Eine Tafel an der Landungsbrücke verzeichnete penibel die Zahl der Fremden: 5749, mehr als doppelt soviel wie Einheimische. Ein Uhr mittags, eben hatte sich das größte der sieben Schiffe, die vor der Insel auf Reede lagen, die Wappen von Hamburg, entladen, Börteboote hatten 1200 Leute an Land gesetzt.

Vier Stunden dauerten Hin- und Rückpassage von Cuxhaven, drei Stunden der Aufenthalt. Die Besuchermassen machten einen Rundgang auf dem Oberland, schoben durch das Gedränge in den rechtwinkligen Gassen um die Hauptstraße des Vorlandes, den Lung Wai, den Langen Weg, kauften zollfrei Alkohol, Tabak und Parfüm ein.

Die Ausflügler ahnten nicht, auf wessen Spuren sie wandelten. Seinetwegen verweilte ich zur Recherche länger auf der Insel als üblich.

Seebad ist Helgoland seit 1826, der Eintagstourismus begann vor fünfzig Jahren. Doch der erste, der das Eiland in der Nordsee spaßeshalber für ein paar Stunden besuchte, kam bereits 1773: ein einsfünfzig kleiner, verwachsener Philosoph, Georg Christoph Lichtenberg, seinerzeit Physiker und Astronom in Göttingen, heute bekannt als Protagonist der Aufklärung und Verfasser der nachgelassenen Sudelbücher.

Georg Christoph Lichtenberg in Stade (Zeichnungen: urian)

Den „Deutschen Bade-Meister“ hat ihn der Herausgeber dieser Notizbücher, Wolfgang Promies, genannt. 1793 nämlich hatte Lichtenberg, beeindruckt durch Beobachtungen in England, in einem Aufsatz gefragt: „Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad?“ Und Helgoland als Standort vorgeschlagen. Im selben Jahr wurde tatsächlich das erste Seebad in Heiligendamm an der Mecklenburger Ostseeküste eröffnet.

Obwohl er seine letzten zwanzig Jahre nurmehr in Göttingen verbrachte, war Lichtenberg ein See- Enthusiast. Die Reise nach Helgoland war bereits seine sechste Wasserfahrt. Seinerzeit reiste man nicht aus purer Schaulust. Nicht nur, dass die Verkehrswege keinen Genuss aufkommen ließen – die Idee der Vergnügungsreise selbst war unbekannt. Mit seinem schrulligen Vorhaben, Helgoland besichtigen zu wollen, ist Lichtenberg ein Ahnvater des Tourismus.

Zur Zeit der Abreise wohnte der 31-Jährige in Stade. Zwischen Dezember 1771 und November 1773 war Lichtenberg als Astronom in Hannoverschen Landen unterwegs, um die geographischen Positionen von Hannover, Osnabrück und Stade für ein militärisches Kartenwerk zu bestimmen. Nacht für Nacht bereiste er in seinem Feldobservatorium das Sternenmeer. Eine anstrengende und eintönige Arbeit. Zumal Stade, die Festungsstadt an der Unterelbe, ihn anödete. Einem Freund teilte er mit, „dass es mir in meinem Leben nirgends weniger gefallen hat als hier“.

Lichtenberg in Stade 1773 (Zeichnungen: urian)

Um so lieber suchte er das Weite und bestieg am 9. Juli 1773 die „Kuff“, einen anderthalbmastigen Küstenfrachtsegler. Acht Infanterie-Offiziere der Stader Garnison, der Schiffer und zwei Matrosen, drei Diener und eine Köchin waren mit an Bord. Die Besatzung hatte mehrfach gewechselt, verheiratete Offiziere hatten sich von den Gefahren der Überfahrt bange machen lassen.

Elbaufwärts hatten sie Flaute und mussten rudern. Kaum auf dem Meer, blies ihnen der Wind desto heftiger entgegen. Und schließlich näherte man sich einer „Kälbertanz“ genannten Stelle, wo häufig Schiffe scheiterten: „Die Wellen, die an die verborgenen Klippen und Sände anstoßen, steigen in allerlei Richtungen als ein weißer Schaum in die Höhe, welches in einiger Entfernung aussieht, als wenn eine Herde weißer Kühe sehr mutwillig durcheinander spränge.“

Der Ort hat es weiterhin in sich, und die Lautsprecherstimme auf der Wappen von Hamburg vergaß nicht, die Wracks der beiden Schiffe zu erwähnen, die in den Winterstürmen 1961/62 strandeten und backbord in Sicht kamen. Lichtenbergs Reisegesellschaft ankerte vor der Insel Neuwerk und wanderte im Watt, bis der Wind nachließ.

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Kuff / Kuffe

„Die See war durchaus perlenfarbig, glatt wie ein Spiegel, und gegen Westen unter der Sonne schien sie zu brennen; die Tümmler und Seehunde begleiteten unser Schiff und wurden für diese Ehre zuweilen mit einer Kugel begrüßt.“

Am dritten Tag sahen sie um sechs Uhr abends den roten Felsen aufragen und gingen gegen Mitternacht vor Anker. Mit übermütigen Kanonenschüssen kündigten sie ihre Ankunft an und sorgten so für Aufregung unter den Insulanern.

Von 200 bis 300 Menschen begleitet, stiegen sie die Treppe zum Oberland hinauf. Dort wurden sie vom Inselkommandanten aufgehalten; er verlangte Pässe. Da sie keine vorweisen konnten, verweigerte er ihnen den Zutritt und verstärkte die Wachen. Helgoland war seit 1714 dänisches Hoheitsgebiet, Lichtenbergs Begleitung aber bestand aus „feindlichen“ Soldaten. Ihr Geballer hatte den Argwohn des militärischen Befehlshabers erweckt.

„Deutsche Schicksalsinsel“ nennt sich Helgoland. Den Besucher empfängt an der Landungsbrücke eine Büste Hoffmann von Fallerslebens, der hier den Text der Nationalhymne verfasste. 1807 eroberten die Briten die Insel. Napoleon hatte eine Kontinentalsperre verhängt, um England auszubluten, Helgoland wurde zum Hauptstützpunkt des Schmuggels – ganz wie dort später Zollgesetze außer Kraft waren. Im Tausch gegen Rechte in Ostafrika wurde das Eiland 1890 deutsch.

Die Abgewiesenen kehrten auf dem Vorland in ein Wirtshaus ein. Lichtenberg ließ dem Pastor eine Nachricht zukommen. Dieser und der Inselvogt, der Bürgermeister, besuchten die Reisenden an Bord ihres Seglers. Vergeblich hatten sie versucht, den Kommandanten zu überreden, zumal noch nie Besucher abgewiesen worden waren.

Nach erneuten Verhandlungen gelang es dem Pastor immerhin, dem Kommandanten die Erlaubnis abzutrotzen, den Zivilisten Lichtenberg mit sich ins Pfarrhaus zu nehmen. Eskortiert von einer Abordnung der Inselbewohner und einem bewaffneten Soldaten, gelangte der schaulustige Gelehrte schließlich auf den roten Felsen.

„Ich glaube, hätte mein Bruder oder mein bester Freund, der von meiner Ehrlichkeit noch so gut überzeugt gewesen wäre, damals aus den Wolken gesehen, er hätte glauben müssen, ich würde zum Galgen geführt.“

Weiter als bis zum Pfarrhaus kam er allerdings nicht. Er sah nicht den berühmten freistehenden Felsen, die Lange Anna, oder das 1895 eingestürzte Felstor Sneppgatt. Alles in allem verweilte Lichtenberg kaum länger auf Helgoland als die meisten heutigen Besucher.

Der Ausflug endete mit einem schlechten Witz. Eine Hamburger Zeitung meldete, das Schiff sei auf einer Sandbank verunglückt und alle Passagiere bis auf zwei umgekommen. Doch der Scherz scheiterte: Die Nachricht kam erst einen Tag nach den Reisenden in Stade an.

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Quellen und Literatur

O. Deneke: Lichtenbergs Leben I (1742–1775), München 1944 ▪ G. C. Lichtenberg: Briefwechsel Bd. I 1765–1779, Hg. U. Joost / A. Schöne, München 1983 ▪ E. Lüth: Helgoland die unzerstörbare Insel, Hamburg 1979 ▪ H. P. Rickmers (Hg.): Helgoland, Hamburg 1980 ▪ U. R. in Frankfurter Rundschau 19.2.1994; Hamburger Abendblatt 22.2.1996; Lichtenberg in Stade, Dortmund-Bielefeld 1999; die tageszeitung 13.2.1999; Neues Deutschland 20.7.1999 ▪ H. Szymanski: Die Segelschiffe der deutschen Kleinschiffahrt [1929], Norderstedt 1977 ▪ E. Weber: Beiträge zur Geschichte der Insel Helgoland II 1714–1807, MS o. J. [1934], Slg. Stichtenoth, Helgoland ▪ G. Westphal: Lexikon der Schiffahrt, Reinbek 1981

© Uwe Ruprecht

Siehe auch → Lichtenberg in Stade

Weitere → Geschichten aus Stades Geschichte