Bemerkungen zum »Think Tank Stade«
Folge 1 (ab Februar 2018)
Folge 2 (ab Mai 2018)
Auch im Nieselregen am Donnerstag, 25. Oktober, der ewig gleiche Puppentanz auf dem Fischmarkt. Diesmal lassen drei junge Herren ein Mannequin vor ihrer Kamera laufen.
Es war mitten im Licht eines späten Nachmittag des 27. Oktober, einem Samstag, als mir vor dem Zeughaus zwei Gespenster begegneten.
Damit die Einwohnerschaft ihr Erbgut nicht vergesse und Touristen klar bleibt, wo hierorts der Hammer hängt: Soldaten gaben jahrhundertelang den Ton an. Und manche bedauern bis heute, dass die Zeiten vorüber sind, und geistern herum, als sei die Zeit still gestanden wie auf Kommando der vorzüglich verehrten und als Vorbild ausgestellten Generäle.
Am neuen niedersächsischen Feiertag, den 31. Oktober verschlug es mich auf den Friedhof auf dem Geestberg.
Ein Vogelkäfig? Unweit dem Platz für anonyme Urnenbestattungen? Nein, was darin gefangen ist, kann nicht wegfliegen und wird hingegen vor dem beschützt, was fliegen kann.
3. November
»Stade-Storys« sind das nächste Thema des Think Tank Stade: »was und womit erzählt die Stadt?«
»Wer bloggt was über Stade? Gibt es Stade als Slam Poetry? Hat Stade seine eigene Poesie, seine eigene Prosa, seine eigene Sprache? Wie viele Zeichen braucht ein Stade-Text? Wer kümmert sich neben dem Stadtarchiv um die Geschichtsschreibung, um die Chronik unserer Stadt? Gibt es sie überhaupt noch, die freien Chronisten?«
In 1024 Jahren schriftlich dokumentierter Geschichte war die Stadt nie ein Pflaster für Dichter und Denker. Das Denken sollte man den Pferden überlassen, heißt es, die haben den größeren Kopf, und von Dichtung verstehen die Klempner am meisten.
Sollte es etwas von dem geben, wonach der Think Tank fragt, wächst es im Verborgenen, im Abseits. Abgesehen von der mittlerweile abgeflauten Konjunktur der »Regionalkrimis«, in denen Stade als Schauplatz firmiert und in den aus der Tourismus-Werbung bekannten Bildern beschrieben wird, fällt mir allein Frank Schulz ein. Diejenigen, die vorgeben, sich für Literatur zu interessieren, haben ihn erst als »Stader« wahrgenommen, nachdem der in Hamburg lebende Schriftsteller in den dortigen Feuilletons mit seiner »Heimatstadt« in Verbindung gebracht wurde.
Zufällig war mir sein Name geläufig zu einer Zeit, als nicht absehbar war, dass ich in Stade landen würde. Die von Klaus Modick herausgegebene Anthologie Traumtanz (Reinbek 1986), von der ich Belegexemplare erhielt, enthielt einen Text von Frank Schulz, der mich sehr beeindruckte.
So kümmerlich es um das Literaturverständnis bei denen bestellt ist, die sich öffentlich als Buchliebhaber gerieren, verfügt Stade allerdings über eine Stadtbibliothek, die trotz stiefmütterlicher Behandlung durch die Kulturverantwortlichen gut sortiert ist. Dort stieß ich vor rund zwei Jahrzehnten auf Schulzens Romane, die er aus seiner Kindheit und Jugend im heutigen Stadtteil Hagen entwickelt hat.
Autoren-Lesungen wurden damals nur ausnahmsweise veranstaltet, und auch nachdem diese üblicher geworden waren, wäre nicht daran zu denken gewesen, dass die einheimischen Buchliebhaber in den Zerrspiegel zu schauen wagten, den Schulz ihnen vorhielt.
Inzwischen gastierte Schulz mit seinen »Kiez-Romanen« in Stade. Ich kenne sie nicht. Gehe ich von dem was, was über das Sujet in der einzigen Stimme zu lesen ist, auf die die tonangebenden Kreise hören (→ Spießers Denkbilder), bedient Schulz, ob er es will oder nicht, mit seinen Romanen nur die Einbildungen der zahlenden Kundschaft vom Leben derer, die nicht so sind wie sie.
Peter Rühmkorf hat ein paar Zeilen über seine Stader Schulzeit im Nationalsozialismus geschrieben. Dörte von Westernhagens Tanz auf der Planstelle ist seit einem nie aufgeklärten Brand aus dem Bestand der Stadtbibliothek verschwunden. Die Werke Ernst Hartherns, des vor Frank Schulz einzigen eingeborenen Schriftstellers, sind nach besten Kräften verheimlicht worden, indem man zugleich vorgab, sich um sie zu bemühen. (→ Die Kugel im Rücken & → Braune Heimatkunde)

Gustav Wynekens Bücher muss man vielleicht nicht lesen (→ Spuren eines Vergessenen). Adolph Freiherr von Knigge (→ Mit doppelter Dosis Opium) und Georg Christoph Lichtenberg (→ Lichtenberg in Stade) gaben Gastspiele. Im 13. Jahrhundert schrieb Abt Albert eine Chronik, die sich erhalten hat (→ Mönch auf Reisen).
Das war sie schon ziemlich, die Literaturgeschichte der Stadt. Gewissermaßen keiner weiteren Rede wert. Oder? Gern ließe ich mich vom Think Tank eines Besseren belehren.
Apropos: »Wie viele Zeichen braucht ein Stade-Text?« Dazu fällt mir ein Anagramm ein: STADE HEUTE / HADES TUETE.
11. November
Aus → Think Tank Stade:
»Stade-Storys: STADE HEUTE / HADES TUETE
Dieses Anagramm habe ich bei dem mir einzig bekannten Blogger Stades gefunden. Uwe Rup[p]recht beschäftigt sich seit Beginn des THINK TANK STADE Projektes in seinem Blog URIANs ABSEITEN unter der Rubrik Gepanzerte Gedanken auch mit kritischen Beiträgen und Bemerkungen zu unserem Projekt. Unter Gepanzerte Gedanken (3) hat er am 03.11.2018 eine kurze ›Literaturgeschichte Stades‹ verfasst, an dessen Ende ihm das o.g. Anagramm eingefallen ist. Der THINK TANK beschäftigt sich im November mit den Möglichkeiten unseres Medientisches im Museum. Dazu haben wir alle Stader*innen aufgefordert, ihre Stade-Texte – ob Privatchronologie, Schüttelvers, Enthüllungsstory, Prosa oder sonstige Texte – am THINK TANK zu hinterlassen oder an uns zu schicken. In diesem Sinne stelle ich zur Eröffnung gerne dieses Anagramm ein.«
STADE HEUTE zerlegte ich 1994. So hieß eine Ausstellung, an der ich beteiligt war. Weitere Produkte lauteten:
HUETE STADE
SADE HUETTE
HUETTES ADE
DEUTE HASTE
HAUT DES TEE
HASE DUETTE
HATTE DUESE
DU SATTE EHE

SADE HUETTE klingt ähnlich wie HADES TUETE, setzt aber voraus, dass bei SADE der Marquis assoziiert wird. (Der gern verkannt wird; gibt Leute, die halten Die Philosophie im Boudoir für ein Grundwerk der sexuellen Selbstbestimmung.) Und der Stade-Bezug? Eben!
»… mir einzig bekannten Blogger Stades«: auch ich kenne keine(n) weitere(n). Stützt das meine These, dass die gemeinen Stader*innen lieber denken lassen statt selbst zu denken?
19. November
»Bürger wollen mehr Grün in der Stadt / Parks machen glücklich und Natur tut fast so gut wie Heiraten – sagt Dr. Barbara Zurek von der Initiative Stadtnatur über die Wirkung von Grün in der Stadt. Doch im Verlauf [des] Informationsabends zur Wirkung der Umwelt auf die Psyche wurde deutlich: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit liegen (…)«.
Soviel entnehme ich der Online-Ausgabe des Stader Tageblatt, und es reicht schon. Kurz zuvor hieß es an selber Stelle, die Stadt solle »fahrradfreundlicher« werden. Alles Humbug und Heuchelei.
Ein inzwischen pensionierter Stadtbaurat war als Baumhasser bekannt. Einmal wurde er sogar förmlich gerügt, weil er Bäume ohne Genehmigung hatte fällen lassen. Unvergessen sein Engagement für die Vernichtung der Allmersallee anno 2000, als Bäume völlig überflüssigerweise für einen Parkplatz weichen mussten.
Weil das vielen Bürgern nicht gefiel, wurden die Bäume für krank erklärt. Die Fällung fand in aller Eile im Morgengrauen statt, damit niemand bemerken konnte, dass die Stämme keineswegs innerlich verfault waren.
Für den Bau der Tiefgarage auf dem Sande wurden die Bäume gefällt, die den Platz umstanden. Und über Jahrzehnte wusste die Stadtverwaltung mit der leeren Fläche nichts anzufangen und erfand Vorwände gegen eine Wiederbegrünung. Inzwischen ist dort, na was wohl, ein Parkplatz.
Also einfach nicht hinhören, wenn das grüne Geschwätz einsetzt. (»Natur tut fast so gut wie Heiraten«; ein aufschlussreicher Vergleich: grünes Spießertum in voller Blüte.) Die »Grünen« fahren SUVs wie alle anderen und kommen sich fürchterlich fortschrittlich vor, wenn sie auch mal ein Fahrrad besteigen, um damit Fußgängern den Weg abzuschneiden.
Solange der gemeine Stader das Auto anbetet, bleibt alles, wie es ist, und es wird Parkhäuser statt Parks geben.
Die gegenwärtige Gestaltung von Grünanlagen folgt ohnehin nicht ästhetischen Aspekten, sondern Sicherheitsargumenten: hinter Bäumen und in Gebüschen können sich Schwarze Männer verstecken, von denen es in der Stadt wimmelt – wie den Autofahrern von Presse und Politik glauben gemacht wird, die allesamt Bäume und Büsche nur vom Vorbeirasen kennen.
(Siehe auch → Grüne Gedankengänge)
21. November
Bevor ich meine Bemerkungen zum Think Tank Stade aufnahm und währenddessen vergewisserte ich mich, was google dazu anbietet. Darunter inzwischen die Beschreibung des Projekts auf der Site der Kulturstiftung des Bundes:
»Das Museum Schwedenspeicher möchte mit den Bewohner/innen von Stade über Gegenwart und Zukunft ihrer Stadt ins Gespräch kommen. Die moderierten Diskussionsrunden sollen an verschiedenen Orten in der Stadt und im Museum selbst stattfinden. Um möglichst viele Stader/innen zu erreichen, kooperiert das Museum dafür mit der Friseur-Innung und den Elbe Kliniken. Eigens für das Projekt wird der Think Tank als digitales Gedächtnis der Stadtgemeinschaft entwickelt: An einem großen Tisch mit eingebauten Touchscreens können Gespräche gefilmt, Erinnerungsobjekte fotografiert oder Notizen gespeichert, verschlagwortet und für weitere Diskussionen online zugänglich gemacht werden. Darüber hinaus werden die Ergebnisse in mehreren Ausstellungen und zwei Stadtmodellen, die Gegenwart und Zukunft darstellen, präsentiert. Durch die verschiedenen Beteiligungsformate möchte das Museum auch erfahren, an welchen Themen für Sonderausstellungen die Bewohner/innen interessiert sind, wie eine Beteiligung der Bürger/innen aussehen und wie sich wiederum das Museum in städtische Diskurse einbringen kann.«
An den Projekteuren liegt es nicht, was im »digitalen Gedächtnis der Stadtgemeinschaft« gespeichert sein wird. Bemühungen, »mit den Bewohner/innen von Stade […] ins Gespräch [zu] kommen« gab es allerhand. Für das, was sie beitragen, sind sie selbst verantwortlich.
So weit, so redlich. Probleme macht mir der letzte Satz, wonach das Museum in Erfahrung bringen will, »wie [es] sich […] in städtische Diskurse einbringen kann.« Was soll ich mir dabei vorzustellen?
Angenommen, es handelt sich bei den »städtischen Diskursen« um das, worüber in der Stadt die Stadt betreffend geredet wird, erkenne ich im Wesentlichen zwei Gesprächskreise. An dem einen bin ich selbst beteiligt. Es ist das Gerede derer, die nichts zu sagen haben. Die das Geschehen in der Stadt erleiden wie ein über sie verhängtes Schicksal. In jenen Kreisen kommt keine »Stadtgemeinschaft« vor.
Was immer die Stadt betreffend von Bedeutung ist, wird in dem anderen Kreis besprochen und entschieden. Dieser Diskurs ist derart abgedichtet, dass in meinen Kreisen nur so viel davon ankommt, wie die Beteiligten wissen lassen wollen. Und das sind selten mehr als Phrasen und verschleiernde Floskeln.
Manchmal gelingt die Abschottung nicht ganz. Dann schnappen gemeine Bürger*innen in sie betreffenden Angelegenheiten Bruchstücke der Diskurse im maßgeblichen Kreis auf. Sofern sie sich, entwöhnt wie sie sind, überhaupt zu Wort melden, bleiben sie ungehört.
Gelangt etwas von ihren Gesprächen zu Ohren der anderen, sind die »maßgeblichen Dreihundert« lediglich daran interessiert, das Leck zu schließen. Dass sie sich dreinreden lassen, kommt keinesfalls in Frage.
Zuletzt gab es eine »Frauen-Power«-Aktion, bei der unter anderem darauf hingewiesen wurde, dass Männer Frauen nicht vergewaltigen dürfen. Natürlich richteten die Maßgeblichen sich nicht an ihresgleichen, die sich für aufgeklärt halten, sondern an die anderen, die solcher Aufklärung zu bedürfen scheinen.
Als mir bei einer Straßenaktion etwas in die Hand gedrückt werden sollte, wäre ich fast ausfällig geworden. Mit was für Männern haben diese Frauen in Stade zu tun, dass sie anno 2018 öffentliche Belehrungen über Frauenrechte für nötig halten?
Wenige Tage darauf verbreitet die Bundesfamilienministerin Alarmmeldungen über das, was jede/r wissen könnte, der nicht komplett vernagelt ist: Frauen werden zumeist von Männern umgebracht und nicht umgekehrt.
Von den Männerbünden, denen seit dem Mittelalter angehören muss, wer an den »städtischen Diskursen« teilnehmen will, war selbstverständlich keine Rede, als Stader Frauen meinten, mich als Mann an die Rückständigkeit der »Stadtgemeinschaft« erinnern zu müssen.
22. November
Vor dem Anzapfen des → freien WLAN in der Kälte in ein Café mit kostenlosem Internet-Zugang geflohen, höre ich mir die Sammlung von »Stade Sounds« auf der Website des Think Tank an.
Einige sind samstags rund um den Pferdemarkt entstanden. Als Location war der Markt mir schon im Werbe-Video des Projekts auf YouTube aufgefallen. Ein dankbarer Ort, ein typischer Schauplatz. In gewisser Hinsicht. In anderer Hinsicht wäre ein Supermarkt an der Cuxhavener Straße zur selben Zeit ebenso dankbar und typisch, aber weniger – pittoresk.
Die Mitschnitte vom Marktgeschehen haben mich angeregt, meine Beobachtungen zu bündeln und separat einzustellen: → Marktblumen.
28. November
In einer seit Jahrhunderten fest gemauerten Stadtlandschaft, in der dem Denkmalschutz religiöses Gewicht beigemessen wird, ist eine Baustelle je nach Einstellung ein Skandal oder eine Erholung. Statt durch Mauergassen bewegen die Passanten sich durch luftige Gestänge, als Vorübergehende in einem vorläufigen Gerippe, das verschwindet, indem es sich zum Gebäude verfestigt.
29. November
Weihnachten im Spiegel des Lokalanzeigers: Schießen, Jagen und Glühweinsaufen.
Stader Gesichter
13. Dezember
Als ich unlängst, ja, was eigentlich, sagen wir mal, im Inneren des Think Tank stöberte, fiel mir ein Zettel mit einem Zitat in die Hand, das mir nicht nur deshalb ins Auge stach, weil ich das dazu gehörige Buch vor mehr als 40 Jahren gelesen habe, sondern auch, weil ich mich eben erst mit dem Sujet befasst hatte. (→ Engelsbilder)
»Will man abstrahieren, dann muss man substrahieren. Wenn ich also in Gedanken aus meinem Zimmer alles wegnehme, was sich darin befindet, die Luft nicht ausgeschlossen, dann bleibt mir der reine Raum. Wenn ich von einem Zeitraum den Anfang und das Ende wegnehme, bekomme ich den Begriff der Ewigkeit. Wenn ich von einem denkenden Wesen den Körper wegnehme, bekomme ich einen Begriff von Engeln.«
Aus Die Handschrift von Saragossa von Jan Potocki.
16. Dezember
Der Weihnachtsmarkt geht mich nichts an, aber wie alle Tage begebe ich mich ins freie WLAN. Die eine und andere Tankstelle ist mit Buden blockiert, aber das wäre eine Einschränkung, die sich umgehen ließe. Schwierig wird es, wenn es regnet oder schneit. Mit einem Schirm zu hantieren ist mühselig und kommt allenfalls bei strömendem Regen in Frage. Bei dem Schneenieseln dieses Sonntags kam nur eine Stelle in Betracht. Eine wahre Abseite mitten im weihnachtlichen Getriebe, in der ich tatsächlich die längste Zeit vollkommen ungestört war.

29. Dezember
Wie wenig Literatur in Stade wert geschätzt wird, habe ich oben angedeutet. Zumindest gelten Produzenten von Literatur nichts, wenn sie sich für länger als eine Lesung in der Stadt aufhalten und keine plattdeutschen Döntjes verfassen.
Vielleicht verkehre ich nur nicht in den richtigen Kreisen. Denn zumindest literarische Produkte werden offenbar hoch geschätzt, wie der Blick in die Auslage einer Buchhandlung zeigt.
In 25 Jahren in der Stadt ist mir nie jemand begegnet, der Raymond Queneaus Stilübungen über den Autobus der Linie S gekannt oder dieser Sorte Literatur etwas hätte abgewinnen können.
Offenbar aber gibt es Liebhaber dafür, und zwar unter den Leuten, die sich mit Gesindel wie mir nie abgeben würden; unter denen, die, wie man so sagt, vor Geld stinken und 48 Euro für ein schmales Bändchen ausgeben, nicht um es zu lesen, sondern es als Buchkunst ins Regal zu stellen und damit zu renommieren.
Als Abzeichen der eigenen Großartigkeit wird Literatur in Stade also sehr wohl geschätzt. Ähnlich wie in Buxtehude, wo ein Buchpreis an möglichst nicht-deutschsprachige Bestseller-Autor/innen verliehen wird, um sich selbst mit den großen Namen zu schmücken.
Sich einen literarischen Klassiker ins Regal zu stellen, um Gäste zu beeindrucken, ist immerhin vorstellbar. Wie aber mag der Geist desjenigen aussehen, der mit dem TLP in einer Buchkunst-Ausgabe angibt?
Wie bitte, TLP, was soll das sein, fragt der Buchbesitzer zurück, falls ein Gast ihn darauf anspräche. TLP ist eine geläufige Abkürzung für den Tractatus logico-philosophicus von → Ludwig Wittgenstein, der für 42 Euro zu haben ist.
Vor mir auf dem Tisch liegt eine abgegriffene DDR-Reclam-Ausgabe, die auch die Philosophischen Untersuchungen enthält, und ich bezweifle, dass ich ein vernünftiges Gespräch mit dem Käufer der Luxus-Ausgabe führen könnte. Allenfalls würde ich die Lektüre von Sigmund Freud empfehlen, um dem eigenen Fetischismus auf die Spur zu kommen.
Worüber sich die Besitzer der Buchkunstwerke von Stilübungen und TLP unterhalten? Über Autoverkehr, Fußball und das Fernsehprogramm vom Vorabend vermutlich.
15. Januar 2019
Nachdem ich unlängst mit dem verkorksten Männerbild der einheimischen Frauenschaft im Rathaus bekannt gemacht worden war (alle Männer sind potenzielle Schläger, Vergewaltiger und Freier), entdecke ich in der Buchhandlung nebenan den »Männerkalender«.
Zum Titel »Survival« wird ein Vollbärtiger mit Pfeife gezeigt. Vollbärte sind allerdings wieder einmal angesagt (wie zuletzt zur Kaiserzeit) – aber die Pfeife? Ich war vor 20 Jahren Pfeifenraucher und habe, seitdem ich davon abgekommen bin, beobachten können, wie selten Männer mit Pfeife wurden (Frauen assoziiert ohnehin niemand damit). Aber Rauchen an sich gilt doch inzwischen als asozial …
Was für einen seltsamen, »survival of the fittest«-Typ soll ich mir also beim »Männerkalender« vorstellen? Keinen vermutlich, weil ihn die emanzipierten Damen aus dem Rathaus kaufen sollen?
20. Januar 2019
Nicht meine Männerfantasien stehen im Stadtbild.
21. Januar
Die »Arbeitsgemeinschaft sozialdemokratischer Frauen« tritt in altertümlichen Kostümen auf, um 100 Jahre Frauenwahlrecht zu begehen, und das Stader Tageblatt jubelt dazu, dass in Berlin, Buxtehude und Stade Frauen »an der Spitze« stehen.
Unlängst demonstrierten die verkleideten Genossinnen dagegen, dass Frauen wie eh und je sexuell bedrängt und belästigt oder geschlagen und vergewaltigt werden. Wie das zusammenpasst? Wird nicht erklärt.
Das Geschlechtssymbol in Lila konnte man in den 1980ern in Stade und Buxtehude kaum, in Hamburg allerdings allenthalben sehen. Die Idee der Gleichberechtigung musste damals tatsächlich noch propagiert werden. Muss sie heute nicht mehr, heißt es in der Zeitung; muss sie doch, verkündete ein Banner am Rathaus.
Ja, was denn nun? Oder stellen nur die falschen Leute falsche Fragen? Frauen werden für dieselbe Arbeit unverändert geringer entlohnt als Männer, und nach wie vor gibt es Branchen, die damit kalkulieren. Ist das nicht ein brennenderes politisch bearbeitbares Problem, als die sexuelle Ausbeutung, an der sich durch Kundgebungen auf der Straße nichts ändern kann, weil sie unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet?
Über sexuelle Ausbeutung ist leichter reden als über wirtschaftliche. Gegen Männer zu demonstrieren, die Frauen schlagen, betrifft diese nicht, zumal sie natürlich nur abstrakt an den Pranger gestellt werden können. Der Unternehmer, der mit billiger Frauenarbeit Profit macht und deswegen nicht auf staatliche Vergünstigungen verzichten muss, wird von den Frauenrechtlerinnen im Rathaus empfangen und in der Zeitung, die von seinen Anzeigen lebt, als Vorbild hingestellt.
Wie niedrig war nach letztem Stand der Anteil an weiblichen »Führungskräften«? Ohnehin nur ein Indikator, der von anderem ablenkt. Dieses Maß zu registrieren kam ebenso wie »Frauenquote« vor rund 40 Jahren auf. Und nichts scheint sich geändert zu haben?
Frauen, die sich für Frauenrechte einsetzen, werden nicht mehr wie ehedem diskriminiert – sofern sie keine Forderungen erheben, die politisch sind, sondern im sexuellen Nebel stochern.
Bei Vergewaltigung und dem, ihr voraus gehen kann, handelt es sich um Straftaten. Dagegen zu demonstrieren ist so zwecklos, als ginge man/frau gegen Mord oder Einbruch auf die Straße. Freilich gibt es politisch beeinflussbare Faktoren an Verbrechen. Zum Beispiel, dass sie als solche erkannt werden. Strafrechtsnormen sind nicht sakrosankt und können freilich politisch diskutiert werden. Idealiter sollten Gesetze in einer Demokratie aus solchen Erörterungen hervorgehen.
Stalking wurde 2003 nicht deshalb als »Nachstellung« in das Strafgesetzbuch aufgenommen, weil es Demonstrationen gab, sondern nachdem das entsprechende Verhalten mit dem Aufkommen des Internet einen Aufschwung erlebte und in der Medienöffentlichkeit erstmals wahrgenommen worden war.
In puncto Vergewaltigung scheint insofern alles klar. Kein Erörterungsbedarf. Jede/r hat unzählige Filme gesehen oder Romane gelesen, in denen ein Mann über eine Frau herfällt. Und bisweilen wird, auch aus politischen Gründen, über eine wirkliche Vergewaltigung berichtet (etwa wenn der Täter ein Ausländer war).
Sehr gelegentlich wird in Stade und umzu eine Vergewaltigung vermeldet – wenn der Tatort öffentlich zugänglich war und die Polizei mit einem Fantombild fahnden muss. Sonst schweigen die Behörden aus guten Gründen, und für die Medien besteht allenfalls die Möglichkeit, einer Gerichtsverhandlung beizuwohnen. Die finden in der Regel im Amtsgericht statt, wo sich Journalisten fast nie sehen lassen.
Die Justizverwaltung teilt nicht mit, wie viele Delikte dieser oder jener Art sie verarbeitet hat. Wer dazu Angaben sucht, ist auf kriminologische Fachliteratur angewiesen, sofern sie vorliegt. Exakte Angaben über Vergewaltigungen in Stade sind ein Geheimnis.
Ich habe einigen Prozessen beigewohnt, dem ersten 1988 in Hamburg, und muss vor allem den Abstand hervorheben zwischen dem medialen Abziehbild und der Realität des Verbrechens. Keiner der Fälle war politisch instrumentalisierbar. Wenn ich mich nicht irre, war keiner von der Polizei annonciert worden, und über die meisten berichtete ich allein.
Hat sich überhaupt ein Verbrechen ereignet? Allein darum kreiste oft die Beweisaufnahme. Sachliche Beweismittel fehlten häufig. Ob auch das Opfer zeitnah medizinisch untersucht wurde, waren die Befunde nicht zwingend eindeutig. Ein der Vergewaltigung Beschuldigter erklärte seine Spermaspuren mit einvernehmlichen Geschlechtsverkehr; dass es keine typischen Verletzungsmuster am Opfer gab, besagte nicht, dass keine Vergewaltigung stattgefunden hatte. Vielfach meldeten sich die Opfer erst mit Verzögerung bei der Polizei, wenn forensisch ohnehin nichts mehr feststellbar war – und der Fall ganz von der Glaubwürdigkeit der Anzeigeerstatterin abhing.
Überflüssiges Getue? »Die Schuld ist immer zweifellos«, wie der Offizier in Kafkas Strafkolonie meint? Dass es erwiesene Freisprüche von der Anklage der Vergewaltigung gibt, rechtfertigt das Verfahren insgesamt. Und so leicht es sich politisch gemacht wird: der genaue Umfang der Schuld muss eruiert werden, um die Strafe zu bemessen. Passt nicht auf ein Transparent, diese Wahrheit: Vergewaltiger sind nicht alle gleich.
In Filmen, Romanen und der Sensationsberichterstattung werden dramatische Szenen bevorzugt. Ohne damit eine statistische Angabe machen zu wollen: bei der Mehrzahl der Taten, deren Beteiligte ich im Gerichtssaal kennen lernte, wurden die Opfer ohne Schläge überwältigt. Fernsehzuschauer hätten sich gelangweilt.
Verbrechen werfen oft ein Schlaglicht auf soziale Verhältnisse. Bei Vergewaltigungen spielt der gesellschaftliche Rahmen kaum eine Rolle. Die Gemeinsamkeiten zwischen dem Mann, der seine Ehefrau vergewaltigt (was erst seit einer Weile strafbewehrt ist) und dem Disco-Besucher, der eine Zufallsbekanntschaft in eine dunkle Ecke zerrt, lassen sich nicht in politische Parolen pressen.
Ein Mal wäre ein Fall fast politisiert worden, aber nicht an der Stelle, wo es sich anbot. Zufällig kannte ich seine Vorgeschichten.
Im Zuge der Anwerbung für eine ehrenamtliche Rettungsorganisation hatte ein Mittdreißiger in seiner Wohnung einem 17-Jährigen von hinten durch die Beine an das Geschlechtsteil gegriffen und die Hand in den Hosenbund zu schieben versucht.
Seit er 13 ist gehörte der Angeklagte dem Verein an: »Das ist mein Lebensinhalt!« Im Verein betreute er Jugendliche, lud sie zu Video-Abenden ein; zuweilen blieben sie über Nacht, »aber ohne Berührungen«, wie er beteuerte.
So offenkundig er auf sexuelle Gefälligkeiten spekulierte, war das beweisbare Geschehen juristisch grenzwertig. Drohung oder gar Gewalt fehlten, eine sexuelle Nötigung erkannte das Gericht nicht, wohl aber eine Beleidigung. Das Verfahren wurde gegen eine Geldbuße von 500 Mark an eine Kinderhilfsorganisation eingestellt.
Ein Urteil wäre womöglich nicht anders ausgefallen, hätte aber zu einer eingetragenen Vorstrafe geführt, wofür der Angeklagte gewissermaßen Bewährung erhielt. »Sie haben ein Problem«, wandte sich der Richter an ihn, »arbeiten Sie daran.«
»Da gab es schon mal was«, begründete ein Vorstandsmitglieds des Vereins, warum er als Zuschauer dem Prozess folgte. Bereits sechs Jahre zuvor hatte es einen Freispruch vom Vorwurf der sexuellen Nötigung gegeben.
Für den Vorstand war der Fall klar, nachdem er die Befragung des Vereinskameraden durch den Richter erlebt hatte. Er wolle dafür sorgen, dass er aus dem Verein ausgeschlossen werde, um weiteren Vorfällen vorzubeugen, sagte er mir am Rande der Verhandlung.
Das geschah nicht. Im Jahr darauf wurde der Rettungshelfer wegen Vergewaltigung verurteilt.
Hat überhaupt ein Verbrechen stattgefunden? Der regionale Kandidat einer Partei kommentierte als Privatmann den Prozess, dem er nicht beigewohnt und über den er sich durch einen Zeitungsbericht hatte informieren lassen, und legte in einem Leserbrief seine Rechtsauffassung dar: Bestreitet der Angeklagte und steht demnach Aussage gegen Aussage, muss in dubio pro reo angenommen werden, dass das Opfer lügt. Es reicht mithin, das Verbrechen zu bestreiten, um straffrei zu bleiben?
Der Kandidat wollte es nicht dabei belassen. Eine Erklärung seiner Partei zur Pädophilie mit der Forderung nach Straffreiheit war bereits geschrieben, als offenbar wurde, welchen persönlichen, um nicht zu sagen intimen Anliegen von Parteifreunden das politische Statement zu dienen schien.
Ein mit dem Kandidaten eng befreundeter Funktionär der Partei war einschlägig vorbestraft und hatte Mitte der 1990er die Aufmerksamkeit von Journalisten auf sich gezogen, als sein ehrenamtlicher Umgang mit schwarzafrikanischen Asylbewerbern ins Zwielicht geriet.
Die Anschuldigungen nicht, aber dass Journalisten sie recherchierten, beunruhigte die zuständigen Behörden. Um weitere Nachfragen abzublocken und bevor mehr aufgeklärt werden konnte, wurde dem Betreuer der Umgang mit Asylbewerbern untersagt.
Die Parteierklärung zur Pädophilie mit dem Namen des Betreuers als Funktionär im Briefkopf wurde schließlich nicht verschickt, und das Politikum blieb aus.
Soviel könnte sich in den vergangenen Jahrzehnten eigentlich geändert haben, dass die spezifischen »Frauenfragen« auf ein Minimum reduziert sind. Soviel Gleichberechtigung sollte inzwischen sein, dass sie als »Menschenfragen« erkannt sind, bei denen die biologische Differenzen ohne Belang sind und die alle Geschlechter betreffen (seien es drei oder mehr). Sexuelle Übergriffe sind jedenfalls, wie gesehen, kein exklusives Frauenproblem.
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