Ein Beispiel der politischen Instrumentalisierung von Kriminalfällen
Beide Fälle sind für die Polizei erledigt. Gelöst, wie man so sagt, aber nicht wörtlich nehmen sollte. »Als ob es eine Lösung geben könnte«, sinniert der abschließende Essay der Graphic Novel From Hell über die Kriminalikone Jack the Ripper. »Mord ist, anders als in striktem, technischen Sinne, niemals aufzulösen. Dieser schwarze, menschliche Klumpen löst sich nicht in einer durchsichtigen, klaren Suspension«, wird nicht ausgefällt wie im Reagenzglas des Erkennungsdienstes.
Kläre Fälle gibt es nur im Krimi: »Alles bloß Fleisch und kalte Ballistik. Man nimmt einen Mörder, ein Motiv und ein Hilfsmittel, und schon ist der Fall gelöst.« In Wirklichkeit geht wenig glatt auf. Die Polizei findet einen Täter, technisch gesprochen: den richtigen, das Gericht fällt ein juristisch einwandfreies Urteil, und die Medien simulieren sich oft nur einen Sinn.
In diesen Fällen aus Mai und Juli 2019 sind die Täter ermittelt – aber von dem, was geschehen ist, weiß das Publikum, das Volk, in dessen Namen in einem Fall kein Urteil gesprochen werden wird, allenfalls in Umrissen Bescheid. Was zum Vergleich wörtlich zu nehmen wäre.
Silhouetten, Schattenrisse waren vor 200 Jahren die einzige Form, in der das gemeine Volk Abbilder des eigenen Antlitzes, der Familienangehörigen oder Freunde in Umlauf bringen konnte. Kupferstiche, die lange Zeit üblichste Form der Reproduktion von Bildnissen, Gemälde oder Zeichnungen kamen nur für Höchstbegüterte in Frage. Inzwischen daran gewohnt, sich in bewegten Abbildern zu kennen und selbst auf den Kopf sehen zu können, mutet es abenteuerlich an, dass Ende des 18. Jahrhunderts der Schweizer Pastor Johann Caspar Lavater europaweiten Ruhm erlangte, indem er aus einem schwarzen Tuschebild des Profilumrisses den Charakter der Person lesen zu können vorgab.
Was ich heute von den besagten Verbrechen weiß, ist ein Schattenriss dessen, was sich zugetragen hat. Nicht genug, um sich ein vernünftiges Urteil zu bilden. Kritik der Urteilskraft heißt eines der Grundlagenwerke von Immanuel Kant. Ein verdammt weites und heikles Feld, auf das gerade die kaum einen Schritt gewagt haben, die sich so viel auf ihre Meinungskraft einbilden.
Eine Meinung kann und darf jeder Narr haben. Sie wird gemeinhin wie ein Knüppel gebraucht, mit dem auf einander eingeprügelt wird, als ginge es zu wie in der Commedia dell’arte. Eine Meinung haben ist leicht; ihre Begründung ist das Heikle. Um sich dieser Mühe zu entziehen verhalten sich die Harlekine, als sei ihre Meinung ein Urteil. Das sie wie ein Beil fallen lassen: Kopf ab. Daumen hoch oder runter wie in der römischen Arena: mehr Auseinandersetzung ist nicht. (→ Digitale Lager)
In Hinblick auf Verbrechen tun alle, als seien sie Lavater. Statt in den Silhouetten, die von den Medien gezeichnet werden, ein wirkliches Geschehen erkennen zu können, rasten bei ihnen nur Vorurteile ein, die mehr oder weniger fundiert sind. Um Vorurteile handelt es sich unbedingt; andernfalls wäre der Rechtsstaat eine Farce, Gerichte überflüssig, Prozesse reine Formalien. Allzu viele freilich wünschen sich, der Umgang mit Kriminalität wäre so schlicht wie im US-amerikanischen TV-Film, in dem der Polizist in der Hauptrolle Ermittler, Richter und Henker in Einem ist.
Dass ich mir über die beiden Fälle nicht nur kein Urteil anmaße, sondern auch mit meiner Meinung zurückhaltend bin, muss insofern noch betont werden, als ich genauer als die allermeisten weiß, dass ich es mit Schattenrissen zu tun habe und nicht mit etwas, das mit der Wirklichkeit zu verwechseln wäre. (Vermutlich waren die Leute zu Lavaters Zeiten geübter darin, jemand anhand seiner Silhouette zu erkennen, als es Heutigen gelänge, für die 3-D-Projektionen Realität sind.)
Ich habe die Meldungen über die beiden Verbrechen nicht als durchschnittlicher Leser verfolgt, sondern als erfahrener Verbrechensversteher, der sich über das journalistisch übliche Maß hinaus mit aktuellen Einzelfällen wie der Geschichte der Kriminalität zumal in der Region, in der diese verübt wurden, über Jahrzehnte befasst hat. (Daher auch landete, wer im ersten Fall bei google nach »hollerdeich mord« suchte, auf diesem Blog: → Der Kopf ging nicht ab)
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Von Angehörigen alarmierte Polizei entdeckte am Nachmittag des 18. Mai 2019 die Leiche einer 31-Jährigen in ihrem Haus am Hollerdeich in Wischhafen. Wie sie ums Leben kam wurde nicht bekannt gegeben, aber nach dem 52-jährigen Ehemann gefahndet und Typ und Kennzeichen seines Autos mitgeteilt; er selbst »könnte bewaffnet und gefährlich sein«.
Am 20. Mai wurde ein »Ehedrama« vermeldet. Der Mann habe seine Frau erschossen. Ein Hund sei ebenfalls tot im Haus gefunden worden. Der Mann habe sich in seinem Auto in Norderstedt selbst das Leben genommen.
Eine Zeitung zitiert Gerüchte, wonach Eifersucht das Motiv der Tat sein soll, und setzt eine Stimme hinzu, die dem Mann die Tat nicht zutraut. Für andere Medien ist der Fall mit dem Tod des mutmaßlichen Täters ebenso abgeschlossen wie für die Polizei. Niemand wird in absehbarer Zeit mehr erfahren können, dass zu einer Urteilsfindung beitragen könnte.
Der zweite Fall schlug größere Wellen. Am 4. Juli war ein 54-Jähriger aus Großenwörden auf der Polizeiwache in Stade erschienen und hatte die Tötung seiner 65-jährigen Gattin gestanden. Ihre Leiche befand sich verdeckt, nicht begraben in einem Gewächshaus auf dem Grundstück des Ehepaars. Der Mann soll angegeben haben, seine Frau erdrosselt zu haben. Er ist in Untersuchungshaft und wird binnen sechs Monaten vor Gericht gestellt werden. Unnötig, bis dahin ein Wort über die Angelegenheit zu verlieren.
(Gleichwohl wird bei spektakulären Fällen im Zeitraum zwischen der Verhaftung eines mutmaßlichen Täters und dem Prozessbeginn die Berichterstattung nicht ausgesetzt. Sie stützt sich dabei meist auf willkürliche Quellen und trägt fast immer zu einer Vorverurteilung bei. Oft sind die Schlagzeilen vorhersagbar, die Unzufriedenheit mit dem schließlich nach einer gründlichen Beweisaufnahme gefällten Urteil bekunden, weil es nicht den zuvor gehegten Gerechtigkeitserwartungen entspricht, die mit mehr oder weniger zufälligen Informationen genährt worden waren.)
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Wenngleich Kain und Abel am Anfang der Kriminalgeschichte stehen, ist der Brudermord außergewöhnlicher als es die aktuellen Taten im Lande Kehdingen sind. Ich muss nicht nachzählen und weiß auf den Schlag, dass bei den allermeisten Tötungsdelikten, die ich durch historische Quellen oder im Gerichtssaal kennen gelernt habe, ein Mann eine Frau umgebracht hat, die er als die seine betrachtete. Freilich morden auch Frauen (→ Gastspiel der Giftmörderin / → Säuglingsmord in Serie / → Meyers Sodom / → Mäusebutter zum Tee), aber dass eine Frau ihren Mann ersticht wie in dem einzigen von mir beobachteten Prozess, der mir dazu spontan einfällt, ist die Ausnahme von der Regel, die sich auf Gewaltdelikte überhaupt ausweiten lässt. Gendergerechtigkeit geht in diesem Punkt ins Leere: Männer schlagen unvergleichlich mehr zu als Frauen. Es gibt zwar Soldatinnen, aber mehr gewalttätige Heldinnen in Filmen, als einem brutale Frauen in der verrufensten U-Bahn in Berlin begegnen können.
Was für ein weites heikles Feld mehr, um seine Urteilskraft daran zu erproben! Stattdessen lese ich vier Tage nach Bekanntwerden des Leichenfundes im Gewächshaus in Großenwörden: »Die Arbeitsgemeinschaft der Gleichstellungsbeauftragten im Landkreis Stade ruft zu einer Mahnwache und Gedenkminute für die kürzlich ermordete Frau aus Großenwörden auf. Sie ist bereits das zweite Opfer häuslicher Gewalt mit tödlichem Ausgang im Kreis Stade in diesem Jahr.«
Inzwischen sind Wochen vergangen. Ich hatte noch verfolgt, dass die »Mahnwache« stattfand: »15 Frauen und ein Mann – Großenwördens Bürgermeister Bernhard Witt – waren am Donnerstagabend dem Aufruf der Gleichstellungsbeauftragten im Landkreis gefolgt und zur Mahnwache für die bereits im Januar getötete Großenwördenerin in deren Wohnort gekommen.« Dem dazu publizierten Foto nach kamen die Gedenkenden an der Kirche zusammen.
Obwohl mir die Galle hoch kam, hielt ich mich zurück. Unterdessen lese ich in einer Zeitung über das Verfahren gegen einen 90-Jährigen, der seine Frau zwei Mal zu ermorden versucht haben soll. Der Bericht skizziert ein Eheverhältnis, in dem Gewalt nicht alltäglich war, sondern als ultima ratio in Betracht gekommen zu sein schien. Dann gerät mir beim Sortieren das gespeicherte Foto von der »Mahnwache« wieder vor Augen.
Die Mahnwachenhalterinnen machen als »Netzwerk« zur »häuslichen Gewalt« von sich reden. Wissen sie, wovon sie reden? Sie werden keine Ruhe geben; vielleicht planen sie schon eine Kundgebung zum Prozessauftakt, um sich erneut in Szene zu setzen.
Vor 20 Jahren wollte eine Frau aus der Gegend die Männer überhaupt abschaffen. → Meine männliche Glosse dazu wurde von → einer Frau überboten. Die beiden Todesfälle (von Mord zu sprechen verbietet sich im zweiten Fall, bis die Justiz ihr Urteil gefällt hat) scheinen im Sinn der Mahnwachenhalterinnen eine ähnliche These zu illustrieren: alle Männer (oder nur Ehemänner?) sind potenzielle Gewalttäter.
Schon an anderer Stelle (→ Gepanzerte Gedanken [3] unter dem 21.11.18 und 21.1.19) habe ich auf das fragwürdige Männerbild führender Frauen der Region hingewiesen. Die »Mahnwache« treibt die Blindwütigkeit dieser scheinbar politischen Positionierung auf die Spitze. Es muss keineswegs »häusliche Gewalt« sein, wenn ein Mann seine Frau tötet.
Über die beiden aktuellen Fälle kann ich so wenig sagen wie die Mahnwachenhalterinnen; über die Beziehungskonstellationen ist nichts bekannt. Doch habe ich zahlreiche misshandelte Frauen im Gerichtssaal erlebt, als Zeuginnen. Weil es Zeugen für die Gewalttätigkeit ihres Ehemanns gab und der Vorfall so zur Anklage kam. »Häusliche Gewalt« ist ein weites und heikles Feld, das sich allenfalls für politische Parolen taugt, wenn nur Schattenrisse davon wahrgenommen werden.
Frauen, die von ihren Ehemännern getötet wurden, waren nicht zwangsläufig zuvor Opfer anhaltender Aggression des Partners. Der dazu passende Tatverlauf wäre übrigens juristisch Totschlag: der Mann schlägt irgendwann so lange auf seine Frau ein, bis sie ihren Verletzungen erliegt. Der Mann als Schläger begeht keinen Mord, indem er die Tötung seiner Frau plant oder die Leiche nachher versteckt. Der Schläger bleibt neben der Leiche stehen und ruft selbst die Polizei.
Die Ehefrau lag entspannt und mit geschlossenen Augen in der Badewanne, weil sie die Überraschung erwartete, die der Mann ihr versprochen hatte. Der Steuerberater aus Jork trat hinter sie und schlug mit der ein Kilo schweren Kohlensäure-Patrone für Sprudelgeräte auf ihren Kopf. Dann drückte er sie unter Wasser. Der Mord sollte wie ein Unfall aussehen. Aber es klappte nicht. Die Frau konnte sich aus der Wanne befreien. Und trotzdem ihr Mann immer wieder auf sie einschlug, starb sie einfach nicht. Schließlich gab er auf. Bis dahin hatte er nie Gewalt gegen sie angewandt.
Nichts an den Berichten bringt die Verbrechen von Wischhafen und Großenwörden mit »häuslicher Gewalt« in Verbindung. So könnte man im Übrigen einen Großteil der Gewaltkriminalität nennen; den politischen Bekundungen zufolge gemeint sein soll mit diesem selbst fragwürdigen Begriff lediglich anhaltende Gewalt in Beziehungen zwischen Mann und Frau. Unter dem Aspekt der Gendergerechtigkeit müsste eigentlich auch gefragt werden, wie es um »häusliche Gewalt« in gleichgeschlechtlichen Beziehungen bestellt ist.
Die Polizei könnte ohne viel Aufwand eine Liste der Adressen erstellen, zu denen sie regelmäßig gerufen wird, weil die Gewalttätigkeit im Haus die Nachbarn auf irgendeine Weise berührt. Für den Wischhafener Fall gibt es dazu keine Hinweise; zum mutmaßlichen Täter in Großenwörden erklärt die Polizei ausdrücklich, dieser sei nie zuvor in Erscheinung getreten. Die Abgeschiedenheit des Hauses und der Mangel sozialer Kontakte sollen bereits dafür gesorgt haben, dass die Frau nicht vermisst wurde und ihre Leiche über Monate unentdeckt blieb.
Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, aber um die soll es den Mahnwachenhalterinnen ja gerade nicht gehen, sondern um eine Wirklichkeit, auf die sie mit ihrer Kundgebung einwirken wollen. Indem sie dazu Einbildungen erzeugen. Ob eine der beiden Taten eine soziale Dimension hat, auf die sich mit etwas wie einer Mahnwache zumindest symbolisch Einfluss nehmen lassen könnte, ist ungeklärt und wird möglicherweise offen bleiben.
Auf den Ehemann, der seine Frau schlägt und dabei keineswegs im Sinn hat, sie zu töten, weil er sie als Opfer noch braucht, wird die Mahnwache, falls er zufällig die Zeitung liest, in der davon berichtet wird, gewiss keinen Eindruck machen. Wäre er mahnender Ansprache zugänglich, müsste die Polizei nicht alle Nase lang bei ihm auflaufen.
»Häusliche Gewalt« zu thematisieren, um die Opfer zu ermutigen, sich überhaupt an die Polizei zu wenden, oder Nachbarn zu animieren, sich einzuschalten – das kann und sollte doch nur dann Sinn machen, wenn Ross und Reiter genau benannt werden. Das kann in den aktuellen Fällen nicht geschehen. Man weiß einfach nicht, ob die Taten einen für die Opfer oder Zeugen erkennbaren Vorlauf hatten, der Eingriffsmöglichkeiten geboten hätte.
»Verbrechen haben immer ihre eigene Geschichte, nur als Geschichte kann man sie verstehbar machen«, stellte der österreichische Gerichtspsychiater Reinhard Haller fest. Die Mahnwachenhalterinnen machen Politik mit Geschichten, die sie gar nicht kennen.
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Was ich über »häusliche Gewalt« den lokalen Medien entnehmen kann, ist – nichts. Was ich darüber weiß, beruht auf verstreuten Beobachtungen im Gerichtssaal, auf Streife mit der Polizei und auf der Straße. Von einem Handlungsbedarf, der akuter wäre als vor, sagen wir: 20 Jahren, an den gemahnt werden müsste, weiß ich nichts.
Über Gewalt im alltäglichen Geschlechterverhältnis ließe sich allerhand feststellen. Angefangen damit, dass Gewalt im weiteren Verständnis nicht mit Handgreiflichkeiten beginnt, sondern Vorläufe in anderen Verhaltensweisen und verbal hat. Die Frauen, die heute gegen Männergewalt protestieren und sich damit up to date glauben, kommen mir in ihrem zur Schau getragenen Feminismus so antiquiert wie selbstbezogen vor.
Ich war im regionalen Patriarchat aufgewachsen, hatte es aber mit 20, schon davon angewidert, hinter mir gelassen. Als ich zurückkehrte, war es ungebrochen und herrscht bis heute. Schützenverein, Jägerschaft, Brüderschaft: die maßgeblichen Personen sind Männer und in Bünden organisiert. Inzwischen gibt es zwar gemischte Vereine und Frauenbünde, aber sie sind nur farbliche, nicht strukturelle Veränderungen. Die Herrschafts- und Machtverhältnisse, die Gewaltverhältnisse sind gleich geblieben.
Wenn es anno 2019 in Stade tatsächlich, wie ich es Anfang der 1980er in Hamburg erlebte, nötig erscheint, gegen Gewalt von Männern an Frauen öffentlich zu protestieren – dann sollte das Fass auch richtig aufgemacht werden. Wer übt gegen wen in welcher Situation Gewalt aus? Gibt es überhaupt eine kriminologische Studie über »häusliche Gewalt« im Landkreis Stade, die mir, bei meiner sonstigen Aufmerksamkeit auf diesem Gebiet, entgangen wäre?
Die Suchmaschine zeigt zu »häusliche gewalt landkreis stade« Informations- und Hilfsangebote an, aber vor allem und zuerst seitenweise Werbung für die Organisation der Mahnwachenhalterinnen. Zur Sache findet sich nur, wovon ich schon vor vielen Jahren mehr als einmal Zeuge wurde und worüber Polizisten reichlich zu erzählen haben, und in anderem Zusammenhang: »30-mal wurden Beamte aus dem Landkreis Stade 2009 angegriffen. Die Polizisten müssen insbesondere bei häuslicher Gewalt schlichten.«
(Und wie steht es mit gesellschaftlichen Ursachen und traditionellen Verankerungen von »häuslicher Gewalt« in der trauten Hansestadt benannt? Zum Anriss eine Causa von vor 300 Jahren: → Bis dass der Tod euch scheidet)
Die Tote von Großenwörden, heißt es, soll »bereits das zweite Opfer häuslicher Gewalt mit tödlichem Ausgang« sein. Die Aussage ist hinsichtlich der »häuslichen Gewalt« spekulativ und was den tödlichen Ausgang anbelangt eine Verzerrung. Im Jahresdurchschnitt werden ein halbes Dutzend Tötungsdelikte im Bereich der Polizeiinspektion registriert, die Mehrzahl »Beziehungstaten«. Zwei Fälle binnen einen halben Jahres rechtfertigen nicht das lauernde »bereits«, als wären es mehr geworden oder würden noch weitere folgen. Die Mahnwachenhalterinnen kommunizieren Spekulationen und Suggestionen.
Wo bestünde da ein Unterschied zu den Parteigängern der AfD, die täglich in extenso über Kriminalität herziehen, indem sie einen beliebigen Fall, bei dem etwas vorzukommen scheint, das ihnen in das Weltbild passt, zum Anlass nehmen, um gegen diese oder jene Gruppe zu hetzen? Die AfD muss einem sofort einfallen, weil sie nicht nur, wenn Kriminalität angesprochen wird, besonders laut wird und in den sozialen wie den konventionellen Medien Echos erzeugt. Sie hat das Thema ganz oben auf der Politikskala etabliert und dominiert die Ansagen dazu.
Während die realen Kriminalitätsraten sinken, werden individuelle Verbrechen als Menetekel auf die Monitore projiziert. Das Volk soll allenthalben wahlweise dunkelhäutige Messerschwinger oder prügelnde Ehegatten sehen. Differenziert über Verbrechen zu reden wird entbehrlich. Irgendeine Parole lässt sich immer daran hängen, die vom Publikum, das es nicht besser weiß und oft nicht wissen will, als passend empfunden wird.
Denn allein um Empfindungen geht es den jeweiligen Propagandisten. Darin schießen die Mahnwachenhalterinnen den Vogel ab, indem sie ausdrücklich auf nichts anderes abzielen.
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Meinen Erfahrungen nach mit zahllosen Opfern von Verbrechen aller Arten im Gerichtssaal und außerhalb sowie virtuell sollte zur Empathie gehören, zu merken, ob eigene Betroffenheitsbekundungen erwünscht und angebracht sind. Tote können sich allerdings nicht wehren.
Überhaupt, diese Gefühle. Für eine Urteilsbildung haben sie die die Relevanz von Meinungen; sie fließen in den Prozess ein, geben aber keinen Ausschlag. Ich war Beobachter einiger Vergewaltigungsverfahren und gelegentlich zugegen, als Opfer sexuellen Missbrauchs unter Ausschluss der sonstigen Öffentlichkeit aussagten. Meine eigene Betroffenheit kam dabei nur für mich in Betracht. Und sie zeigte sich auch an Stellen, wo jene, die mit dem, worüber sie reden, nie leibhaftig in Kontakt kamen, sie nicht einmal vermuten.
Die zehnjährige Verjährungsfrist für Kindesmissbrauch setzt erst mit dem 18. Lebensjahr ein. So treten als Geschädigte vor Gericht nicht nur Kinder, sondern auch junge Frauen auf, die nach oft mehreren Therapien den Mut gefunden haben, ihre Geschichte der Justiz anzuvertrauen. Ein Prozess ist mir durch den Auftritt einer solchen Zeugin durch das in Erinnerung, was ich in meinem damaligen Zeitungsbericht nicht ausführte: dass es sich um einen Auftritt handelte. Die 20-Jährige, die mit 14 vom Lebensgefährten ihrer Mutter drei Mal vergewaltigt worden war, wollte kein Mitleid für sich, sondern Strafe für ihren Peiniger.
Der Angeklagte bestritt die Vorwürfe. Sachliche Beweismittel oder Zeugen gab es nicht. Das Verfahren hing von der Aussage der Geschädigten ab. Eine spezialisierte Gutachterin hatte bereits ihre Glaubwürdigkeit geprüft. Ihren Befund gab sie erst bekannt, nachdem die junge Frau aus dem Zeugenstand entlassen worden und ihn für die Anwesenden überflüssig gemacht hatte.
Im Anschluss an ihre Aussage hatte das Opfer, das sich selbst nicht mehr so sehen wollte, die Runde im Saal gemacht. Sie war zum Richterpult vorgetreten und hatte dem verblüfften Vorsitzenden, der sie die längste Zeit befragt hatte, die Hand gereicht. Dann waren Beisitzer, Schöffen, der Staatsanwalt und sogar der Verteidiger an der Reihe. Zumal diese letzte Geste zeigt an, dass die junge Frau als Leidtragende mehr vom Rechtsstaat begriffen zu haben schien, als allzu viele von denen, die sich bei zufälliger Gelegenheit virtuell an die Seite der Opfer stellen und Anwälte für Komplizen der Täter halten.
Ihrem Dank an mich dafür, dass ich ihrer Geschichte zugehört hatte, glaubte ich nicht mit Ausdrücken von Betroffenheit gerecht zu werden oder indem ich Adjektive anhäufte, die das Grässliche des Geschehens herausstrichen. »Im Gerichtssaal zeigte sie sich entschlossen, den Mann, den sie einmal ›Papa‹ nannte, für das büßen zu lassen, was er ihr angetan haben soll.« Mehr überlieferte ich nicht zum Äußeren der Zeugenaussage. »Soll« musste es heißen, weil das Urteil noch ausstand.
»Mir ist das Schlimmste passiert, was mir passieren kann«, eröffnete die junge Frau ihre Aussage, um dann beherrscht und klar zu erzählen, was ihr angetan worden war. Sie gab nach besten Wissen und Gewissen so sachlich wie möglich Auskunft. TV-Zuschauer hätten sich gelangweilt: nichts von dem, womit Film-Inszenierungen im gleichen Szenenbild arbeiten würden und was dem urteilsberechtigten Volk als Realität vorkommt. Um virtuell Emotionen zu erzeugen müssen Gesichter zucken oder Hände zittern. Diese Zeugin saß konzentriert an ihrem Platz, um von dem zu berichten, was sie nach wie vor in Albträumen verfolgte und an Essstörungen leiden ließ.
Das Beste, was ich tun konnte, war nicht ihr Martyrium durch Floskeln zu beschwören, sondern den Einblick in »häusliche Gewalt« zu geben, der durch ihre und die Aussage ihrer Mutter ermöglicht wurde. Die Vergewaltigungen des Kindes waren nur gerade der Aspekt, der mit mehrjähriger Verzögerung vor Gericht gelangt war; was der Mann der Mutter angetan hatte, war inzwischen verjährt und wurde nicht näher beleuchtet. Das Dunkelfeld dessen, was als »häusliche Gewalt« gelten kann, ist besonders weit und heikel.
Als sich die Tochter Monate nach der letzten Vergewaltigung der Mutter anvertraute und diese den Mann zur Rede stellte, rastete er aus, prügelte das Mädchen durch die Wohnung und schlug den jüngeren Sohn nieder, als dieser die Polizei rufen wollte. Während die Kinder zu Nachbarn fliehen konnten, ging der Mann mit einem Messer auf die Mutter los; sie war schwanger mit einer Tochter von ihm. Das Eintreffen ihres Bruders verhinderte Schlimmeres. Nach seinem Rauswurf terrorisierte der Mann erfolgreich die Familie: die Anzeige der Vergewaltigungen wurde zurückgezogen und das Jugendamt belogen.
Mahnwachenhalterinnen und AfD machen dasselbe: sie legen an den Schuh einen Leisten an und merken nicht, wie wenig er passt, weil ihr Schuh nur in der Einbildung besteht und ganz genau so gebaut ist wie der von ihnen gebastelte Leisten. Die Wirklichkeit ist anderswo.
Wer sollte ihnen auch widersprechen? Die Juristen nicht, die besonderen Schweigegeboten unterliegen. Polizisten kommt es leider nur zu oft gelegen, wenn die Verhältnisse verbogen werden, oder sie müssen wie die Juristen schweigen. Im Landkreis Stade gibt es hinsichtlich der Kriminalität keine von der Polizei unabhängige Stimme, und Gerichtssaalberichterstattung findet vor allem nach Maßgabe der politischen Stimmung oder gänzlich zufällig statt.
Differenzierungen stören nur bei dem, was als politischer Prozess ausgegeben wird: das Aufeinanderprallen von Parolen, wobei man sich gegenseitig mit abfälligen Gesten bedenkt. Kriminalität ist zugleich das beliebteste Gebiet der Propaganda wie das nebulöseste. Geht es darum, Verbrechen zu verhindern, zu verringern oder sonstwie politisch damit umzugehen, bleibt es bei strengeren Gesetzen und härteren Strafen. Immer derselbe Leisten, ungeachtet einer bestimmten Wirklichkeit.
Nebulös ist das Meiste, was sich Bürger zu Verbrechen vorstellen. Täter und ihre Motive, die Arbeitsweise der Polizei, die Behandlung der Fälle durch die Justiz: weil sie zahllose Zeitungsartikel und Kriminalfilme kennen, meinen die Leute, sich auszukennen, während sie in Wahrheit nur ihre eigenen Vorstellungen in Geschehnisse projizieren, von denen sie stets nur die paar Sätze und stereotypen Bilder kennen, die ihnen in den Medien angeboten werden.
Dass es in Deutschland so gut wie keine → Pitavalliteratur gibt und schon dieses Wort sehr wenigen Fachleuten geläufig ist, zeigt den grundsätzlichen Befund an: die Deutschen lassen sich gern von und mit Verbrechen ängstigen, wollen aber nie genau wissen, womit sie es zu tun haben. Mehr als ein paar Zeitungszeilen ertragen sie nicht. Die aber genügen ihn schon, um »aktiv« zu werden: in facebook-Posts, bei denen sich in den Vergeltungswünschen übertrumpft wird, alternativ in christlichen »Mahnwachen«. Wer keine Parolen brüllt und dennoch nicht den Mund hält, darf des Shitstorms gewiss sein.
Ob und auf welche Weise »häusliche Gewalt« mit Sexualität oder dem Geschlechterverhältnis zu tun hat; welche sozialen Faktoren mitwirken und wie damit in der Region im Speziellen umgegangen werden könnte oder müsste, wenn es denn einen politischen Ansatz dazu gäbe und wie dieser aussähe … was immer sich die Mahnwachenhalterinnen denken, behalten sie gemeinem Volk wie mir vor, online und ohne dafür zu bezahlen.
Alle anderen haben scheinbar keine Fragen und Antworten parat. Wie bei der AfD oder ehedem in der »Volksgemeinschaft« verstehen sie sich anscheinend ohne Worte. (Den Polizisten, deren Vorgesetzter er gerade geworden war und die er zu kriminellem Verhalten auffordern wollte, schärfte Reichsführer-SS Heinrich Himmler ein: es müsse »bestimmte Dinge geben, die man nur so und nicht anders ansehen kann, bei denen es für jeden, für den Hütejungen wie für den Minister unanständig wäre, anders darüber zu denken«. [→ Unwort Anstand])
Ich gehöre offenbar nicht dazu, denn ich kenne die selbstverständlichen Antworten nicht. Die sollte es in einer Demokratie auch nicht geben. Oder um welche Art von Politik handelt es sich bei einer Mahnwache zu einem Mord?
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Von »häuslicher Gewalt« ist im Prozess um die Tat von Großenwörden im Dezember 2019 keine Rede. Siehe den Bericht → Das Grab im Gewächshaus.
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