz, an denen Feuersteine befestigt waren. Sie mahlten das Getreide zwischen zwei Steinen.
Von alledem verstanden die Nomaden nichts. Sie bauten keine Häuser und legten keine Vorräte an. Sie wussten nicht, wie man Brot backt oder Tongefäße töpfert. Im Ringen um die Vorherrschaft im Land waren die Nomaden den Bauern unterlegen; sie konnten sich nurmehr auf wüstem Boden oder im Dickicht der Wälder erhalten.
Fasziniert schauten die Nomaden-Kinder auf das Treiben im Dorf und die sonderbaren Verrichtungen der Bewohner – doch die Eltern zogen sie fort, tiefer in den Eichenwald hinein. Bauern und Nomaden begegneten einander mit Verachtung. Als Waldmenschen und Wilde galten die Nomaden, unstet wie Tiere auf der Suche nach Beute.
Offene Feindschaft entstand, wo Nomadenstämme sich darauf verlegten, Bauerndörfer zu überfallen und die Fleischvorräte zu rauben; mit dem Korn, das in den Häusern lagerte, konnten sie nichts anfangen.
Unweit des Dorfes gelangten die Nomaden an einen seltsamen Ort. Auf einer Anhöhe war der Wald kreisförmig gerodet worden. Hier erhoben sich fünf lange überwachsene Hügel; drei davon hintereinander, so dass es schien, als seien sie ein einziger. Staunend umkreisten die Nomaden die Gebilde.
Fast hätten sie sie für eine Laune der Natur gehalten. Doch ein Hügel war beschädigt: unter der brüchigen obersten Erdschicht kam eine Lage mit Lehm verbackener Steine zum Vorschein. Die Nomaden rätselten über den Sinn der Anlagen, die offenbar von den Bauern stammten.
Jeder Hügel war zwischen 30 und 50 Meter lang und acht Meter breit – von ähnlichen Maßen wie die Häuser des Dorfes. Und hohl waren die Gebilde auch.
Ein großer Findling verwehrte zwar den Eingang in den Tunnel, aber die vereinte Kraft der Sippe schob ihn beiseite. Die Nomaden dachten, dass diese Höhle ihnen als Quartier für die nächste Nacht dienen könnte. Sogleich verwarfen sie den Gedanken wieder.
Das Innere war knapp zwei Meter breit, modrig und außerdem bereits bewohnt: von Toten. Die Nomaden schauderten – nicht über die Gebeine, sondern über den Kult, den die Bauern mit ihnen trieben. Die Erdhügel im Wald waren wie ein Gegenstück zum Dorf der Lebenden: eine Wohnstatt der Verstorbenen.
Im Windschutz der Hügel bereiteten die Nomaden ihr Lager. Am nächsten Morgen wurden sie von den Bauern entdeckt und mit Knüppeln vertrieben. Soviel begriffen die Nomaden, dass das Totendorf den Bauern heilig war, und flohen in den Wald.
Die Ruinen des Totendorfs stehen noch. Die Umfassungssteine von vier Gräbern haben überdauert. Hünengräber heißt sie der Volksmund. Als Werk von Giganten beschrieb sie 1660 ein Reisender, der sich nur vorstellen konnte, dass sagenhafte Riesen diese gewaltigen Steinblöcke zu bewegen vermocht hatten.
Nicht einmal sagenhaft sind die Zeiten, in denen die Hünenbetten entstanden. Kein Wort ist aus jener Epoche überliefert und in diesen Breiten auch kein Bild an einer Höhlenwand. Spärlich sind die Zeichen, die vom Neolithikum, der Jungsteinzeit zwischen 4000 und 1500 vor der Zeitrechnung künden: außer einer Handvoll Alltagsgegenständen aus den Gräbern allein die Ruinen dieser selbst. Zwischen den Bruchstücken, die die Archäologen zusammengetragen haben, klaffen Lücken und Fragen, auf die es nur spekulative Antworten gibt.
Aus Knochenfunden weiß man ein wenig über die Menschen. Entsprechend frisiert und gekleidet würden sie heutigentags nicht durch Körperbau und Gesichtsschnitt auffallen. Etwas kleiner waren sie im Durchschnitt: die Männer zwischen 165 und 170 Zentimeter, Frauen zehn Zentimeter weniger. Die Lebenserwartung der Männer lag bei 36 Jahren, die der Frauen bei 28.
In der Jungsteinzeit – in Nordeuropa 2000 Jahre später als im Süden und Osten – vollzog sich die erste große Umwälzung in der Menschheitsgeschichte: Die Nomaden wurden sesshaft, Jäger und Sammler entdeckten Ackerbau und Viehzucht. Die Verwandlung geschah nicht plötzlich und nicht gleichzeitig. Generationenlang haben beide Lebensformen nebeneinander existiert, bis der Bauer den Nomaden von dem Land, das er in Besitz nahm, endgültig verdrängt hatte.
Mit der Landwirtschaft kamen neue Weltanschauungen auf. Deren Restzeichen, Megalith- und Hügelgräber, findet man an drei Dutzend Plätzen in den niedersächsischen Landkreisen Stade, Bremervörde und Harburg wie in Soderstorf oder Heidenau oder bei Daudieck.
Der Nomade verscharrte seine Nächsten, wo sie fielen. Damit die Leiche nicht von Tieren gefressen werden konnte, wurde sie vielleicht auf einem Gerüst aufgebahrt. Oder sie wurde verbrannt und die Asche verstreut. Das Grab markierte der Nomade allenfalls mit einem Stein – falls er je dort wieder vorbeikommen sollte.
Der Bauer, der im Alltag Vorsorge traf, der mit den Jahreszeiten arbeitete, sorgte auch über den Tod hinaus vor. Er heiligte einen Ort in seiner Umgebung und baute den Verstorbenen ein Haus – für die Ewigkeit.
Das Totenhaus war unvergleichlich dauerhafter als die Hütte, die er zu Lebzeiten bewohnte: Das Dasein hienieden galt dem Bauern als bloßer Schatten der Existenz im Geister- und Götterreich.
Seine Hütte war aus Holzpfosten errichtet, zwischen denen Weidengeflecht gespannt war, das mit Lehm verschmiert wurde; sie hielt günstigenfalls 30 Jahre, eine Generation lang. Die Beinhäuser bestanden aus tausenden von Steinen, darunter Findlinge von bis zu zehn Tonnen Gewicht. Mittels einfacher, aber ausgeklügelter Mittel – einer schiefen Ebene aus Sand, Hebeln und Walzen – wurden die Brocken bewegt.
Obwohl die Erde im Laufe der Jahrtausende abgeflossen ist, obwohl die Decksteine herabgestürzt sind, obwohl die meisten Steine fortgetragen wurden, erinnern die Ruinen der Gräber bis heute an den festen Glauben der Bauern an ein Jenseits – von dem ansonsten keine Einzelheit bekannt ist.
Für den Nomaden war das Dasein flüchtig, er lebte mit dem Wind, und dementsprechend luftig waren seine Götter. Die Sehnsucht des Bauern, seine Verwurzelung mit dem Boden, dort zu liegen wie ein Stein, ließ ihn diese Burgen schaffen, in denen er die Gebeine seiner Angehörigen hortete.
Im Jahr 1900 entgingen die »Pyramiden« knapp der Vernichtung. Man wollte die Steine zu Schotter zerschlagen und beim Straßenbau verwenden. Der Stader Geschichts- und Heimatverein brachte den Landkreis dazu, das Gelände zu kaufen und unter Schutz zu stellen. 1905 fand eine erste wissenschaftliche Untersuchung statt.
Von den Beigaben hatten die Grabräuber vergangener Jahrhunderte fast nichts übrig gelassen. Zudem war der Platz in späteren Epochen ebenfalls als Friedhof genutzt worden.
Literatur
D. Alsdorf: Hügelgräber, Burgen, Kreuzsteine, Stade 1980 | E. A. Friedrich: Wenn Steine reden könnten III, Hannover 1995 | L. Lühmann: Die Hünenbetten bei Grundoldendorf Kreis Stade, Stader Jahrbuch 1969 | W. Wegewitz: Die Gräber der Stein- und Bronzezeit, Hildesheim 1949

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