Bemerkungen zum »Think Tank Stade«

Folge 1

23. Mai 2018

Trotz aller Kontrolle über den einzelnen Text kann ich nicht absehen, welche Aspekte an ihm hervortreten, wenn er als Teil einer Folge erscheint. Bei der Durchsicht von Blog-Beiträgen auf Tippfehler, die mit zeitlichem Abstand sichtbarer werden, fällt mir die Wiederholung einer Formulierung in unterschiedlichen Kontexten auf: »vor 30 Jahren«.

Spricht da der Alte von seinen Mannesjahren und handelt es sich bloß um eine Idiosynkrasie? Auch das, gewiss, aber nicht aus Sentimentalität, sondern in Hinblick auf die gegenwärtigen Anlässe für meine Erinnerungsschübe.

Um Geschichte und Gegenwart in ein Verhältnis zu setzen, bedarf das Bewusstsein einer gewissen Zeit. So albern es klingt, wenn Kinder davon sprechen, »als sie noch jünger waren«, so haben die allermeisten 40-Jährigen keinen Grund, die eigene Lebenserfahrung mit der Zeitgeschichte in Beziehung zu bringen.

In einem Text über die Alternative für Deutschland standen die 30 Jahre für die »Ungleichzeitigkeit der Provinz«, wie Ernst Bloch das Gefälle nannte zwischen einer Großstadt wie Hamburg und einer Kleinstadt wie Stade, und die Abgründe des Begriffs »Heimat«, den man in der Provinz gegen die Annäherung an urbane Verhältnisse in Stellung bringt.

Vor 30 Jahren kamen in den Einkaufszeilen von Hamburg zwischen Hauptbahnhof und Gänsemarkt die lebenden Statuen auf, die seit zwei, drei Jahren in der Inneren Stadt von Stade stehen und einen Obulus für den Stillstand im Getriebe einstreichen.

Wie man sich zwischen Bahnhof und Hafen an Straßenmusiker und Bettler gewöhnt hat, muss mir einfallen, als ich den CDU-Bundestagsabgeordneten bei der Heimkehr mit dem Zug bekoffert durch die Holzstraße ziehen sehe und er eine Gruppe Musikanten passiert. Seinen Namen registrierte ich erstmals, als er sich einen zu machen versuchte, indem er die Einkaufsgassen von denen säubern wollte, die dort nichts zu beschicken hatten, sondern sich nur aufhielten; es sei denn als zahlende Touristen, versteht sich.

Bevor ich an einem der nächsten Tage auf dem Fischmarkt anlange, erreicht mich bereits die Hiobs-Botschaft. Jemand hat die Postkartenansicht, das Hauptmotiv aller Touristen und erste Wahl zur Illustration von Texten über die Stadt verdorben.

Exakt so erreicht mich die Meldung: jemand hat das getan, weiß der Teufel warum.

Mit einer Ausstellung schaffte es Stade anno dazumal in die Tagesthemen der ARD. Das war zuletzt geschehen – nein, nicht beim Beschluss zur Abschaltung des Atomkraftwerks, sondern zum Prozess gegen einen betrügerischen Mediziner, den die Enthüllungen seiner Gattin in einem Privatsender prominent gemacht hatten.

»Jemand« hat die Postkartenperspektive verschandelt – so viel war dem weder tumben noch nicht digital vernetzten Einheimischen, der noch dazu in der Nachbarschaft wohnt, bekannt von dem Event, für den sich überregionale Aufmerksamkeit erhofft wurde. (google News zeigt nur einen Bericht des NDR an.)

Was sich daraus über die Kommunikationsstrukturen in der Kleinstadt entnehmen lässt, muss insofern ergänzt werden, dass ich zufällig gleich wusste, was es mit dem Malheur auf sich hatte, als ich es sah.

Richter/Meese/Tal R in Stade (Foto: urian)

Mein erster Text über Stade wurde noch mit dem Blick auf den Schwedenspeicher ohne das Kitsch-Boot illustriert. Daniel Richter, Jonathan Meese und Tal R setzen buchstäblich mit ihren Puppen eins drauf. Kitsch as Kitsch can.

Fischmarkt Stade mit Richter/Meese (Foto: urian)

Das geht vorbei, und dann haben die Hansestädter ihre »Puppenstube« wieder. So nannte meine erste Zimmerwirtin in der Stadt den ehemaligen Festungsbezirk, und der Ausdruck schaudert mich heute wie damals.

Die Puppen auf dem Ewer werden meiner Zimmerwirtin wohl nicht gefallen. Und obwohl ich mir, wie gesehen, einen ironischen Zusammenhang basteln kann, sagen sie mir ebenso wenig zu.

Die Touristen haben ein Motiv, das sie sich wahrscheinlicher besser merken als ohne Puppen. Die Einheimischen sind verstört, wissen aber nicht, warum und bekommen auch keine Richtung angezeigt. »Schock«, wenn man es so nennen darf, aber der Rest ist Dada. Es könnten auch andere Puppen sein.

Wenn es denn schon Puppen sein sollen, könnten sie genauer auf einen Punkt kommen. Aber Kunst in Stade geht mich, wie schon ausgeführt, nichts an. Falls Richter/Meese/Tal R in ihrer Ausstellung im Kunsthaus am Wasser West mehr zu den Puppen zu sagen haben, wird es mir entgehen.

Um die Zukunft soll es beim Think Tank Stade gehen. Was man sich dazu so ausmalen kann.

Lebende Statuen in der Puppenstube – Stade ist alltags so ungefähr auf dem Stand von Hamburg vor 30 Jahren. Dazwischen und sonntags wird sich selbst, Touristen und → Fredenbeckern ein Hanse-Idyll vorgespielt. Eine Art Falle aus Geschichte und Gegenwart, die sich im Projekt »Richter/Meese-Ausstellung« versinnbildlicht.

Zukunft? Das andere Motiv, mit dem ich bis ehedem Stade-Texte illustrieren konnte für Leser, die sonst nichts über die Stadt und die Gegend wussten, existiert noch: die Kuppel des Atomkraftwerks.

Gerade ist mir ein knapp 900 Seiten dicker Band vor die Füße gefallen, den ich durchgesehen habe, als mir die Planungspapiere für die Demontage des AKW vorlagen: Die »Achillesferse« der Kernenergie in der Bundesrepublik Deutschland: Zur Kernenergiekontroverse und Geschichte der nuklearen Entsorgung von den Anfängen bis Gorleben 1955 bis 1985, Lauf an der Pegnitz 2004. Ich spare mir weiteres Kramen, um präzise anzugeben, wie viele Jahre hinter dem Plan man in Bassenfleth ist. Fünf, sieben oder zehn?

Jahre her, dass ich mit jemand sprach, der dort arbeitete, aber nicht erklären konnte oder wollte, was er macht. »Gorleben ist überall«. Zukunft ist in diesem Fall an Geschichte gekettete Gegenwart.

Vor 30 Jahren, könnte ich an dieser Stelle hinzufügen – werde mich aber hüten, persönlicher zu werden. 30 Jahre sind der Zeitpunkt, ab dem für Akademiker und Archivare Zeitgeschichte beginnt.

31. Mai

»Falls Richter/Meese/Tal R in ihrer Ausstellung im Kunsthaus am Wasser West mehr zu den Puppen zu sagen haben, wird es mir entgehen.«

So hatte ich oben geschrieben. Und nicht bedacht, dass die Ausstellung noch bis September den Touristen die Postkartenperspektive versaut – oder wird man die Puppen vermissen wie den Reichstag unter Christo und sie der »Mudder Flint mit de Stint un de Katt« fürderhin zur Seite stehen lassen? (Näheres zu dieser Figur – müssen Sie bei denen erfragen, die gern folkloristische Auskünfte erteilen.)

Bis September, so dass meine Förderin (siehe in → Folge 1 unter dem 19. April) noch Zeit hat, einen Besuch in Betracht zu ziehen.

Außerdem bin ich unverhofft an – nennen wir es neutral – Informationen gekommen, die an mein Mitgefühl appellieren.

Ich erkenne nun die Verzweiflung in den Puppen, die ungeheuerliche Anstrengung, sich irgendetwas einfallen zu lassen; die Drohung des Scheiterns und sich damit vor aller Welt, die auf Stade blickt, lächerlich zu machen – um schließlich genau das zu tun und sich als Kasperlefiguren in das Boot zu setzen, das gerade vor der Tür ankert.

Ich habe den Witz also verstanden, glaube ich. Ich sollte ihn mal in einer der Runden kunst- und fremdenverkehrs-fremder Alltagsmenschen, in denen ich gemeinhin verkehre, ausprobieren. Oder besser nicht; schon gar nicht mit Details.

Bis dato war den Leuten das Gewese der Puppen auf dem Schiff oder Boot oder wie immer es seemännisch korrekt heißen muss so gleichgültig wie ihnen dieses selbst gewesen war. Die ganze Geschichte des Puppenspiels könnte sie ärgerlich machen: auf die Künstlerei und den daran hängenden Betrieb. Und ich wäre Schuld, weil ich davon angefangen habe.

Stade sei »eine Stadt, in der die Leute vor sich hindösen«, soll Daniel Richter zur Eröffnung der Ausstellung Bavid Dowie gesagt haben.

»Stade döst nicht!«, lässt der Lokalanzeiger eine Klasse Kinder erwidern. Kinder- und Narrenmund tun Wahrheit Kund – man hat die Wahl.

Den Stadern geht es gut, sie haben nichts Dringenderes als das Wetter zu bereden. Von den üblichen Sorgen abgesehen oder der anstehenden Fußball-Weltmeisterschaft. (Darf ich das überhaupt schreiben ohne FIFA mit ®?) Sie waren Hautzeugen des Jahrhundertfrühlings.

Die gemeinen Männerrunden sind dabei genauso, als hätte es eine »MeToo«-Debatte um sexuelle Selbstbestimmung nie gegeben. Mehr muss hier nicht gesagt werden. Was Mann wie Frau halt so tun, wenn sie einen Platz im Schatten haben. Sie dösen.

Nein, die Vernissage war vor der Hitze-Periode (könnte der Ausdruck im Zusammenhang mit dem Vorstehenden missverständlich sein?), Künstler Richter kann nicht das Bild gemeint haben, das sich derzeit die längste Zeit in der Inneren Stadt bietet: verlangsamte Bewegungen in jenen Gassen, in die Strahlen fallen, Gedränge in den Schattenzonen und verwaiste Plätze, auf deren Pflastersteinen die Sonne Brötchen backt (um im Künstlerkinder-Modus zu bleiben).

Daniel Richter dachte wohl eher an »dösig«. Das fiel mir ein, als ich mich auf die Bank im Schatten setzte, wo der Informant mich aufgabelte.

Daneben ist eine Inschrift auf Plattdeutsch. Ich bin mit der Sprache mütterlicherseits aufgewachsen, verstehe sie, kann sie leidlich sprechen und lesen und habe es sogar einmal mit Schreiben versucht – und stand vor der Tafel an der Bank, entzifferte sie mit Mühe und ärgerte mich anschließend über die Bräsigkeit der Enthusiasten, die gar nicht verstanden werden wollen in ihrem Heimatwahn. Was da steht, müsste ich hier übersetzen; aber es ist so unwichtig, dass es die Mühe nicht lohnt.

Die Bank ist freilich vorzüglich.

Puppenstube Stade (Bild

In Vorzeiten habe ich mal Kunst-Witze gerissen und bin dafür honoriert worden, wenngleich nicht so üppig wie die »Superkünstler«, als die sie in den Medien mit Besitzerstolz betitelt werden, weiß also ungefähr, wie es geht. (Kein Schreibfehler; es muss nicht »Suppenkasper« heißen.)

Kein Nachdenken nötig. Auf das antike Schiff oder Boot gehört selbstverständlich ein Hanselmann mit großem ®.

Alles Weitere über diese Gallionsfigur des Hanselstädtchens behalte ich aus Urheberrechtsgründen für mich. (Die Rechte am Kleinen Häwelmann sind abgelaufen, da könnte man sich bedienen; Salz muss dabei sein, ist aber als Zeichen vertrackt: bei weißen Körnern könnte das Publikum an ganz etwas anderes denken …)

Aber wenn ihr bis hierhin schön aufmerksam ward, könnt ihr euch den Kampf mit dem Krokodil selbst vorstellen.

22. Juni

Stade döst weiter. Meine Vision von der Zukunft des Verkehrs habe ich anderweitig notiert: Herrenradler. An dieser Stelle nur ein optischer Nachtrag zur obigen »Puppenstube am Fleet«.

Fleetpuppen Stade (Foto: urian

Was hierorts ebenso unbestritten als Kunst anerkannt ist wird gleichermaßen en passant in der Hökerstraße ausgestellt.

Kunstschau Hökerstraße Stade (Foto: urian

Kunstschau Hökerstraße (Foto: urian)

27. Juni

Ich wünschte, ich müsste nicht darauf zurückkommen. Ich habe, wie gesagt, kein Vorurteil gegen das Niederdeutsche, bin mit der Sprache aufgewachsen, kann sie leidlich sprechen und sogar lesen. Sollen sich Vereine und Privatpersonen ihrer faulen Brauchtums-Pflege annehmen; so ist halt Demokratie. Skandalös ist es allerdings, wenn öffentliche Institutionen sich diese Verklärungen zu Eigen machen.

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»Landkreis Stood sökt Plattsnackers«, titelt der Lokalanzeiger und grenzt schon mal breite Leserschichten aus. »Plattdeutsches Theater, Musik, Kindertreffen, Ausflüge – der September soll im Landkreis der Plattdeutsch-Aktionsmonat des Jahres werden. ›Ich freue mich auf viele kleine und große Aktionen unter dem Motto „Snackt platt överall“‹, sagt Landrat Michael Roesberg.«

Platt war die Sprache der einfachen Leute, der Ungebildeten und Ausgebeuteten. Ein Stück Kulturgeschichte, das bald ausgelebt sein wird – bis auf Nischen wie das Ohnsorg-Theater und besagte Vereine. Gleichwohl strengt die Herrscherkaste sich seit Jahrzehnten an, es am Leben zu erhalten. Der Maurer, der jeden Tag Platt snackt, ist in keinem Förderverein; dem steht sein Chef vor, der mit den Lauten Kindheitserinnerungen verbindet.

Der Chef sprach von Hause aus kein Platt, aber wenn er sich dazu herab ließ, mit seinen Untergebenen zu kommunizieren, nahm er mehr schlecht als recht deren Idiom an. Das ist eine der Erfahrungen, die man auf dem niederdeutschen Land machen kann, von denen Platt-Enthusiasten schön schweigen. Sie gehören zu den Chefs und wünschten sich, dass oben und unten zwei verschiedene Sprachen gesprochen würden. Eine platte, die gerade genügt, um eben solche Gedanken zu formulieren, und das Hochdeutsch, das den Herren vorbehalten ist. Divide et impera.

So war es einmal, aber davon wollen die Nostalgiker in ihrem niederdeutschen Idyll nichts wahrhaben. Für sie, die Herren und Einheimische sind, hat das Platt außerdem den Vorzug, dass sie sich damit von allen abgrenzen, die nicht zu ihnen gehören. Die Plattsnacker sind nämlich die wahren Heimatverbundenen. Da können die anderen gar nicht mitreden.

Wenn die Verwandten meiner Mutter meinen Vater aus dem Gespräch ausschließen wollten, brauchten sie nur noch platter als sowieso zu snacken. Er war Flüchtling aus Pommern und konnte die Sprache zwar irgendwann verstehen, hat aber sein Leben lang kein Wort gesprochen. Noch so eine Erfahrung, die von den Herrschaften um den Landrat ausgeblendet werden. Und die auf Platt zu formulieren an die Grenzen der Möglichkeiten dieser Sprache stößt.

Mögen mehr Menschen so schlicht und einfach reden und denken, sagt also der Landrat. Abgesehen davon, wer damit nicht angesprochen ist, tut man sich selbst keinen Gefallen, der Aufforderung zu folgen. Das Wesentliche verhandelt auch der Landrat nicht in Platt. Das ist nur Spielzeug.

Zurück zu feudalen Verhältnissen für Deutschblütige – in der Propaganda für das Platt habe ich stets diesen Unterton vernommen. Mit seiner kulturellen Vision kann der Landrat mich mal am Mors kleihen.

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5. Juli

Gegen die »Stolpersteine«® des Gunter Demnig lässt sich viel einwenden – aber da sie sich als Form des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus etabliert haben, muss man mit ihnen leben.

In Stade war wieder einmal bemerkenswert, mit welchem Minimum an Gedanken die Mehrheit der politischen Klasse sich gegen ein Gedenken sperrte – wie gegenwärtig erneut (Gezerre um Gedenken)

Zunächst beschloss der Magistrat im März 2004, keine »Stolpersteine«® zu verlegen. Fünf Jahre später stand das Thema trotzdem wieder auf der Tagesordnung, und die Entscheidungsträger machten monatelang Wind um des Kaisers Bart. Womit nicht das Gedenken gemeint ist, sondern die Debatte, die von allen Seiten mit Heucheleien bestritten wurde. Im April 2010 wurde endlich der erste »Stolperstein«® verlegt, und alle waren furchtbar stolz.

Mit einem inzwischen verstorbenen Freund, der über Insider-Kenntnisse verfügte, ulkte ich eine Weile, wann ein Lageplan erscheinen würde. Sobald ich auf einen »Stolperstein«® stoße, erinnere ich mich daran. Und an den Toten.

Ich laufe viel herum und kenne den Weg gut genug, um den Kopf dabei gesenkt zu halten, ohne eine Unachtsamkeit zu begehen, weil niemand per pedes on the road ist. Als ich dieser Tage am Hahnentor notieren wollte, wo sich die mir bekannten Mahnmale befänden – schlug ich mir an die Stirn. Inzwischen sollte der Missstand doch wohl behoben sein!

Ist er allerdings. Und als ich nachschaute, wem es zu verdanken ist, fand ich zwar einen Unbekannten, aber eine bekannte Adresse: sie war mehr als fünf Jahre lang meine.

Foto: urian

Wann die Website stolpersteine-stade.de eingerichtet wurde, habe ich nicht erkennen können. Mitgewirkt haben das Stadtarchiv, der Fachbereich Bildung, Soziales und Kultur des Magistrats, eine AG Archäologie, das Gymnasium Athenaeum, die VVN-BdA, namentlich Michael Quelle, das Museum im Baumhaus am Alten Hafen und das Katasteramt.

Wenn die Steine also schon mal da sind und sich das Gedenken darauf konzentrieren soll – ist die Präsentation in Stade nicht nur nicht zu beanstanden: sie ist vorzüglich.

Und der Mangel des Ganzen ist nicht der Darstellung, sondern der Sache geschuldet. Über die von den Nationalsozialisten Ermordeten (und zwar nicht nur Juden) ist weit überwiegend zu wenig bekannt, um ihre Geschichten erzählen zu können. Und wenn nicht die der Kinder unter ihnen, dann die der Angehörigen. Ein paar Daten – Geburt, Deportation, Tod – sind bestenfalls alles, um die Schicksale kaum ahnen zu können.

Die »Stolpersteine«® stehen für Namen ein; die Erinnerung muss von woanders kommen.

1. August

Ein bisschen Aufsehen gab es noch für die «kindsköpfige Ausstellung« Bavid Dowie im »schiefen Kunsthaus des Fachwerk-Freilichtmuseums Stade«: am 28. Juli war die Süddeutsche Zeitung mit einer Besprechung dran.

Ich habe das »beschmierte und beschriftete Zeugs« nicht gesehen und kann mir kein Urteil erlauben. Die SZ meint, »die Sammlung aus eilig gemeinsam produzierten Blättern mit plakativen Botschaften aus dem Mund berühmter Personen der Kunstgeschichte von Picasso bis Pimmelmann dreht sich in Wahrheit nur um die eine große Ungerechtigkeit: nie mitmachen zu dürfen bei der wichtigsten Kunstschau der Welt«, und der Autor schließt mit dem Wunsch: »Da ist nur zu hoffen, dass das nächste Documenta-Thema ›Die Kunstprovinz‹ heißt.«

So hatte man sich das im Hanselstädtchen nicht vorgestellt. Immerhin ist die SZ auf den → Haupt-Hoax der Kulturoberhoheiten hereingefallen und schreibt von einem »Hansehafen«. Na bitte, ein Treffer aus der Schrotladung saß.

15. August

Stade hat eine lange Weile vor sich hingedöst. Politisch ist ohnedies das ganze Jahr Sommerloch. Weil keine wirkliche Katastrophe zu beklagen war, haben sich die Autofahrer mit Geschwafel über den Klimawandel gegenseitig unterboten. Die Hitze wäre halb so wild gewesen ohne das Gejammer darüber, von den Bauern vorne weg. Es geht den Stadern so unverschämt gut, dass sie sich über Schweiß erregten statt demütig sonnenergeben schweigend zu dösen.

Die Tage werden wieder kürzer und die Nächte dunkler. So kam ich, als ich bis 22 Uhr zum Supermarkt strebte, nachdem ich in der Kunsthalle in Hamburg mit Bildern von echten Katatrophen ab 1600 bekannt gemacht worden war (Entfesselte Natur), in einen örtlichen Kunstgenuss: die Kitsch-Kasper auf dem Narrenschiff im »Hansehafen« leuchten von innen.

Habe ich schon erwähnt, was an der Puppenstubenrekonstruktion auf dem Fischmarkt fehlt? Das Hamsterrad mit den Tagelöhnern, das den Kran in Gang setzte.

Leuchtkasper (Foto: urian)

23. August

Nee, is klar, man muss das mit den Regeln nich so eng sehen, und ich darf sowieso, was die anderen nich tun solln. Fängt einer mit dem Parken in der Fußgängerzone an, machen andere Beräderte es gerne nach. Is ja nur für kurze Zeit, bin gleich wieder weg mit 100 Sachen.

Aber wehe, ein unberäderter Untermensch setzt nur einen Fuß auf den Radweg oder gar die Straße – dann ist was los! Er wird angefahren und für irre erklärt. Achtsamkeit und Rücksicht sind für den Homo Automobilis eine Einbahnstraße. Hätte ich, statt ein Foto zu machen, Reifen aufschlitzen sollen?

Stades Zukunft steht klar vor uns. Die Klimakatastrophe mag kommen, solange wir unser Benzin überall dort verschleudern können, wo es uns in den Kram passt. Wem das nicht passt, der wird auf die Stoßstange genommen; was denn sonst? Denn wir sind echte Männer und Herrenfrauen, Nachkommen von Reitern und Rittern und was nicht alles, sind wir nicht?

Des Menschen Leben ist eine Reise, die zu Fuß zurückgelegt werden muss, heißt es bei den Tibetern im Himalaya. Da können eben keine Autos fahren; die kennen nur Esel.

(Mehr über deplatzierte Automobile: Vorschein der Kulturrevolution)

Foto: urian

24. August

Der Wiener Biologe Paul Kammerer nannte es 1919 Das Gesetz der Serie. Er hatte 20 Jahre lang Zufallsketten gesammelt.

Wie diese: Kammerers Frau hat in einem Roman von einer Frau Rohan gelesen; in der Straßenbahn fällt ihr ein Unbekannter auf, weil er dem Fürsten Rohan ähnlich sieht, mit dem sie befreundet ist; dieser erscheint am Abend auf unangemeldeten Besuch.

Der Unbekannte in der Straßenbahn, der dem Fürsten ähnlich sah, war danach gefragt worden, ob er Weißenbach am Attersee kenne; Kammerers Frau verlässt die Bahn am Naschmarkt, wo sie von einem Verkäufer nach Weißenbach am Attersee gefragt wird.

»Gleichmäßigen und eigentümlich stolpernden Ganges« wie Meyrinks Golem – »so, als wolle er jeden Augenblick vornüber fallen« – wankte ich ziellos wie je durch das Gassengewirr – bis ich mich ausgerechnet am Schwedenspeicher von einer Person aufhalten ließ, die im Kulturbetrieb beschäftigt ist.

Kunst und Kultur in Stade gehen mich, wie wiederholt gesagt, nichts an; aber der Betrieb hat weitere Aspekte, auf die ich dito bereits eingegangen bin (in der → ersten Folge unter dem 19. April), und über die ich mich auf den neuesten Stand brachte.

Im Briefkasten hatte das Wochenblatt gesteckt. Beim Blättern war ich an einem Artikel über die »›Denkfabrik‹ im Museum« hängen geblieben.

Ich hatte das Gebäude nicht betreten, seit es zuletzt umgebaut worden war. Wozu auch? Die Exponate waren mir so hinlänglich bekannt wie die Stadtgeschichte.

Jetzt erfuhr ich dieses und jenes darüber, wie es im Haus aussah und zuging. Der Zeitungsartikel zeigt den Raum mit dem Medientisch des Think Tank Stade. Den könne man, ließ ich mir versichern, aufsuchen, ohne Eintritt zu bezahlen.

Think Tank Stade (Foto: urian)

Ich registrierte eine willkürliche und darob peinliche Ansammlung von Büchern an den Wänden, Hanse-Kitsch vor allem und nicht ein Titel, den ich empfehlen würde.

Ich vergewisserte mich, dass ich schon kannte, was die im postgelben Tisch eingelassenen Monitore zeigten. Ich war allein, es war still. Gefühlt schien außer dem Personal niemand im Haus zu sein.

Ich machte mich davon, stolpernd, immer geneigt, vornüber zu fallen, weil der aufrechte Gang so knifflig ist.

26. August

»Stade – eine Stadt sucht ihr Image« lässt mich das Stader Tagenblatt online wissen. »Welches Image hat Stade, welches sollte die Stadt pflegen, um als Wirtschaftsstandort, für Einwohner, für Neubürger und für Touristen attraktiver zu werden? Darüber grübelt derzeit die Stade Marketing- und Tourismus GmbH. Sie lädt die Einwohner ein, ihr dabei zu helfen.«

Wie ich als Bürger zu diesen Überlegungen beitragen kann, erfahre ich nur, wenn ich Abonnent der Zeitung bin. Es ist halt vieles in Stade wie früher, etwa zur Hansezeit, als man zwischen Bürgern und gemeinen Bewohnern unterschied. Das Bürgerrecht musste erworben werden, und das konnte sich eben nicht jeder leisten.

Heute gilt zwar die Demokratie und jeder Bewohner ist Bürger – außer für die Entscheidungsträger, die lieber unter sich bleiben und nicht interessiert sind an dem, was Nicht-Abonnenten des Tageblatt über die Stadt denken.

Ob und inwieweit sich die Image-Suche der Marketing- und Tourismus GmbH mit dem Think Tank Stade überschneidet – ist eine Frage, auf die ich als Unterbürger keine Antwort zu erwarten habe.

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Die Zeitung beantwortet die Image-Frage mit ihrer Illustration zum Artikel: Wasser West, Bienen, Orgel. Zur Fischmarkt-Ansicht siehe oben. Je einer Biene in Stade begegnet zu sein bin ich mir nicht bewusst. Dass ich die Orgel von St. Cosmae manchmal auf der Gasse höre – würde ich nicht für charakteristisch halten.

Aber das »Image« soll ja keine Wirklichkeit zeigen, sondern wie man gern gesehen werden möchte. Etwa als Hansestädter, die man nie war. Touristen kann man damit täuschen; für Einwohner oder Neubürger ist der Trachten-Schmonzes irrelevant.

Das Stadtbild, das jemand vor Augen hat, der in der Breslauer wohnt, zeigt gewiss nicht den Schwedenspeicher oder eines der Restaurants am Fischmarkt, die nicht seiner Preisklasse entsprechen.

Ein Image, dem Einwohner, Neubürger und Touristen gleichermaßen zustimmen könnten, kann es nicht geben. Das muss die Marketing- und Tourismus GmbH auch gar nicht schaffen. Sie wird sich bestenfalls darüber Gedanken machen, ob sie Orgel oder Biene durch etwas anderes ersetzt, das ähnlich aufgesetzt ist.

Wie käme ich dazu, »ihr dabei zu helfen«? Ist das Bildgemansche nicht der Job, für den von der GmbH Gelder eingestrichen werden? So eine Arbeit wünscht man sich, bei der via Zeitung dazu aufgefordert wird, »dabei zu helfen«.

Besser, dass ich online nicht mehr über diese Zumutung erfahre, sonst könnten mir noch Kraftausdrücke hochkommen.

29. September

Ist das Glas halb voll oder halb leer? Im Gespräch mit einem »Kulturschaffenden« (ein Ausdruck, den ich nur widerstrebend verwende, seit er in den 1980ern aufkam) finde ich mich plötzlich in der ungewohnten Position dessen, der etwas Positives über das Hanselstädtchen zu sagen hat.

Auf dem Pferdemarkt steht zur selben Zeit Rathaus-Personal und befragt Passanten über »vitale Innenstädte« in Hinblick auf den »Einzelhandel«. Auch wenn die politisch und administrativ Verantwortlichen offenkundig nichts davon begreifen, beginnt in der Inneren Stadt ein zartes Pflänzchen von Urbanität zu sprießen.

Während die herrschende Klasse und ihre Handlanger das Areal nur unter zwei Aspekten ansehen, Konsum und Parkplätze, entwickelt sich ein städtisches Leben, das die Blockwarte, die ab 17 Uhr durch die Gassen streifen, nicht verhindern können. (Das Grauen in den Gassen)

Auch wenn zumal gewisse CDU-Politiker es gern so hätten, wird sich in der Inneren Stadt nicht nur aufgehalten, um zu konsumieren. Auf den Parkplatz, rein in den Laden und wieder weg mit dem Auto – so hätte man es zwar gern im Rathaus, aber so läuft es nicht.

Das könnten die Betreffenden erkennen, verfügten sie über die Fähigkeit zur Selbstreflexion. Gewiss konsumieren sie Alkohol, wenn sie sich in gewissen Lokalen am Fischmarkt treffen, um abseits des demokratischen Prozedere zu konspirieren, aber das Saufen ist Beiwerk und nicht Zweck der Übung.

Dem »Kulturschaffenden«, der eben das Ruhrgebiet bereist hat, kommt die Stadt desto piefiger vor, und »Urbanität« mag er nicht zu nennen, was ich dafür anführe. Mir scheint das Glas wohl deshalb halb voll, weil ich mich daran erinnere und bereits daran gewohnt habe, dass es leer ist.

Zwar kommt es weiterhin vor, dass Gesindel wie ich beim Herumlungern von zielstrebigen Konsumenten beargwöhnt wird. Aber es sind vor allem die fußlahmen Fredenbecker (siehe mehr hier), die mich anstarren. Für diese Autofahrer ist der Passantenverkehr in der Inneren Stadt von Stade nach wie vor ein Kulturschock. Für sie ist dieses Getriebe schon zu städtisch; ihnen erscheint das Glas übergelaufen.

Eine Frage der Kultur, mit der man zu schaffen haben würde, nähme man den »Klimawandel« ernst.