Der Pädagoge Gustav Wyneken (Stade 1875 – Göttingen 1964)
An seinem Grab macht man sich die Finger schmutzig. Für ein Foto pule ich Dreck aus den Lettern in der Grabplatte. Göttingen, Alter Stadtfriedhof, Abteilung E 14, Nr. 290: Hier ruht Gustav Wyneken.
Lexika wie der Brockhaus bewahren seinen Namen. Er fehlt in kaum einem Handbuch der Erziehungswissenschaft. Er ist ein Klassiker der Pädagogik und war zwischen 1910 und 1930 eine nationale Berühmtheit. Eine der schillerndsten, um nicht zu sagen zwielichtigsten Figuren der deutschen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.
In Göttingen, wo jedes zweite Haus eine Gedenktafel trägt und noch an den Aufenthalt eines Dichters in der Sommerfrische erinnert wird, ist Wyneken, der hier über 30 Jahre lebte, längst vergessen. Wie in Stade, wo er am 19. März 1875 geboren wurde.
Sein Vater war Direktor der 1863 gegründeten Höheren Töchterschule, die im so genannten Hülsemannschen Haus am Cosmae-Kirchhof untergebracht war. Ernst Friedrich Wyneken stammte aus Bützfleth, hatte Theologie und Philosophie studiert und 1869 in einem Buch die Theorie der „Dynamomonaden“ entwickelt, der Krafteinheiten, die am Urgrund aller Dinge stünden.

Seine Dienstwohnung hinter der ehemaligen Schule, Gustav Wynekens Geburtshaus, ist erhalten. Gustav verbrachte die ersten acht Lebensjahre im Umkreis von St. Cosmae et Damianii. Keine lange, aber eine prägende Zeit.
In ungedruckten Erinnerungen, die er Kritik der Kindheit betitelte, schilderte er jene Jahre als Verhängnis. Wie es seine Art war, zog er aus persönlichen Erfahrungen sogleich philosophische Konsequenzen: „Das Gehirntier Mensch ist nicht geeignet für Kindheit“, schrieb er. „Kindheit ist für uns ein Wahnsinn, durch den wir alle hindurch müssen […] Kindheit ist ein Unglück. Zeit der unendlichen unerfüllten Wünsche und zugleich der noch nicht möglichen Resignation.“
Wynekens Kindheit wurde stark vom Christentum bestimmt. In Edesheim, wohin die Familie von Stade aus übersiedelte, wurde der Vater Pfarrer. Der Sohn schreibt rückblickend von „Religionsbetrieb, Religionsverschleiß; der Vater hatte sie zu liefern oder herzustellen wie ein Handwerker seine Ware, unser Elternhaus war die Religionsquelle des ganzen Dorfes.“
Auf die Kirche reagierte Gustav Wyneken zeitlebens mit Schaum vor dem Mund. Zugleich sah er sich selbst als eine Art Religionsstifter und verglich sich vielfach indirekt mit Christus.

Im Harz besuchte er eine Klosterschule, dann studierte er Philosophie und Theologie in Berlin, Halle und Göttingen. 1898 promovierte er in Greifswald, im folgenden Jahr legte er die Oberlehrerprüfung ab. Seine Laufbahn als Pädagoge begann er 1900 im Landerziehungsheim Ilsenburg.
Stichworte Jugendbewegung, Reformpädagogik, Montessori, Waldorfschule. Um die Jahrhundertwende wird in ganz Europa neu nachgedacht über Erziehung. Jugend wird zum Wert an sich, die Wandervögel marschieren aus der Stadt in die Natur, der Jugendstil wird zur herrschenden Kunstrichtung.
Die Landerziehungsheime waren pädagogische Labors, Experimentierfelder neuer Lehr- und Lernformen. Musische, sportliche und handwerkliche Fähigkeiten wurden besonders gefördert. Gelernt wurde in Gruppen, es gab eine Schülerselbstverwaltung, das Verhältnis von Lehrer und Schüler sollte partnerschaftlich sein.
1903 wechselte Wyneken ins thüringische Haubinda. Zu seinen Schülern gehörte Walter Benjamin (1892–1940), einer der bedeutendsten deutschen Philosophen. Als Student notierte dieser: „Mein Denken geht immer wieder von meinem ersten Lehrer Gustav Wyneken aus, kommt immer wieder dahin zurück.“ Als der Bewunderte jedoch den Ersten Weltkrieg pathetisch begrüßte und zur Teilnahme aufrief, sagte Benjamin sich von ihm los.
Die Geister schieden sich an Wyneken, er fand leidenschaftliche Anhänger ebenso leicht wie erbitterte Gegner. Er war so streitsüchtig, dass er bis an sein Lebensende intellektuelle Todfeindschaften pflegte. Seine schroffe Art und Egozentrik stießen die einen ab, die anderen erkoren ihn zum „Führer“.
Einige seiner Ideen über Jugend, Erziehung und Bildung waren bahnbrechend, aber mit „messianischem Sendungsbewusstsein und zügellosem Geltungsstreben“ stand er sich selbst im Weg. Auf die Frage, wer im Staate herrschen solle, König, Adel oder Volk, soll Wyneken geantwortet haben: „Ich!“
1906 gründete er in einem verlassenen Gutshof bei Saalfeld im Thüringer Wald die Freie Schulgemeinde Wickersdorf. Um nichts weniger als die Heranbildung einer „geistigen Elite“ sollte es dort gehen. Wyneken zählte zu jenen Intellektuellen der Epoche, die sich selbst als „Geistadelige“ begriffen, denen die eigentliche Macht zustehe. Ihr bei Nietzsche abgeschautes Konzept des „Übermenschen“ wies voraus auf den Nationalsozialismus, der etliche Begriffe der Jugendbewegung übernahm.
Aus Wickersdorf wurde Wyneken 1909 vertrieben, nachdem es zwischen ihm und seinem Co-Leiter ständig zu eitlen Zwistigkeiten gekommen war. Wyneken wurde „krankhafte Selbstehrung“ vorgehalten und dass er sich „als Übermensch gebärde“.
Er blieb jedoch einer der einflussreichsten Köpfe der Reformpädagogik. Während der Räterepublik 1918 war er Kulturbeamter und Verfasser des preußischen Schulgemeindeerlasses.
Seine Rückkehr nach Wickersdorf endete 1920 mit einem Skandal. Ihm wurde vorgeworfen, zwei Jungen „beim Gutenachtsagen nackt umarmt“ zu haben. Die so genannte „Eros-Affäre“ war ein Politikum, das grundsätzliche Fragen sexueller Moral aufwarf.
Käthe Kollwitz, Magnus Hirschfeld und Kurt Hiller unterstützten Wyneken. Er selbst rechtfertigte sich mit dem „pädagogischen Eros“ und dem Verweis auf die Knabenliebe bei den antiken Griechen. Zwar wurde er 1921 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, musste die Strafe aber nicht antreten.

Seit 1931 lebte er als „freier Schriftsteller“ in Göttingen. Bis 1941 war er an Wickersdorf finanziell beteiligt. Wovon er danach seinen Lebensunterhalt bestritt, ist unklar; seine Honorare als Autor dürften schwerlich ausgereicht haben.
Mehr als zwielichtig ist seine Rolle während des Hitler-Regimes. Er versuchte, sich den neuen Herren anzudienen, sie aber wollten nichts von ihm wissen. Von seinem Buch Weltanschauung (1936) behauptete er, die Nazis hätten es verboten. 1947 erschien es, abgesegnet von den britischen Militärbehörden, in zweiter unveränderter Auflage.
„Wir wünschen die Weltherrschaft der weißen Rasse“, heißt es darin; Wyneken fordert „bewusste rassische Hochzüchtung“: „Und ein nationaler Sozialismus wird mehr und mehr für alle Völker die Vorbedingung ihrer Handlungsfähigkeit sein.“
Als Relikt der eigenen Geschichte starb Wyneken am 8. Dezember 1964 fast 90-jährig in der Göttinger Straße, die nach dem Philosophen benannt ist, über den er seine Doktorarbeit schrieb: Immanuel Kant. Ein selbsternannter Messias, Pädagoge und vermeintlicher Päderast, Sympathisant der Nazis – an seinem Grab macht man sich die Finger schmutzig.

Deutlich anders verlief das Leben seiner Schwester Luise als „Pädagogin, Pazifistin, Politikerin“ (P. Berger: L. W., Nienburg 1996). Geboren am 9. Januar 1878 in Stade arbeitete sie als Gewerbelehrerin in Potsdam und Nienburg. 1919 zog Luise Wyneken als erste Frau in den Stadtrat von Nienburg ein. 1933 wurde sie von den Nationalsozialisten aus dem Schuldienst entfernt. Sie siedelte nach Göttingen um, wo sie am 22. Oktober 1946 starb.
Literatur
C. Berg (Hg.): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte IV, München 1991 | E. Ebermayer: G. W., 2. Aufl. Frankfurt/M. 1982 | H. Kupffer: G. W., Stuttgart 1970 | H. Kupffer: G. W., Lüneburg 1992 | L. J. Pongratz (Hg.): Pädagogik in Selbstdarstellungen II, München 1991 | H. Scheuerl (Hg.): Klassiker der Pädagogik II, München 1979 | G. W.: Weltanschauung, 2. Aufl. München 1947; Abschied vom Christentum, Reinbek 1970
Hamburger Abendblatt 4. Januar 1999 © Uwe Ruprecht
Weitere → Geschichten aus Stades Geschichte
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