Bemerkungen zum »Think Tank Stade«
Folge 1 (ab Februar 2018) ■ Folge 2 (ab Mai 2018) ■ Folge 3 (ab Oktober 2018)
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23. Januar 2019
Die Ankündigung für den gestrigen Dienstag:
Einige Jahre lang war ich Stammgast im Museum. Für meine Zeitungsserie mit → Geschichten aus der Geschichte kamen vier Arten von Illustrationen in Frage. Zeitgenössische Darstellungen oder Fotos aus den Archiven ließ ich außer Acht; die wurden mir nicht honoriert.
Das optisch Historische wurde in einer Zeichnung eingefangen, für die ich auf authentisches Bildmaterial zurück griff. Vielfach gab es keines; zumal bei den Kriminalgeschichten zeigte die Zeichnung, wovon es keine Bilder geben kann.
Außerdem fotografierte ich die Schauplätze der Geschichte in ihrem aktuellen Zustand, und ich hielt Ausschau nach Objekten, die zur Geschichte oder ihrer Epoche gehörten. Also lichtete ich Exponate im Schwedenspeicher ab.
Seit dem Umbau vor zehn Jahren hatte ich das Haus nicht mehr betreten. Wozu auch? Mit der Lokalhistorie bin ich vertraut, und außer im archäologischen Bereich dürfte es kaum neue Exponate geben.
Ich habe mich geirrt. Das Museum ist nicht wiederzuerkennen. Ehedem war es eine Art Schatzkammer, in der die einzelnen Objekte bestaunt werden konnten. Nur wer über ihren historischen Platz bereits im Bilde war, konnte sie einordnen. Zu einem Verständnis der Stadtgeschichte trug die Präsentation wenig bei, weder für Einheimische noch Touristen.
Im Foyer, wo damals ein Modell der Stadt stand, befindet sich immer noch eines, aber als Teil eines digitalen Abrisses der Stadtgeschichte anhand von sechs charakteristischen Abschnitten, die auf die in der Ausstellung weiter eingegangen wird. Die Exponate sollen nicht begafft, sondern begriffen werden.

Darauf lief auch hinaus, was in der Runde aus neun Leuten besprochen wurde. Die Digitalisierung eröffnet neue Räume; aber sie müssen betreten werden. In den gesellschaftlich relevanten Bereichen sieht es aus wie früher im Museum. Ein Stadtmodell, das gefällig(st) anzuschauen ist, aber nichts verständlich macht.
Um nur das Gebiet herauszugreifen, in dem ich mich am besten auskenne: bei aktuellen Informationen ist der Bürger auf eine Zeitung angewiesen, die zwar online erscheint, aber die digitalen Möglichkeiten nicht nutzt, um journalistische Aufklärung zu leisten, sondern um sich deren Simulation praktisch zu erleichtern.
In prädigitaler Zeit mussten die Pressemitteilungen und Agenturmeldungen nochmals abgetippt werden, heute werden sie am Rechner kopiert. Indem diese stets vor dem Erscheinen in der Online-Ausgabe der Zeitung und auf jeden Fall am Tag vor der Druckausgabe verfügbar sind, sammelt die Zeitung bloß, was andere bereits in die Welt gesetzt haben.
Der Betreiber des Think Tank berichtete von seinen Erfahrungen bei Interviews mit Bürgern: über deren Verwunderung, dass überhaupt jemand darauf kam, sie nach ihren Ansichten zu fragen.
Wie ich unlängst herausstrich (→ Das »Prügelvideo« von Stade): In einer Stadt von knapp 50.000 Einwohnern ist »Bürgernähe« nicht schwer herzustellen. Die Journalisten hingegen machen aus dem, was ihr Alltag sein sollte, eine Extra-Serie, bei der sie »on tour« sind in Stadtteilen, die die sonst höchstenfalls durchfahren und nun ausnahmsweise mit gewöhnlichen Bürgern reden statt mit ihren Gewährsleuten in den maßgeblichen Kreisen.
Die Digitalisierung eröffnet den Bürgern Möglichkeiten, sich ohne medialen Filter selbst zu Wort zu melden, die sie wohl auch nutzen. Gleichwohl gibt es kein virtuelles Stade, das als solches identifizierbar wäre. Ein digitalisiertes Museum zwar, aber keine ebensolche Gegenwart. Auf twitter etwa findet das Geschehen in der Stadt ausschließlich im Zerrspiegel des Lokalanzeigers statt.
Im Museum verbindet sich die digitale Projektion mit dem Stadtmodell. Der virtuelle Raum, der die wirklichen Gassen technisch überblendet, ist (bis auf den touristischen Sektor, zu dem das Museum beiträgt) unerschlossen.
In der Think Tank-Runde kam die Idee eines »Bürgerportals« auf, einer Art virtuellen Marktplatzes. Dazu muss ich nicht mehr ausführen. Meine Bude steht schon.
Mehr hier → Think Tank Stade
12. Februar
Volksverdummung anno 2019: »WLAN-technisch wird die Stader Innenstadt immer attraktiver«, meldet das Stader Tageblatt. »Vertreter von Volksbank und TAGEBLATT weihten am Dienstag die Hotspots am Hafen und am Fischmarkt ein. Begeistert dabei: Bürgermeisterin Silvia Nieber, die sich über das kostenlose Angebot für Besucher der Innenstadt freut.«
Wie Leser dieses Blogs wissen, war freies WLAN an Fischmarkt und Hafen bereits vorhanden. (→ WLAN-Tankstellen in Stade) Was ein zusätzliches Angebot bringt? Einen Werbeartikel im Lokalanzeiger.
Und ganz nebenbei: für Einwohner wie mich ist das WLAN nicht gedacht, sondern für »Besucher der Innenstadt«. Danke sehr für die Missachtung.
18. Februar
Vor 20 Jahren begann das digitale Klonen der analogen Welt. Wer keine Homepage oder keinen facebook-Account hat, existiert nur halb. Stade ist in der digitalen Welt noch unbedeutender als in der realen. Schon gar nicht gibt es in der digitalen Sphäre etwas, das in der analogen nicht bereits vorhanden ist. Wo die Digitalisierung eine Erweiterung sein könnte, wird in Stade die Eingeschränktheit umso deutlicher. Ein Ort, der bisher digital nicht vertreten war, wirft seit kurzem einen digitalen Schatten: der Friedhof Hohenwedel.
3. März
Alltagsaufnahmen
6. März
Manches ändert sich, anderes ist ewig. Was ewig ist, entgeht uns, weil wir nicht lange genug leben. Aber wenn etwas sich zu unserer Lebenszeit nicht ändert, ist das Ewigkeit genug.
Beim Stöbern stoße ich auf einen Text aus den Anfangsgründen des Internet. Im Unterschied zu den Generationsgenoss(inn)en unter den gegenwärtigen Herrschaften, die sich für ihre »Innovation« loben, war ich damals lange schon digital unterwegs und muss keine Papiere wälzen, um das Datum herauszufinden, an dem meine Betrachtungen analog publiziert wurden. Verrate ich es jetzt schon, denken Sie vermutlich: so lange her, das ist überholt, das hat sich verändert. Lesen Sie also erst, vergleichen Sie und urteilen dann.
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»Wir sind an Ihren Meinungen und Ansichten interessiert«, steht über dem Gästebuch der Internet-Seiten der Stadt Stade. Auf einer privaten Stade-Homepage, die mehr Links enthält als die offizielle Webpräsenz (»Werners Zentrum«, in jeder guten Suchmaschine) las ich folgende Bemerkung über das Gästebuch: »In Stade ist keinerlei Kritik erlaubt. Solche Einträge werden sofort wieder gelöscht. Sei es Kritik an der Homepage der Stadt oder an der Politik der Stadt Stade.«
Tatsächlich besteht das Gästebuch von stade.de aus Einträgen wie: »Stade ist eine Träumerstadt«, »sie hat mich verzaubert«, »Stade ist ein Juwel«.
Ich habe also die Probe aufs Exempel gemacht und in ein paar Zeilen meine Verwunderung darüber formuliert, dass behauptet wird, kritische Einträge würden sofort wieder gelöscht. Und dass doch niemand so unverbesserlich sein könne, um an Kritik nicht wachsen zu können.
Und siehe da: Am nächsten Tag schon war der Eintrag gelöscht.
Das ist zwar ein starkes Indiz, aber kein Beweis. Und jeder sollte eine zweite Chance haben. Also noch ein Versuch, sehr zurückhaltend: »Gibt es eigentlich auch etwas Unschönes in Stade? Gibt es in Stade Probleme?«
Darauf schrieb ein anderer Besucher sogar eine Antwort: »Nein, Stade ist nur schön! Was dachtest Du denn?« Am folgenden Tag waren wir beide gelöscht.
»Werners Zentrum« argwöhnt: »Sind die ›lobenden‹ Eintragungen dort überhaupt echt oder werden sie von Mitarbeitern der Stadtverwaltung gemacht?«
Das habe ich den Verwalter des virtuellen Stade auch gefragt. Und keine Antwort erhalten.
»Wir sind an Ihren Meinungen und Ansichten interessiert.« Wenn sie uns passen.
(29. August 2000)
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Nachdem ich diese Reminiszenz abgesetzt habe, lese ich im Lokalanzeiger: »Die Digitalisierung verändert die Welt, aber wie läuft das im Mittelstand und im Gesundheitswesen? Das war die Frage beim dritten Zukunftsforum des Landkreises, an dessen Ende das Staunen groß war.« Das Bild dazu zeigt einen Mann, der in oder auf etwas schaut, das er vor sein Gesicht hält. Sichtklappe, Scheuklappe, wie heißt das korrekt? Quod erat demonstrandum.
10. März
Jede(r) Bewohner(in) hat ein eigenes Stadtbild, das von den jeweiligen Bewegungen und bevorzugten Aufenthaltsorten abhängig und zwangsläufig eingeschränkt ist. Diese erlebte Landkarte wird überblendet von einer, die aus Erzählungen anderer besteht. In denen kann, so schwer vorstellbar das in einer Kleinstadt erscheint, von Gegenden und Gassen die Rede sein, die selbst nie betreten wurden.
Auf dem imaginären Stadtplan ist das Altländer Viertel besonders markiert. Bei einer Umfrage unter der Einwohnerschaft käme heraus, dass zwar alle etwas über die betreffenden Straßenzüge zu sagen hätten, aber die allermeisten nie einen Fuß dorthin gesetzt haben.
Dieser Tage war das Quartier wieder einmal in den Schlagzeilen. An den ersten beiden Wochenenden im März 2019 waren allem Anschein ein oder mehrere Brandstifter unterwegs. In einer Werkstatthalle, einer Gartenlaube, einem Lagergebäude und auf freien Flächen wurde gezündelt. Obwohl die Tatorte im »Bereich des Stader Güterbahnhofs« lagen, versäumte der Lokalanzeiger nicht, das Altländer Viertel zu erwähnen und dieses als Tatort besonders hervorzuheben.
Ach so, na klar, dann wissen wir ja Bescheid, denken sich die Leser(innen) und haken das Thema ab.
Die geografische Nähe der Tatorte zum Altländer Viertel auf der geistigen Landkarte des Zeitungsredakteurs besagt nichts über die Herkunft des oder der Brandstifter, die damit suggeriert werden soll. Wer die Stadt, über die er berichtet, vornehmlich vom Durchfahren und punktuellen Aufenthalten im Gefolge von Feuerwehr und Polizei kennt, wird leicht Verbindungen herstellen, wo keine sind.
Das Gelände rund um den Güterbahnhof ist vergleichsweise abgelegen und sowohl für Durchfahrende wie Passanten schwer einsehbar, außerdem stellenweise ruinös und insoweit attraktiv für Brandstifter. Die Entfernung zum Altländer Viertel ist größer als die Zeitungsartikel denen vormachen, die die betreffenden Strecken lediglich aus dem Auto kennen. Der oder die Brandstifter werden mutmaßlich zu Fuß unterwegs gewesen sein. (Ich entsinne mich nicht, dass in einem der vielleicht zwei Dutzend Fälle, von denen ich weiß, darunter Serienbrandstifter, einer von ihnen [es waren sämtlich Männer] mit dem Auto zum Zündeln gefahren wäre; Fahrräder kamen wohl zum Einsatz.)
Per pedes das Altländer Viertel vom Güterbahnhof ein gutes Stück Weg entfernt und außerdem als potenzieller Fluchtweg problematisch. Vom Kreisel am früheren Postamt, am Landesarchiv entlang bis zum Beginn der Straße, die nicht mehr Breslauer heißen soll, ist jeder Passant weithin sichtbar und fällt auf, noch dazu, wenn er in Eile ist.
Ich muss mir nicht die Gedanken der Polizei machen, und natürlich ist es zu diesem Zeitpunkt nicht auszuschließen, dass der oder die Brandstifter in irgendeiner Verbindung mit dem Altländer Viertel stehen. Dessen Erwähnung in den Berichten über die Brandstiftungen folgt jedoch vor allem der Redakteursgeografie und der Linie des Lokalanzeigers, jede noch so oberflächliche Gelegenheit zu ergreifen, den Stadtteil mit Kriminalität in Verbindung zu bringen und als »Problemviertel« zu markieren.
(Siehe → Mordfall Marinowa in Stade ■ → Einsickernde Hetze ■ → Silvester an der Breslauer ■ → Saniertes Ghetto)
Eben lese ich das Programm des Think Tank Stade für diesen Monat. Für Freitag, den 22. März, steht eine Podiumsdiskussion im Schwedenspeicher an über »Neue Ideen und Formate für alte Strukturen in Stadtteilen und Quartieren«, bei der es auch um das Altländer Viertel gehen soll.
Dazu heißt es: »Im Altländer Viertel etwa sind Kommune, Vereine, Projektentwickler und das Stadtteilforum seit Jahren darum bemüht, den Stadtteil aus dem Problemimage herauszuführen.« Als Gewährsfrau ist dazu die »Quartiersmanagerin« eingeladen. Sie wird voraussichtlich das sagen, was die Programmankündigung unterstellt: am »Problemimage« sind nicht die Kommune, die Vereine, die Projektentwickler und das Stadtteilforum Schuld, sondern …
22. März
Das Auto des Think Tank Stade ist weg und parkt nicht mehr vor dem Schwedenspeicher. Nun hängen dort Banner mit Suchanzeigen, und Postkarten kursieren, mit denen nach Stadtheldin, Stadtschwärmerin, Stadtnetzwerkerin, Stadtbummler und Stadtneurotiker gefragt wird. Falls Sie einen dieser Typen oder Typinnen entdecken …
24. März
Der Wahlkampf ist eröffnet. Hä? Was für eine Wahl? Der Zeitarbeiter und der türkische Rentner, die ich treffe, kurz nachdem ich das erste Wahlplakat fotografiert habe, dass mir untergekommen ist, haben nichts davon gehört.
Im Lokalanzeiger wurde schon vor Wochen die Trommel gerührt, und die Maßgeblichen Dreihundert kamen zu Veranstaltungen zusammen, die als Podiumsdiskussionen maskiert waren. Der Rest der Bevölkerung wird nun erst aufmerksam gemacht. Mehr als ein Achselzucken ist von dort nicht zu erwarten. Die Hälfte der Berechtigten wird wie üblich der Stimmabgabe fern bleiben.
Die aktuelle Bürgermeisterin, die erneut kandidiert, hat eine Homepage erstellen lassen. Wie? Hatte sie noch keine? Wozu auch. Mit »Transparenz« kann man die Angehörigen der politischen Klasse über den Friedhof jagen wie mit Kreuz, Knoblauch und Weihwasser einen Vampir.
Die Öffentlichkeitsarbeit hat der Lokalanzeiger so vollständig übernommen, dass Partien und Personen des öffentlichen Lebens ihre eigenen Internetauftritte vernachlässigen können. Inzwischen ist es ein Treppenwitz, dass Deutschland in technischer Hinsicht ein digitales Entwicklungsland ist. Und das soll keine Auswirkungen auf die Netzstrukturen und die verbreiteten Inhalte haben?
Die Technik-Konzerne verlegen sich inzwischen auf die Produktion von »Content«, weil eine Datenautobahn Autos braucht, die darauf fahren. Autobahn … Die in der Nachbarschaft, die ich in den vergangenen Monaten zufällig häufiger befahren habe (→ YouTube), bietet sich als Analogon an. Technisch keine Probleme mit der Anlage, aber zielführend ist sie nicht.
Unter der Parole »Verkehrsinfrastruktur nachhaltig verbessern« lese ich auf der Homepage der Bürgermeisterin, sie setze sich ein für »zukunftsorientierte Wasser- und Schienenwege sowie Straßen; Ausbau des Seehafens; Verlegung des Industriegleises an die Autobahn«.
Stocken und Stillstand auf den Pendlerstrecken von Straße wie Bahn nach und von Hamburg steigern sich kontinuierlich und werden im Laufe des Jahres wie lange bekannt weiter zunehmen. Den Bahnverkehr hat die politische Klasse vor wenigen Jahren überhaupt erst entdeckt und verfügt, im Spiegel des Lokalanzeigers gesehen, über wenig eigene Anschauung.
Innerstädtisch ist der rasant anwachsende Radverkehr ein drängendes Problem. Die Infrastruktur ist dieselbe wie vor zwei Jahrzehnten, als ich als Radfahrer, der nicht Kind oder Hausfrau aus der Unterschicht ist, eine rare Ausnahme war. Inzwischen habe ich das Rad abgestellt, weil die Gefahren unkalkulierbar zugenommen haben und ich nicht mehr in dem Alter bin, in dem ich auf den Straßen von Berlin Rad fuhr und lebend davon kam, weil die Autofahrer Acht gaben – sofern sie nicht aus Norddeutschland kamen und daran gewohnt waren, Radfahrer nicht als Verkehrsteilnehmer anzusehen. Die Rolle haben sie in Stade noch immer, weshalb sie die Straßen meiden und infolge fehlender Radwege die Gehsteige okkupieren und sich dort gegenüber den Fußgängern wie Autofahrer ihnen gegenüber verhalten. (→ Kein Pardon für Passanten)

Die Bürgermeisterin bekundet, sich einsetzen zu wollen für die »Interessen von Fußgängern, Radfahrern, ÖPNV-Nutzern und Autofahrern«. Wie sie das bewerkstelligen will, sagt sie nicht. Da hätten mich Details mal interessiert. Das Übrige gründlich zu studieren, habe ich mir erspart. Geht mich alles nichts an.
Dass ihre Partei, die SPD, sich als Volkspartei zu begreifen begann, die Arbeiter und Unternehmer zugleich vertreten kann, besiegelte ihren Abgang, der sie an den Rand des Untergangs geführt hat. Was die Bürgermeisterin verlautet integriert ganz selbstverständlich Vokabular von CDU und Grünen und weist voraus auf die ganz große Koalition, die im Rathaus herrscht und weiter herrschen wird, gleichgültig, wie die Ämter verteilt sind.
Das ganze Land ist zerstritten; die Zeit der Volksparteien ist abgelaufen. Um zu Kompromissen zu gelangen, genügt kein aufgesetztes Lächeln; Harmonie ist utopisch. Das ganze Land? Nein, in »unserer Hansestadt Stade« geht es weiter wie gehabt, alle eine große Brüderschaft; man kennt keine Parteien, nur Deutsche, wie schon der hier bis heute bewunderte Kaiser sagte.
Ich glaube, von einem Gegenkandidaten der CDU gelesen zu haben, dessen Name mir bestimmt wieder einfällt, wenn ich mich lange genug besinne. Wäre er nicht schon deshalb eine Alternative, falls er nicht vorgäbe, alles unter einen Hut bringen zu wollen, was nicht nahtlos zusammen passt, und Harmonie und Eintracht zu beschwören wie die gegenwärtige Amtsinhaberin?
Anders als der Zeitarbeiter und der türkische Rentner weiß ich zwar, dass Wahlkampf ist und befasse mich damit. Aber es ist vergebliche Mühe; es geht mich wie die anderen nichts an. Der eine wird nicht wählen gehen, der andere darf nicht, obwohl er seit 40 Jahren im Land lebt. Ich überlege einmal mehr, hinzugehen und mein Wahlrecht wahrzunehmen, um den Zettel auf die eine oder andere Art ungültig zu machen.
27. März
Kein Aprilscherz: »Stader können ihre Altstadt bald ertasten«, titelt der Lokalanzeiger. Sind die Gassen und Winkel der Inneren Stadt etwa virtuell und lassen sich nicht anfassen? Der dummen Schlagzeile folgen alberne Zeilen, die leider der Wirklichkeit entsprechen.
Der »Lions Clubs Aurora«, einer Zweigstelle der Maßgeblichen Dreihundert, die in der Stadt jenseits aller demokratischen Spielregeln das Sagen haben, hat ein Modell der Puppenstube (siehe → Folge 2 am 23. Mai 2018) in Auftrag gegeben, eine Bronze im Maßstab 1:600. Das soll Kunst sein, behauptet unter anderem der ehemalige Chefredakteur des Lokalanzeigers und reklamiert, dass sein Spielzeug im öffentlichen Raum aufgestellt werden soll, am besten auf dem Fischmarkt, wo er es von seiner Stammkneipe immer im Blick hat und jedem, der es nicht wissen will, erzählen kann, dass er für diese Bereicherung des Stadtbildes gesorgt hat.
»Das Blinden-Tastmodell soll nicht nur touristisch und künstlerisch ein attraktiver Anziehungspunkt sein«, wird von den Reichen und Schönen der Stadt verlautet. »Es solle auch ein humanitärer Beitrag für Menschen mit Sehbehinderung und deren Integration sein.« Was der Blödsinn genau kostet, wird nicht verraten. Ein paar zehntausend Euro wird der »Lions Clubs Aurora« wohl dafür berappen. Immerhin. Es gab schon Unverschämtere, die sich ihre Spielzeuge von der Stadtverwaltung haben bezahlen lassen.
Stade im 21. Jahrhundert: die nicht gewählten Herrscher der Stadt zeigen dem Rest der Bevölkerung, die sie für blind und blöd halten und auf die seit dem Mittelalter scheißen, wie unverhältnismäßig gut es ihnen geht und dass sie ihre Duftmarken setzen können, wo sie wollen. Nun, falls das Modell auf den Fischmarkt kommt, pisse ich darauf.
4. April
Ein anderes »Geschenk« der selbsterklärten Elite der Stadt an die Bürgerschaft ist defekt. Die Platte in der Mitte der »Hanse-Rose«, mit der die Stadt eine Weltläufigkeit demonstriert, über die sie nicht verfügt, wackelt. Bis jemand darüber stolpert. Wer ist eigentlich für die Wartung zuständig? Die edlen Spender doch gewiss nicht. Die sonnen sich im Ruhm, während andere sich um den Alltag kümmern müssen.
11. April
Im Mai wird das höchste Amt der Stadt durch Wahl vergeben. Es scheint vier Kandidaten zu geben, von der SPD, der CDU und der Partei der Piraten sowie einen oder eine, von dem oder der im Lokalanzeiger nur für zahlende Kunden berichtet wird. Um wen es sich handelt, erfährt die Wählerschaft womöglich erst am Wahltag, sofern sie sich zur Stimmabgabe entschließt und den Namen auf dem Wahlzettel liest.
Wahlkampf wird pro forma gemacht, durch Plakate und Auftritte in Veranstaltungen, die vor allem deshalb stattfinden, damit der Lokalanzeiger darüber berichten kann. In meinem Umfeld bin ich der Einzige, der die Wahl zur Kenntnis nimmt; die anderen haben nicht einmal ein Achselzucken dafür übrig.
Bürgernähe ließe sich in einer Kleinstadt leicht herstellen, wird aber von der politischen Klasse ängstlich gemieden. Man geht eifrig miteinander und den übrigen der Maßgeblichen Dreihundert um, achtet aber sorgfältig darauf, nicht mit 90 Prozent der Einwohnerschaft in Berührung zu kommen. Seinen Artikel über die Kandidaten verbreitet der Lokalanzeiger selbstverständlich nicht über seine facebook-Site. Da könnte ja jemand, der nicht zur zahlenden Kundschaft gehört, einen Kommentar hinterlassen. Etwa den, warum die übrige Wahlbürgerschaft über eine vierte Kandidatur rätseln muss. (Zumal es sich um die einer selbst erklärten »Spaßpartei« handelt, die bereits im Mai 2018 erklärt wurde und nicht die vom Lokalanzeiger behauptete »Überraschung« ist.)
Die Kandidatur des Piraten wurde bereits vor einem Jahr angekündigt, im Lokalanzeiger versteht sich. Er hat, wenn ich es mir richtig zusammensetze, ein Mandat im Stadtrat und im Kreistag. Mir war er gleichwohl unbekannt. Auf facebook und ihrer eigenen Homepage sind die Piraten zwar deutlich präsenter als die anderen Parteien, aber das macht nicht viel aus, denn hinsichtlich lokaler Vorgänge erfährt man von ihnen fast nichts und nur das, worüber auch alle anderen schwätzen sollen. Man verlinkt auf den Lokalanzeiger und signalisiert, dass man gern mitspielen möchte in den maßgeblichen Kreisen.
Ich könnte diese Behauptungen eingehend belegen, aber die Mühe lohnt nicht. Der Pirat könnte allenfalls einen Achtungserfolg erringen, dazu aber müsste er ausscheren aus dem Chor und seine eigene Stimme so deutlich erheben, dass man ihn auch außerhalb seiner Filterblase vernehme. Hat er ein Jahr lang nicht getan und wird es ihm in den verbleibenden Wochen schwerlich gelingen. Hat es, wenn ich die jüngsten Wortmeldungen von ihm und seiner Partei im Internet heranziehe, auch nicht vor.
16. April
Wie an anderer Stelle bereits bemerkt (→ Folge 3 am 28. November 2018) bietet Stade nur Touristen architektonisch etwas Neues, das ein Altes ist, und halten sich die Novitäten für Einheimische in äußerst engen Grenzen.
Dennoch hat auch Stade einen Beitrag zu »100 Jahre Bauhaus« im Programm für Passanten. Der Kontrast der alltäglichen Abseite zum Schaulauffeld für Gäste könnte nicht größer sein.

29. April
Stade kennt keine Parteien, nur anständige Einwohner. Wahlen sind eigentlich überflüssig.
In einem aktuellen Bericht der Kreiszeitung besteht der Unterschied zwischen der SPD-Kandidatin und dem CDU-Kandidaten im Geschick, sich den Wählern zu präsentieren. Zwischen was diese zu wählen hätten, wird nicht erörtert.
Auch Bündnis90/Die Grünen und Wählergemeinschaft WG, die keine Kandidaten aufgestellt haben, wissen nicht, was die Wahl soll, und können daher auch keine Empfehlung geben: »Man habe sowohl mit Silvia Nieber als auch mit Sönke Hartlef in der Vergangenheit gut und vertrauensvoll zusammengearbeitet und werde das auch in Zukunft tun.«
Wie die Wahl ausgeht, spielt keine Rolle: geht alles weiter wie gehabt. Wie unter Wilhelm II., der keine Parteien, nur Deutsche kannte.
Was von den Grünen quasi off the records verlautet, klingt auch nicht nach Politik in der Demokratie, sondern nach Ehrencodex. »Ich glaube nicht, dass Hartlef ›kernig‹ genug ist, um den Rathaus-Mitarbeitern zu zeigen, wo es langgeht.« Klingt, als sei das Rathaus eine Art Kaserne. Kaiserreich, ich sag’s ja.
Der Amtsinhaberin wird vorgehalten, sie »fremdelt oft mit den Bürgern«. Dem muss ich als Bürger, der in Stade gemeinhin nicht als solcher gilt, widersprechen. Bei meiner ersten Begegnung mit der Bürgermeisterin als Passant in den Gassen der Inneren Stadt wurde ich eines vollkommen unverdienten Lächelns teilhaftig. Und auch nachdem sie inzwischen wissen könnte, wie unverdient es ist, muss ich der Kandidatin aus dem Weg gehen, um kein Lächeln mit ihr zu tauschen.
28. Mai
Zum Projekt der »Bürgerbeteiligung« fällt mir weiterhin nichts anderes ein als zu Anfang: geht Gesindel wie mich nichts an. Stimmen, die nicht im Chor behaglich-behäbiger Bürgerlichkeit mitsingen können oder wollen, haben gefälligst zu schweigen. Und gibt man vor, mit dem Gesindel reden zu wollen, dann nur, insofern es sich an die Regeln der kaiserzeitlichen Klassengesellschaft hält und die Scheuklappen der Bürger unangetastet lässt.
4. Juni
Seiner Funktion als Feigenblatt für anti-demokratische Strukturen kommt der Think Tank mit Verve nach. Am 11. Juni soll ein »Ideen-Workshop zur Gestaltung des Stadtraums« stattfinden anlässlich des »Ideenwettbewerb[s] für die zukünftige Gestaltung und Nutzung« des Platzes Am Sande. (→ Der leere Kasernenhofplatz)
Als wären die Herrschenden an Ideen aus der gemeinen Bürgerschaft interessiert. Als würden sich zu den Terminen des Think Tank gemeine Bürger (oder gar Gesindel) versammeln und nicht ausschließlich solche, die bereits mitwirken an der Verhinderung von Demokratie in der »Stadtgesellschaft«. Als gäbe es eine solche und nicht diverse Parallelgesellschaften, von denen nur eine zählt, die der Maßgeblichen Dreihundert. Als würden für die Verhältnisse in der Stadt Vernunft oder Fantasie von Belang sein und nicht ausschließlich Herkunft und Vermögen. Insofern werden die Ausgebeuteten und Verarschten vom Think Tank auch noch verhöhnt.
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