Gesche Gottfrieds Meineid in Stade 1822
Die Beschuldigte war »sehr unruhig, musste oft zwei-, dreimal gefragt werden, ehe sie antwortete, und schien eine innerliche Angst zu haben«, ließ der Untersuchungsrichter im Protokoll des Verhörs vom 8. Mai 1828 vermerken. Die Beschuldigte hatte an diesem Donnerstag die Vergiftung ihres Verlobten Paul Zimmermann gestanden – den neunten von insgesamt 15 Morden. Doch keineswegs die Erinnerung an eine ihrer Gräueltaten ängstigte sie, sondern der Gedanke an ein vergleichsweise geringfügiges Verbrechen, das sie in Stade an der Unterelbe verübt hatte.
Die Beschuldigte war Gesche Margarethe Gottfried, die »Bestie von Bremen«, die berühmteste Serienmörderin ihrer Zeit. Die Taten der Giftmischerin verbreiteten »ihre Schauder über das ganze gebildete Europa, ja nach China und Amerika«, notierte ein Zeitgenosse.
Durch ihre Heirat mit dem Sattlermeister Johann Miltenberg stieg die Schneiderstochter Gesche Timm in die Bremer Oberschicht auf und pflegte Umgang mit Handelsherren und Senatoren. Mehr als ein Viertel der Einwohner war zu Beginn des 19. Jahrhunderts ohne Einkommen und also angewiesen auf die Mildtätigkeit anderer. Die immer elegant gekleidete, geschminkte Madame, das schöne Scheusal erwarb sich den Ruf eines »Engels der Armen«.

Noch als ihre finanziellen Verhältnisse es ihr nicht mehr erlaubten, verteilte sie reichlich Almosen. »Etwas geben« war ihr Ausdruck dafür, dass sie Arsen in die Speisen mischte. Wie sie den Armen Geld gab, verabreichte sie ihren Nächsten Gift.
Adelbert von Chamisso, der Autor des Mannes ohne Schatten Schlemihl, widmete ihr ein Gedicht, in dem er sie sagen lässt: »Ich teilte Gift wie milde Spenden aus, / Und weilte lüstern Auges, wo im Haus / Der Tod hielt Schmaus.« Niemand in ihrer Umgebung war sicher vor solcher Mildtätigkeit. Außer den Morden gab sie 19 Fälle zu, in denen die Dosis nicht tödlich war.
Nebenbei blamierte sie die Ärzte. Ein Dutzend von ihnen hatte die Leichen untersucht, mancher behandelte mehrmals ihre Opfer während des Siechtums. Darmverschlingung, Nervenfieber, Schlaganfall – nicht einer diagnostizierte richtig. Und keineswegs Kurpfuscher blendete sie, sondern die erste Garnitur der Bremer Ärzteschaft. Einer verstieg sich dazu, auf seiner Diagnose zu beharren, nachdem Gesche den Mord längst zugegeben hatte.
»Ich dachte, die Toten könnten doch nicht mehr abgehört werden«, gestand sie einmal treuherzig. Und behielt recht: Manche Leiche konnte auf dem Friedhof nicht mehr gefunden werden oder der Arsennachweis misslang. Rund 15 Jahre lang mordete Gesche ungestört – zwar eine geachtete Bürgerin und Inbegriff von Tugend und Schönheit, doch auch Spottgestalt der Straßenkinder.
Der Rademachermeister Rumpff, der 1825 ihr Haus kaufte und sie darin weiter wohnen ließ, erinnerte sich: »Das Haus steht in besonderem Rufe; wie ich es kaufte, riet man mir ab; es sei, hieß es, ein Unglückshaus, in welchem die Männer sterben und ich werde gewiss nicht gesund blieben.«
Anders als den Behörden war den Nachbarn die ungewöhnliche Häufung der Todesfälle in Gesches Umfeld nicht entgangen: »Die abergläubische Sage redete insgeheim von einem pestartig-giftigen Atem als einem krankhaften Übel der eigentümlichen Frau.«
Mord aber vermutete niemand. Vielmehr hielt der Pastor einen Fürbittgottesdienst ab, um der vom Schicksal verfolgten Frau beizustehen, der zwei Ehemänner und ein Verlobter, die Eltern, der Bruder, drei Kinder, Freunde und Bekannte gestorben waren.

Wenige Wochen, nachdem die Familie Rumpff in die Pelzerstraße 37 eingezogen war, starb die Hausfrau, kurz nach ihrer Entbindung und anscheinend durch diese. Dem Hausherrn wurde von beinahe jedem Essen übel.
Ein Stück Schweinefleisch, das ihm ausnahmsweise gemundet hatte, sperrte Rumpff in einen Schrank. Anderntags fand er es in veränderter Lage und mit weißlichen Körnern bestreut. Er ließ das Fleisch untersuchen, das Arsen wurde entdeckt und Anzeige erstattet. Am 6. März 1828, ihrem 43. Geburtstag, wurde Gesche verhaftet.
In zähen Verhören entrang der Untersuchungsrichter der Unholdin die Geständnisse. 1813 hatte die Mordserie mit dem Tod ihres Gatten Miltenberg begonnen. Damals bereits war Michael Gottfried ihr Geliebter. Um ganz für ihn frei zu sein, gab die selbstgemachte Witwe vor, musste sie ihre übrige Familie vernichten.
Innerhalb von fünf Monaten, vom Mai bis September 1815, ermordete sie ihre Eltern und ihre drei Kinder. So brachte sie ihrer jüngsten Tochter das Gift mit dem Butterkuchen vom Begräbnis der Mutter bei. »Ist es wieder soweit?«, fragte Meister Bolte, der Tischler aus dem Nachbarhaus, bei dem sie die Särge bestellte.
Im Mai 1816 kehrte Gesches Zwillingsbruder Johann nach 13-jähriger Wanderschaft verkrüppelt in die Heimat zurück. Keinen Monat später starb er an dem Schellfisch, den ihm die Schwester zubereitet hatte.
Dennoch widersetzte sich Gottfried einer Heirat. Also beköstigte sie ihn mit »Mäusebutter«, dem mit Arsen versetzten Schmalz, das es frei zu kaufen gab. Derart bekam sie ihren Willen und wurde mit dem Sterbenskranken getraut. Drei Tage später war auch seine Zeit abgelaufen.
Danach war Gesche fast sechs Jahre enthaltsam. Bis sie 1823 ihren neuen Geliebten Zimmermann umbrachte. In den folgenden vier Jahren wurden eine Freundin, ein Untermieter, Frau Rumpff, Gesches langjährige Magd und deren kleine Tochter sowie ein väterlicher Bekannter in Hannover ihre Opfer zehn bis 15.
Durch protzigen Lebensstil und ihre üppigen milden Gaben ständig in Geldverlegenheit bestahl Gesche Mieter, Freunde und Bekannte. Und nie fiel ein Verdacht auf sie. Um Geldnot ging es auch bei dem Gastspiel, das sie in Stade gab.

Im »Detentionshaus«, dem Gefängnis am Bremer Ostertor, war Gesche am 8. Mai 1828 auf dem Weg von ihrer Zelle ins Verhörzimmer zufällig einer jungen Frau begegnet. Ihr Anblick erschütterte die Inquisitin so, dass es dem Untersuchungsrichter nicht entgehen konnte.
Gesche glaubte, dass er die Begegnung im Gang arrangiert hätte und schwieg zunächst darüber. Am nächsten Tag jedoch brach es im Verhör aus ihr heraus. Unter Tränen gestand sie: »Vor Jahren habe ich ein Vergehen begangen, was mich drückt.«
Der Gerichtsschreiber notierte ihre stockenden Sätze: »Ach, Sie wissen es… ich bin so angst… Wie lange her es ist, kann ich nicht angeben – etwa sechs Jahre her – von Stade her – ach, ich kann’s nicht sagen – aber will ich es sagen – ach, lieber Gott.«

Im Sommer 1822 war Gesche mit der Schwester einer Freundin in die Schwingestadt gereist. Hier, im nicht mehr genau zu ermittelnden Haus des Revisors Hartung in der Bäckerstraße, »wurde sie aufgenommen, gehegt und gepflegt wie ein teures Familienmitglied, dessen langjährige bittere Leiden man gern auf einmal möchte vergessen machen«, wie ihr Verteidiger und Biograph Friedrich Voget schrieb.
»Manchmal denke ich bei mir selbst: wie will das werden, du wirst verwöhnt«, bemerkte sie in einem Brief aus Stade. »Ich bin in einem schönen Garten, wo morgen eine Hochzeit von 250 Personen gegeben wird … Gestern fuhren wir nach Agathenburg, vorgestern nach dem Alten Land; heute sind wir bei dem Regierungsrat, morgen bei Doktor Freudentheils.«
Gesche wurde bei den Vornehmen der Garnisons- und Festungsstadt herumgereicht. »In Bremen bin ich im ganzen Jahr nicht mehr ausgegangen als hier in drei Wochen.«
Doch umsonst war das Vergnügen nicht, sie musste sich freigiebig zeigen, so dass ihre spärliche Reisekasse bald aufgebraucht war. Zuhause hatte sie ihren Kredit längst überzogen, und ihr Stolz verbot es ihr, die Gastgeber um Hilfe anzugehen. Also verfiel sie auf einen listigen Betrug.
Sie passte einen günstigen Moment ab, um ihrer Gastgeberin das Schlüsselbund zu entwenden. Sie drehte den Bart des Schlüssels zu ihrer Kommode im Schloss ab und warf das Bund weg. Sodann hob sie ein Geschrei an. Die Kommode wurde erbrochen – und siehe da, sie war leer.

Auf 35 Taler bezifferte Gesche ihren vermeintlichen Verlust. Allerdings hatte sie die Aufregung unterschätzt, die nun das Haus ergriff. Revisor Hartung, ein Regierungsbeamter, säumte nicht und rief die Polizei. »Die Herren kamen plötzlich zu mir mit ihren Büchern usw., und ich verstand die ganze Sache nicht und schämte mich in dem Augenblick, als ich schwören sollte, die Wahrheit zu bekennen.«
Ein Zurück gab es nicht mehr, und so schwor sie den Meineid, der später ihrem Schuldenkonto hinzugefügt wurde. Damit nicht genug. Frau Hartung benannte sogleich eine Täterin: Ihre Dienstmagd, mit der sie ohnehin unzufrieden war.
Die Angelegenheit uferte aus. Das Dienstmädchen floh und heizte so die Bemühungen der Polizei noch mehr an; es wurde schließlich verhaftet und erst nach langwierigen Untersuchungen entlastet.
Auf Gesche fiel selbstverständlich kein Schatten eines Verdachts. Die Hartungs ließen es sich nichtnehmen, ihrem Gast das gestohlene Geld zu ersetzen und sie mit immer neuen Vergnügungen über das Ungemach zu trösten. Unter vielen Entschuldigungen wurde Gesche nach etwa acht Wochen aus Stade verabschiedet.

Jenem unschuldig verfolgten Dienstmädchen – »Friederike oder Caroline« erinnerte sie den Namen – glaubte Gesche im Gefängnisflur begegnet zu sein. Der Untersuchungsrichter ließ die Betreffende zu sich kommen. Friederike Wagenbrett hieß sie, und sie hatte ihren Bruder besucht, der in der Zelle neben Gesche inhaftiert war. Verdutzt vernahm sie, worum es ging. Sie hatte »nie in Stade gedient« und sich allenfalls einmal auf Reisen »sechs Tage dort aufgehalten«.

Der Untersuchungsrichter konfrontierte die Frauen miteinander. »Ja, dies ist das Mädchen«, sagte Gesche, ging auf die Wagenbrett zu, küsste ihre Hand und bat um Verzeihung. Obwohl die andere abstritt, Gesche zu kennen, blieb die offenkundig verwirrte Mörderin dabei, in der Wagenbrett das Stader Dienstmädchen zu sehen.
Drei Jahre verbrachte Gesche im Gefängnis. Am 21. April 1831 bestieg sie das Blutgerüst, auf dem sie per Schwertstreich geköpft wurde. 35 000 Zuschauer drängten sich auf dem Platz und an den vermieteten Fenstern der umliegenden Häuser; ganz Bremen also, das damals 40 000 Einwohner zählte. An der Stelle des Schafotts wurde ins Pflaster des Domshofs ein Kreuzstein gesetzt, der seither niemals trocken wird, der »Spuckstein«.
Quellen und Literatur
Staatsarchiv Bremen 2-ad D.17.c.5.c.1 | W. Alexis: G. M. G., in: Große Kriminalfälle, München 1965 | A. v. Chamisso: Die Giftmischerin (1828), in: ders., Sämtliche Werke I, München 1975 | R. W. Fassbinder: Bremer Freiheit, 3. Aufl. Frankfurt/M. 1994 | J. Feest / P. Seling-Biehusen (Hg.): Criminalia, Bremen 1988 | F. Hetmann: Mord und Totschlag, Gift und Galle, Frankfurt/M.-Wien-Zürich 1968 | E. Heuser: Die ehrsame Mörderin, in: R. A. Stemmle (Hg.), Der neue Pitaval, München 1965 | »Ich konnte mit Lust Böses tun!«, in: Bremen und Umgebung, Bremen 1995 | M. Jacta: Berühmte Strafprozesse, Deutschland II, München 1967 | P. Meter: G. G., Lilienthal 1995 | Die größte Giftmischerin aller Zeiten, Der Heimatfreund 16/1931 | U. R. in Hamburger Abendblatt 14.3.1997; Die Zeit 9/1997; Neues Deutschland 27.7.2000; Kreiszeitung Syke 19.9.2009; Elses Lachen, Bremen 2009 | L. Scholz: Die G. G., Berlin 1913 | F. L. Voget: Lebensgeschichte der Giftmörderin G. M. G. [1831], Bremen 1976
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Weitere → Geschichten aus Stades Geschichte
→ Pitavalgeschichten. Eine Übersicht des Genres
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