Die Geschichte und der Umgang der »Hansestädter« mit ihr

● Der Besuch in Stade

Gegen acht Uhr abends am 18. Mai 1773 erschien ein Zweimaster vor den Mauern der Festung Stade. Der Schiffer gab drei Salutschüsse ab, die von der Schanze erwidert wurden. Doch erst mit der nächsten Flut, um Mitternacht, konnte er in den Hafen einlaufen. „Die Gespensterstunde“, nickte sein Passagier, „wenn allein Reisende, Kranke, Verliebte und Sternkundige noch wachen, wird für mich, auf den drei dieser Kategorien zutreffen, die rechte Ankunftszeit sein.“

Ungeachtet seines Schnupfens rauchte der Passagier eine Pfeife nach der anderen und trank englisches Ale. Fünf Stunden waren sie von Hamburg aus elbabwärts gefahren. Der Strom war hier Staatsgrenze: rechts das Königreich Dänemark, links das Kurfürstentum Hannover, das in Personalunion vom englischen König regiert wurde.

Als Astronom der bedeutendsten Universität des Reichs – Göttingen – war der Passagier dem König 1770 in dessen privater Sternwarte vorgestellt worden. Georg III. hielt keinen großen Hof, sondern bevorzugte bürgerlich begrenzte Kreise. Dem gelehrten Gast war es nur recht: In großen Gesellschaften gab es immer einen Geck, der sich auf seine Kosten amüsieren wollte.

Der Passagier war ein höckeriger Zwerg; sein Kopf jedoch war „schön, blond, lieblich“, mit leuchtend blauen Augen: eines Engels Antlitz auf dem verkrüppelten Körper eines rachitischen Kindes.

Als er in Stade landete, gab er sein Alter mit 28 an. Bis zu seinem Tod 1799 täuschte Georg Christoph Lichtenberg alle Welt über sein Geburtsjahr. Erst danach wurde das genaue Datum festgestellt: 1. Juli 1742. Warum er zwei Jahre unterschlug, ist nicht geklärt.

Lichtenberg in Stade (Bild: urian)
Lichtenberg in Stade (Montage: urian)

Ausgestattet mit Visierinstrument und Magnetnadel, Pendel, Präzisionsuhr und dem Teleskop für 60fache Vergrößerung, gelotst vom Astronomischen Kalender bereiste er seit einem Jahr im Auftrag des Königs das Sternenmeer, um die geographischen Positionen von Hannover, Osnabrück und zuletzt Stade zu bestimmen. Das Ingenieur-Corps würde seine Beobachtungen und Berechnungen des Sternenstandes verwenden, um auf den Karten der Kurhannoverschen Landesaufnahme die Windrose korrekt auszurichten.

Knapp sechs Monate verbrachte der bedeutendste Philosoph der deutschen Aufklärung als Messkünstler in der Schwingefestung. Bald nach seiner Ankunft teilte er einem Freund mit, „dass es mir in meinem Leben nirgends weniger gefallen hat als hier“. Er war schließlich heilfroh, „das Nest“ wieder verlassen zu können.

Stade verdankt ihm daher die stilvollsten Beschimpfungen, die ihr je zuteil wurden: „Das gemeine Volk ist hier faul, dumm und grob. Die meisten Vornehmen sind nicht viel besser. Um alle Kleinigkeiten wird sich bekümmert, und alles, was man hört, übel ausgelegt. Es weht hier fast beständig ein unangenehmer Wind, der zuweilen so mutwillig scherzt, dass nicht allein die Mädchen ihre Mützen und der Bürger seine Perücke, sondern sein Dach riskiert. Der Wall ist allerdings sehr angenehm, aber da gehen die oberwähnten Leute drauf, auch der Spaziergang nach der Elbe wäre schön, wenn der Wind nicht wäre. Es gibt auch zuweilen schöne Tage, sie sind aber selten, vielleicht weil sie die Leute nicht wert sind, denn über andre räsonieren und spielen kann man bei Regenwetter und Wind auch, und das ist doch alles, was die meisten tun.“

Warum er die Grenzfestung und Garnisonsstadt verabscheute? Es gab weder Theater noch Universität, keine Akademiker und Schriftsteller, sondern nur Soldaten, Kaufleute, Verwaltungsbeamte, Karrengefangene, Kasernen und Werften.

Nach dem Dreißigjährigen Krieg waren die Schweden eingezogen, dann die Dänen, die Stade an Hannover verkauften, zuletzt bezog man hier beim Siebenjährigen Krieg Stellung. Irgendwer hat stets Kasematten und Kontore besetzt und die Festung aufgerüstet. Auf 3.500 Bewohner kamen 1.000 Soldaten. Kanonendonner, Trommelwirbel, Säbelrasseln und Marschtritt waren allgegenwärtig.

Trotzdem er unter Schnupfen und Zahnschmerzen, schneidendem Wind und Regen litt, fand Lichtenberg immer etwas zu beobachten und zu beschreiben; seine 60 Stader Briefe sind eine kurzweilige Lektüre. Einiges aus der Zeit ging außerdem ein in die „Sudelbücher“, die ihn posthum berühmt machten: zufällige Betrachtungen über Planeten und Menschen, Zitate und Gesprächsfetzen, Schnurren, Skizzen physikalischer Experimente und philosophische Denkübungen.

Eintragungen wie diese: „Ich habe einmal in Stade eine Ruhe mit einem heimlichen Lächeln in dem Gesichte eines Kerls erblickt, der seine Schweine glücklich in eine Schwemme gebracht hatte, worein sie sonst ungern gingen, desgleichen ich nachher nie wieder gesehen habe.“

Lichtenberg in Stade (
Lichtenberg in Stade (Zeichnung: urian)

Bald nach seiner Ankunft war er erstmals Zeuge eines Stapellaufs: Mit Volksfest und Feuerwerk wurde eine Fregatte für den Zolldienst auf der Elbe getauft. Ein Vorschlag des Erdvermessers, die gewundene Schwinge zu begradigen, fand keinen Anklang bei den Einheimischen. Im August erlebte er zitternd die erste Sturmflut seines Lebens.

Er beobachtete die Karrengefangenen, die mit riesigen Holzschrauben die Marsch entwässerten. „Ist denn kein Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Schinderei?“ kritzelte er ins „Schmierbuch“. Er war dabei, als einer der Sträflinge floh und sich aus Verzweiflung in der Schwinge ertränkte.

Man hat die Gassenwindungen der Stader Altstadt mit einer Muschel verglichen; die Ende des 19. Jahrhunderts geschliffenen Festungsmauern, ihre Bastionen, Escarpen und Contregarden, umschrieben diese Spirale mit einem vielfach gezackten Stern. Sein Feldobservatorium errichtete Lichtenberg auf einem der Zacken, dem Bleicher-Ravelin, wo der Major des Ingenieur-Corps Georg Friedrich Isenbart einen Garten unterhielt – heute ist dort die Museumsinsel.

Major Isenbart war der einzige, mit dem Lichtenberg sich anfreundete; nächtelang observierten sie gemeinsam den Himmel. Die Garteninsel war nur per Ruderboot erreichbar, so dass der Sterngucker ansonsten ungestört blieb.

G. Chr. Lichtenberg (Bild: urian)
Georg Christoph Lichtenberg (Bild: urian)

Seine Miniatur-Sternwarte entwarf er nach dem Vorbild einer Kutsche: Ein Verschlag von drei mal zwei Metern, mit beweglichem, zeltdachartigem Aufbau, überspannt von Leinwand. In geschlossenem Zustand ähnelte sie wohl einer „Calesche“; waren aber die Dachflügel geöffnet, glich die Kiste einem Segelschiff, auf dem das Teleskop als Mast mit dem Ausguck ragte. Eine Kutsche, um über den Himmel zu segeln.

Die Stader begriffen nicht, was der Gnom trieb. „Die meisten glauben im Ernst, ich sei vom König hieher geschickt, wegen der vielen nassen Jahre mit der Erdkugel eine kleine Veränderung vorzunehmen, und dass die Geister des Nachts zu mir kämen, welches mich hier in einen solchen Ruf bringt, dass ich das Gespräch der Stadt und des ganzen Landes umher bin.“

Um die Genauigkeit seines Visierinstruments zu überprüfen, zog der kleine Professor mit dem Major und einigen Gehilfen für zwei Wochen in ein Zeltlager vor den Stadttoren. Eine Strecke von über einem Kilometer wurde mit Pfählen auf freiem Feld abgesteckt und ausgemessen – irgendwo zwischen Riensförde und Hagen, in der Barger Heide.

Im Juli unternahm Lichtenberg in Begleitung von acht Offizieren eine für seine Zeit spektakuläre Reise. Niemand reiste damals aus Schaulust. Schon gar nicht, wenn das Ziel Helgoland hieß, die einsame, von der Nordsee umtoste, damals dänische Felseninsel.

Die Überfahrt auf einem Frachtsegler wurde lebensgefährlich, die „Argonauten“ brachten sich auf Neuwerk in Sicherheit, um besseres Wetter abzuwarten. Vor Lichtenberg war wohl niemand aus Spaß im Watt gewandert, und er kann als Erfinder des Helgoländer Tagestourismus gelten: denn der Inselkommandant erlaubte nur einen kurzen Spaziergang und schickte ihn und seine Begleiter vom feindlichen Militär dann wieder fort.

1793 warb Lichtenberg in einem Aufsatz für die Einrichtung von Seebädern und schlug auch Helgoland vor. Auf diese Anregung hin wurde im nächsten Jahr in Heiligendamm an der Ostsee das erste deutsche Seebad eröffnet; an der Gründung des Cuxhavener Bades war Lichtenberg direkt beteiligt. Seine Vergnügungsreise nach Helgoland war eine Pioniertat und macht das „bucklichte Männlein“ zum Ahnvater des Tourismus überhaupt.

Anfang November 1773 verließ er Stade in Richtung Harburg, um bei einem Herrn von Münchhausen ein besonders leistungsstarkes Fernrohr zu erproben. „Harburg und Hamburg, Hierburg und Hinburg“, schrieb er, „Hannover ist soviel als Hinüber.“ Er hob den Bleistift vors Auge, als visiere er die Festung an: „Ade Stade!“

Literatur ▪ U. R.: Lichtenberg in Stade. Ein biographisches Bruchstück, Dortmund-Bielefeld 1999

lichtenberg_helgoland_05

Es gibt in Stade eine Anzahl Historiker, die ihre Existenz mit Forschungsaufträgen der öffentlichen Hand bestreiten. Kaum jemand außer ihren Kollegen und Auftraggebern nimmt ihre Werke zur Kenntnis, weil sie nicht Geschichte darstellen, sondern die in Akten niedergelegten Ansichten der jeweils Herrschenden wiederholen. Ihre Aufträge sehen nicht vor, Geschichte zu vermitteln, und den Auftraggebern ist es umso lieber, wenn das Verständnis geschichtlicher Vorgänge auf einen kleinen Kreis von Eingeweihten beschränkt bleibt.

Dass Institutionen der Demokratie Forschungen finanzieren, die einem breiteren Publikum Historie näherbringen, mag vorkommen. Nicht jedoch in Stade, das abseits aller seitherigen Staatsverfassungen seit einem halben Jahrtausend von Männerbünden, die sich »Brüderschaften« nennen, regiert wird. Diese Geschichte ist selbstverständlich nicht erforscht und soll auch nicht näher betrachtet werden, weil sie an die Gegenwart anschließt.

Da außer ihnen niemand ihre Geschichten zur Kenntnis nimmt, haben sich Auftraggeber und Autoren nie kritischen Fragen ausgesetzt gesehen und sind ihre durch öffentliche Gelder geschmierten »brüderschaftlichen« Verbindungen unangetastet geblieben.

Abseits dieser akademischen Geschichtsschreibung, die zwar parteiisch aber sachlich ist, gibt es die Geschichte der Tourismuswerber, die im Wesentlichen aus Täuschungen und Lügen besteht. Sie kulminieren in der Vorspiegelung einer Geschichte als Hansestadt, auf die ich an anderer Stelle bereits eingegangen bin.

In der tausendjährigen Chronik der Stadt finden sich wenige Namen, die über die Region hinaus bekannt sind. Der mit Abstand prominenteste ist Georg Christoph Lichtenberg, der ein halbes Jahr als Astronom in Stade verbrachte. Zufällig ergab es sich, dass kurz nachdem meine dokumentarische Erzählung Lichtenberg in Stade erschienen war, auf der Museumsinsel, wo der Philosoph sein Fernrohr aufbaute, eine Statue aufgestellt wurde. Der Einweihung wohnte ich als unerwünschter Gast bei.

Ein neuer und mit den mafiösen Gepflogenheiten in der Stadt noch unvertrauter Redakteur der Kreiszeitung hielt es für eine naheliegende Idee, seinen Bericht über das Denkmal mit einem Hinweis auf mein Buch zu verbinden. Anschließend wurde er dafür angerempelt, und über diesen Umweg erfuhr ich, dass dem Stader Tageblatt geraten worden war, mein Buch zu ignorieren. Natürlich war es auch nicht in den Buchhandlungen erhältlich.

Lichtenberg hat es in Stade nicht gefallen, und er hat sein Unbehagen deutlich formuliert. So geht das in der »Hansestadt«: man schmückt sich mit dem Namen, aber die wahre Geschichte will man nicht kennen.

lichtenberg_2

Mit erheblicher Verzögerung ist die Statue mit einer Tafel versehen worden. Sie demonstriert, wie es mit dem Verständnis von Geschichte in der Stadt bestellt ist, die damit renommiert. In den vier Sätzen ist ein kapitaler Fehler enthalten: »im November 1773 zog er weiter nach Cuxhaven«. Tatsächlich war seine nächste Station Harburg. Gut für die hoch bezahlten, aber offensichtlich wenig sorgfältigen Tourismuswerber, dass kein Reisender in meinem Buch nachlesen kann, wie es wirklich war.

In Cuxhaven hielt Lichtenberg sich auf dem Weg nach Helgoland auf. Seine Reise dorthin ist eine Pioniertat des Tourismus. Aber das zu würdigen, ist von den Fremdenverkehrsfachleuten in Stade zu viel erwartet. Die zählen lieber auf, welche Generäle in der Stadt geboren wurden, sonst aber keine Spuren hinterlassen haben. Krieger gelten viel unter den »Brüdern«.

30. Oktober 2017: Unter
http://www.museen-stade.de/freilichtmuseum/museumsgelaende/9-lichtenberg-denkmal wird eine Fehlermeldung angezeigt. Offenbar ist der redaktionell Verantwortliche, ein gewisser Dr. Sebastian Möllers M.A., der als »Museumsdirektor« fungiert, mit der inhaltlichen Ausstattung der Website der »Museen Stade« überfordert.

März 2019: Fehler 404 wird weiter angezeigt. Und die Tafelaufschrift ist wie gehabt falsch.

Lichtenberg-Denkmal Stade (Foto: urian)

Siehe auch Lichtenberg auf Helgoland