Eine ungeklärte Mord- und Vergewaltigungsserie 1983–89

Jeden schauert es verstohlen, / Den sein Gang des Weges führt, / So, als hätten seine Sohlen / Jäh das eigne Grab berührt. – Werner Bergengruen: Alte Mordstelle

Sie hat alles nah beieinander. Ihre Welt ist auf die nächste Umgebung des Sessels geschrumpft. Vor ihren Knien befindet sich das seit neuestem farbige Fernsehfenster. Rechts der Beistelltisch mit der Programmzeitschrift, dem Telefonapparat, der Brille und einer Tasse Tee aus der Thermoskanne, den ihr die Nachbarin zubereitet, wenn sie zwei, drei Mal am Tag nach ihr sieht. Ringsum auf engsten Raum Stühle, auf denen Kleidung aufgeschichtet ist. Das Wichtigste in Griffweite.

Sie geht kaum noch aus dem Haus seit dem Tod ihrer Mutter. Schon der Weg aus dem Sessel in der Stube zum Bett im Schlafzimmer ist ihr zu weit. So eine sinnlose Mühe. Sie schläft im Sessel, in dem sie die Tage verbringt. Sie hat es mit den Hüften, sagt sie zur Erklärung. Die ganze Geschichte behält sie für sich. Wie das Leben einfach verrinnt.

Der alte Ölofen ächzt. Wie jetzt im Winter friert die Ölleitung häufig ein auf dem kurzen Weg vom Tank auf der Veranda in die Stube. Dann ruft sie Rolf W. an, den Inhaber von »Fliesenfachmarkt, Kachelofen- und Kaminbau W.« Auch er ein Nachbar: Sein Büro und der Ausstellungsraum mit den Kaminen und Öfen befinden sich nur ein paar Häuser die Straße hinauf. Nach ihrem Anruf kommt er prompt und bringt das Öl wieder zum Fließen. Eine Rechnung stellt er dafür nicht.

Mit Rolf W. schnackt sie bei der Gelegenheit ein bisschen. Nur Worte, halbe Sätze, die beweisen, dass sie noch reden kann. W. ist Ende 30, sie kennt ihn noch als dummen Jungen in kurzen Hosen. Viele Leute sieht sie sowieso nicht mehr. Eigentlich nur die Nachbarin, die täglich kommt. Und den Jungen, Rolf, wenn der Ölofen streikt. Einmal war der Pastor da, ein ganz junger, und sie war so schweigsam, dass er nach ein paar Minuten Schamfrist wieder gegangen ist.

Verwandte hat sie keine mehr seit die Mutter tot ist, mit der sie ihr Leben in dem Häuschen Nummer 2 in der Lohestraße verbracht hat. Sie müsste mühsam nachrechnen, wie viele Jahre die Mutter schon tot ist. Im Gleichmaß ihrer Zeit ist es wie ein Tag, wie gestern.

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Am Sonntag, den 30. Januar 1983 will eine Nachbarin der 74-jährigen Mariechen Poppe wie jeden Tag das Frühstück bereiten und ihr beim Anziehen helfen. Als die Nachbarin die Haustür öffnet, quillt ihr dichter Rauch entgegen; auf Rufe erhält sie keine Antwort.

Die Nachbarin alarmiert die Feuerwehr. Genauer, sie telefoniert mit Rolf W., dem Ortsbrandmeister und Nachbarn. Um Viertel nach neun heulen die Sirenen. W. muss auf seine Kameraden warten, denn ohne Atemschutzgerät kann er das völlig verqualmte Haus nicht betreten. Als Ofenbaumeister war er vier, fünf Mal im Jahr bei der alten Dame, wenn die Heizung streikte.

Sobald er sich in der Wohnstube umsehen kann, erkennt Rolf W., dass es sich um Brandstiftung handelt. Der Sessel, auf dem die Rentnerin immer saß, ist regelrecht »in den Boden eingebrannt«. Kleidungsstücke und Zeitungen, die stets auf zwei Stühlen in Griffweite aufgeschichtet waren, sind angezündet worden. Der Schwelbrand wird rasch gelöscht. Doch keine Spur von der Bewohnerin.

Es dauert eine Weile, bevor einem Feuerwehrmann einfällt, das Bett zu inspizieren, das »wie frisch gemacht« aussieht und ja tatsächlich nie benutzt wurde. Unter den Decken verborgen liegt halbnackt Mariechen Poppe. Sie ist erwürgt worden.

Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergibt, dass der Tod zwischen vier und sechs Uhr in der Nacht eintrat. Hat der Mörder sich demnach drei Stunden in dem Haus aufgehalten? Oder haben die geschlossenen Türen und Fenster das Feuer in der Wohnstube so lange schwelen lassen?

Hätten sich bei mehr Sauerstoffzufuhr Flammen entwickelt, ist Rolf W. sicher, wäre das reetgedeckte Haus binnen kurzem von den Lohen verschlungen worden. Offenbar durch eine eingeschlagene Scheibe gelangte der Mörder ins Haus. Einige frisch eingetrocknete Blutstropfen am Tatort stammen vermutlich von ihm.

3000 Mark Belohnung werden ausgesetzt, aber die Hinweise aus der Bevölkerung führen auf keine heiße Spur. 19 Monate später wird der Fall wieder aktuell.

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Meta von Ahn war im Ort als »wunderliche Alte« bekannt. Nach dem Tod ihrer Mutter, mit der sie in einem winzigen Haus am Hüperskamp neben den Hallen der »Stader Saatzucht« gelebt hatte, wurde sie zusehends schrullig.

»Sie lief vor sich hin schreiend durch den Ort«, erzählt ein ehemaliger Arbeiter der »Saatzucht«. Eine Nachbarin erinnert sich: »Nachts hörten wir, wie sie mit dem Kochlöffel auf den Küchentisch haute.« Oft strich die zierliche Frau, die mitleidig belächelt wurde, ruhelos im Dunkeln durch die Straßen.

Vielleicht während sie unterwegs ist, steigt der Mörder in ihr Häuschen ein. Am 5. August 1984 entdecken die Tochter und ihr Verlobter, die ihr die Rente bringen wollen, die bereits verweste Leiche der 62-Jährigen. Sie ist seit wenigstens sieben, höchstens 14 Tagen tot.

Der Hochsommer erschwert die Feststellung des Todeszeitpunkts. Die Leiche »war schon in Bewegung«, erinnert sich der Ermittlungsleiter der Kriminalpolizei, »fast schwarz«. Wie Mariechen Poppe ist sie erdrosselt worden.

Beide Frauen wurden nach ihrem Tod bis über den Kopf zugedeckt. Meta von Ahns Unterleib ist nackt, der Oberkörper mit Betttüchern abgedeckt. Um ihrem Hals liegt eine dünne Schnur.

Ob die Opfer ausgeraubt wurden, kann die Polizei nicht mit Sicherheit feststellen. Viel zu holen gewesen wäre bei beiden ohnehin nicht. Im Fall Meta von Ahn vermutet die Polizei außerdem eine Vergewaltigung, kann sie jedoch aufgrund des Zustands der Leiche nicht nachweisen.

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Himmelpforten ist geschockt und ängstigt sich. Verdächtigungen machen die Runde. Weitere 3000 Mark Belohnung provozieren zwar über 100 Hinweise, aber die Polizei stochert nach wie vor im Nebel.

Vier Wochen später, mitten in die sich ausbreitende Besorgnis, am 10. September 1984, wird in Engelschoff eine 79-Jährige, auch sie wohnt allein und abgelegen, vergewaltigt und ausgeraubt.

Die Frau sitzt vor dem Fernseher, als sie Geräusche hört; gerade ist ein Fenster an der Rückseite des Hauses aufgehebelt worden. Bevor sie nachschauen kann, steht der Verbrecher vor ihr, im Parka, über dem Kopf eine rote Strickmütze mit Sehschlitzen, in der Hand ein 20 Zentimeter langes Messer.

Erst verlangt er Geld und steckt Schmuck, Uhren und Ringe zu sich. Dann missbraucht er die Frau. Nachher deckt er sie bis über den Kopf zu. »Ihr resolutes Auftreten«, glaubt der Ermittlungsleiter, »hat ihr das Leben gerettet.«

An den gesicherten Spermaspuren wird Blutgruppe A festgestellt. Einziger Anhaltspunkt für die Fahndung: die Stimme des Täters. Doch unter den Sprechproben von Verdächtigen kann das Opfer keine identifizieren.

Jeder, der einem Nachbarn aufgefallen ist, wird überprüft. Die Untersuchungsbeamten lernen allerhand seltsame Vergnügungen junger Männer auf entlegenen Bauernhöfen kennen. So einen 30-Jährigen, der zurückgezogen bei seiner Mutter lebt, dessen »sexuelle Entgleisungen« mit Tieren die Ermittler argwöhnisch machen.

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Im Geheimen patrouilliert die Polizei wochenlang nachts in Himmelpforten und Umgebung und überwacht Häuser, in denen alte Frauen alleine leben. Vielleicht eine gelungene Abschreckung, aber vergeblich, soweit es die Fahndung betrifft – der Täter rührt sich nicht mehr. Fünf Jahre lang nicht, bis zum 28. September 1989.

Gegen Mitternacht dringt der Unbekannte in das Schlafzimmer einer 81-Jährigen in Hammah ein und leuchtet ihr mit einer Taschenlampe ins Gesicht.

»Ich will nur Geld«, sagt er. »Geben Sie mir das Geld, alles Geld, was Sie haben.« Vergleichsweise höflich soll er sich ausgedrückt haben, sagt die Überfallene aus.

Die Frau schreit um Hilfe, da droht er mit einem Messer. Sie gibt ihm 65 Mark. Jetzt »fordert er den Geschlechtsverkehr«, wie es im Polizeiprotokolldeutsch heißt.

Sie fühle sich nicht so gut, erwidert die Frau. Und wirklich lässt er von ihr ab. Er fesselt sie und deckt sie bis über den Kopf zu. Das Zudecken hält der Ermittlungsleiter für das Erkennungszeichen des Serientäters.

Die Frau verliert kurz das Bewusstsein. Als sie wieder zu sich kommt, ist der Mann fort. Gegen drei Uhr kann sie sich selbst befreien und die Polizei rufen.

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Der Steckbrief des Angreifers: Etwa 30 Jahre alt, von kräftiger Gestalt und zirka 1,80 Meter groß; spricht hochdeutsch mit norddeutscher Färbung. Er verfügt über ausgezeichnete Ortskenntnis und hat seine Opfer gewiss vorher gekannt.

Über psychologisches Profil und Motiv lässt sich nur spekulieren. Lebt er, unterdrückt von ihr, mit seiner Mutter zusammen und entlädt seinen Hass deshalb an Frauen ihres Alters? Warum die Pausen zwischen den Taten? Ein schwerer Unfall, ein Auslandsaufenthalt? Warum endete die Serie? Ist Mutter gestorben und der Hass zur Ruhe gekommen?

Neue Ermittlungen, wieder ergebnislos. Der Mörder, Vergewaltiger, Brandstifter und Räuber bleibt ein Fantom. Dass sich nicht lang nach der letzten Tat ein sonderlingshafter junger Mann erhängt, gilt in Himmelpforten als Schuldeingeständnis. Der Ermittlungsleiter hat Zweifel.

Dann nichts mehr, zwölf Jahre lang. Die Staatsanwaltschaft fragt nach, ob sie die Asservaten vernichten kann. Der Ermittlungsleiter nimmt sich die Akten erneut vor. Er hofft auf die modernste Kriminaltechnik, die DNA-Analyse von Spurenmaterial. Liegt die Gen-Sequenz des Täters vor, können Speichelproben von Verdächtigen genommen werden. Doch das Material taugt nicht mehr für eine Analyse. Der Unhold bleibt unerkannt.

Ártikel im Hamburger AbendblattHamburger Abendblatt 30. Januar 2002

© Uwe Ruprecht

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