Klimawandel oder Neonazis: einen Klick weit gleich entfernt

Je verworrener die Verhältnisse, desto stärker die Sehnsucht nach einfachen Lösungen. Dieser Tage haben die Vereinfacher Hochkonjunktur. Die Welt besteht aus Uns und den Anderen, Gut und Böse, Schwarz und Weiß. Denken ist überflüssig, man muss nur entscheiden, auf welche Seite man sich stellt. Wer differenziert, ist ganz draußen.

Die Welt zerfällt in »Gefällt« oder »Gefällt nicht«. Greta Thunberg (um irgendein Beispiel zu nennen) ist göttlich – oder ist es nicht. Die Wirklichkeit wird zwischen Anbetung und Hass zerrieben. Man glaubt an den Klimawandel oder eben nicht. Man fährt auf »Fridays for future« ab oder ist ein reaktionärer alter weißer Mann. Man steht in dem einen oder anderen Lager oder wird entsorgt.

Für die Gläubigen ist der Zweifel des Teufels. Zweifel zersetzt die seligen Gewissheiten, nach denen sich für oder gegen etwas entschieden wird, natürlich spontan, Klick, Klick, »meinungsstark« und in unerschütterlichem Selbstbewusstsein.

Die meisten können von dem, worüber sie entscheiden, unmöglich mehr wissen, als sie da und dort aufgeschnappt haben: TV-Berichte, Zeitungsmeldungen, irgendein YouTube-Video. Würden sie sich nur zu Wort melden, nachdem sie sich gründlich und von allen Seiten mit etwas beschäftigt haben, müssten zu dem meisten, wozu sie Stellung beziehen, schweigen.

Zu den allermeisten Sachverhalten, die mir vorgetragen werden, habe ich keine ausgereifte Meinung, weil ich mich damit nicht eingehend genug befasst habe. Ich weiß, ich würde lediglich Glaubenssätze äußern, über die ich schwerlich debattieren könnte. Allenfalls könnte ich versuchen, sie herzuleiten aus Anschauungen, die sich über die Zeit entwickelt haben.

In meinen Zwanzigern habe ich einiges gelesen und gehört über das damalige Avantgarde-Thema Umwelt. Die Lektüre musste ich mir gezielt beschaffen; in den Medien fand das Thema nicht statt. Der ökologische Untergang wurde zum Subgenre der Science-fiction. Die Veränderungen des Erdklimas, ihre potenziellen Ursachen und die Möglichkeiten, sie aufzuhalten, schienen mir damals unabweisbar.

Ich hatte über Jahrzehnte keine zwingenden Gründe, mich erneut damit zu befassen. Die Welt ging den gewohnten Gang. Spätkapitalismus, wohin man blickte. Ich kenne keine der Studien, auf die sich aktuell berufen wird; ich muss keinen Experten hören. Das Katastrophenszenario des Klimawandels ist für mich so selbstverständlich wie der Tod. Kein Grund, in Panik zu verfallen.

Der Klimawandel ist die logische Konsequenz des Weltkonsums der Menschheit, die in den von mir überblickten Jahrzehnten sprunghaft angestiegen ist. Überbevölkerung ist ein Argument, das ich dieser Tage nur einmal vernommen habe, auf einer »rechten« Site. Die Kinder, die protestieren, dass man ihnen die Zukunft raubt, hätten eigentlich gar nicht geboren werden sollen. Ohne die Ein-Kind-Politik Chinas wäre das Kind schon in den Brunnen gefallen. Wenn jeder Chinese ein Auto fahren will, hieß es anno dazumal, geht die Welt unter.

Ich habe nie ein Auto gefahren, kein Kind in die Welt gesetzt; ich bin nur exakt zwei Mal geflogen und habe die Welt zwar nach europäischen Maßstäben, aber an deren unterstem Ende konsumiert. Ich verspüre so wenig Verlangen danach, mich mit dem Klimawandel zu beschäftigen wie mich auf den Tod vorzubereiten. Muss sein, kann aber warten. Der Generationskonflikt, der sich aktuell damit verknüpft, geht mich nichts an. Über Aufforderungen zum Verzicht kann ich nur lachen.

Ich empfinde keine sonderliche Verantwortung für den Klimawandel. Ich schäme mich auch nicht, sehr gelegentlich Fleisch zu essen. Ich käme nicht auf die Idee, mit Veganern zu streiten oder den Verzehr von Fleisch zu rechtfertigen. Nahrungsaufnahme ist eine Notwendigkeit, der ich mich nach Bedarf und Geldbeutel entledige. Nichts weiter zu sagen; ebensogut könnte man versuchen, mit mir über Fußball zu disputieren.

Dieser Glaubensfrage der Zeit stelle ich mich nicht. Nicht mehr. Hatte ich alles schon einmal durch, wie den Klimawandel, vor Unzeiten. Nachdem einmal die Räume einer Zeitungsredaktion aus Protest über die Berichterstattung von Tierrechtlern mit Gummihühnern und roter Farbe versehen worden waren, sollte eine Art Versöhnungstext erscheinen. Anlass war eine Aktion beim Tag der offenen Tür im Schlachthof. Meine Gruselgeschichte endete damit, dass ein Ende des Fleischessens ein der Jahrtausendwende würdiges Projekt sein könne; schmalzig (!) formuliert, aber ernst gemeint. Es war 1988.

Weil die bis dato bornierte Bürgerschaft mit ihren Söhnchen und Töchterchen im Clinch liegt, werde ich nicht so tun, als würde ich das Geschrei auf der Straße zum ersten Mal hören.

Ich könnte ich mich in das eine oder andere Lager einschleichen, indem ich auf »Gefällt mir« drücke. Vorübergehend. Bis es zur Konfrontation kommt. Von innen oder außen, oder bei gleicher Gelegenheit. Indem es sich um ein Lager handelt, kann ich nur zum Schein dazu gehören. Welche Argumente ich auch teile, mangelt es mir an der gläubigen Überzeugtheit.

Wenn Veganer mit mir auskommen wollen, sollten sie nicht versuchen, mich zu missionieren. Von ihnen, Christen, Muslimen oder Juden trennt mich gleichermaßen das fehlende Bedürfnis nach einem Glauben. Zu der Zeit, als ich las, wie Sigmund Freud gegenüber Romain Rolland beschrieb, dass er dessen »ozeanisches Gefühl« einfach nicht kenne, theologisierte, resp. philosophierte ich mit einem Schulfreund, der später Pastor werden sollte. Es ging nicht um Bekehrung.

Toleranz ist nicht einseitig. Wer sich der Religion wegen für auserwählt hält, verachtet alle anderen und fordert deren Verachtung heraus. Wenn ich Zeit hätte, etwas wie ein Buch fertig zu machen, könnte es eine Art Knigge für den Umgang in einer Gesellschaft ohne Lager sein. Ein wohl verstandener Knigge; nicht nach dem Tischmanieren-Klischee, sondern dem, wovon »Über den Umgang mit Menschen« tatsächlich handelt: von Verhaltensweisen in der Gesellschaft. (→ Mit doppelter Dosis Opium)

Zu Knigges Zeit begann sich der öffentliche Raum virtuell zu erweitern. Er selbst nutzte den Briefverkehr zur Werbung für das zweite Missverständnis, dass sich mit ihm verknüpft, die Illuminaten. Deren Geschichte ist vielleicht deshalb so notorisch, weil es sich um einen der frühesten gelungenen Versuche handelt, ein Netzwerk zu knüpfen, ohne dazu ständig auf Reisen zu sein.

Inzwischen hat sich dieser neue öffentliche Raum nicht nur etabliert, sondern ist nahezu ununterscheidbar geworden von der Privatsphäre. So durchlässig die Grenzen auch zu Knigges Zeit bereits waren, gab es ihrer mehr als heute, und viele Durchdringungen waren schlicht ausgeschlossen. Andere sind es heute ebenso, kommen aber scheinbar nicht mehr zum Tragen oder werden ignoriert. Wie die Klassengrenzen. (→ Bürger, Gesindel und sowas)

Verhaltensweisen in der Gesellschaft heißt heute in erster Linie: Stellung in den Sozialen Netzwerken. Die Gesellschaft leibhaftiger Menschen, über die Knigge nachdachte, ist nachrangig. Digital sind die allermeisten allein unterwegs, gewissermaßen privat im Verhältnis zu denen, mit denen sie vierdimensional verkehren. Die Notwendigkeit solchen Umgangs ist seit Knigges Zeiten rapide geschwunden. Man ist Automobilist in einer Blechkapsel im weitesten Sinn.

Die Lager bilden sich in Filterblasen und Echokammern als Freundeskreise. Dutzende, Hunderte, Tausende Freunde, die mich auffordern, mich zu positionieren. Tue ich oder kann ich lassen. Den Unterschied macht, ob ich einer Gruppe, Herde oder einem Mob angehören will. Das Einzelne vor dem Monitor sucht Übereinstimmung. Sie ist leicht zu haben, quasi kostenlos, weil sie nichts bedeutet und nur gerade so weit reicht wie Gefühle überhaupt.

Ein Jahrzehnt lang habe ich auf Gesichter auf dem Monitor verzichtet. Nicht geplant, nicht aus einem Entschluss oder unter Zwang; es hat sich so ergeben. Ich war wohl im Kino und habe dann und wann bei anderen einen Fernseher flackern gesehen, aber die meisten Zelebritäten und sonstigen Gestalten, die durch die Medien geisterten, habe ich nur ausnahmsweise gesehen, wenn mein Blick auf eine Zeitung fiel, die ich ebenfalls nicht mehr las. Einzige Quelle für das, was außerhalb meines persönlichen Horizonts vorging, war das Radio, genauer der Deutschlandfunk. Die Regierenden kannte ich als Stimme; wenn sie mir in Foto und Film begegneten, fand ich nie, dass mir Wesentliches entgangen war.

Ich habe viele Blicke hinter Kulissen getan oder an Aufbauten mitgewirkt und habe etliche Zelebritäten aus der Nähe erlebt. Als Reporter habe ich weitmöglichst versucht, mir ein persönliches Bild von den Leuten zu machen, über die ich schrieb, und das so gründlich wie nötig. Übertriebene Mühe: andere verbringen gerade so viel Zeit mit jemand, um ausreichend Zitate einzusammeln und Fotos zu machen. Viele finden überhaupt nichts dabei, ihr Berufsleben damit zu verbringen, sich über Leute auszulassen, die sie wie ihre Leser nur aus dem Fernsehen kennen.

Zeit muss kein ausschlaggebender Faktor sein, um jemand kennen zu lernen, aber mehr Zeit erlaubt bis zu einem gewissen Punkt mehr Erkenntnisse. Wenigstens sollten die physiognomischen Vorurteile, an denen man hängen bleibt, solange man sich auf Fotos und Filme verlässt, abgestreift werden. Niemand ist in Wirklichkeit wie seine dreidimensionale Abbildung und schon gar nicht in der vierten Dimension. Dass und wie inzwischen alle Welt sich selbst dreidimensional repräsentiert könnte allen die Differenz vor Augen führen, hat indes eher dazu geführt, dass die Zeit eine immer geringere Rolle spielt.

Themen, die vor wenigen Jahren schon einmal um die Welt gejagt wurden, können ohne Verlust recycelt werden, sofern nur die Gesichter ausgetauscht werden. Greta Thunberg tritt auf, und alles ist wie neu und anders. Zwar nur eine alte Leier; immerhin eine andere Melodie als bei der letzten Vorführung.

Neonazis ante portas! Noch ein frischer Schlachtruf für die Lager. Ausnahmsweise einer, bei dem ich eine Meinung habe, für die ich keine Glaubensfreiheit in Anspruch nehmen müsste und sie deshalb für mich behalte, bis ein Gericht mich zwingt, sie preiszugeben. Eine Meinung vielmehr, bei der ich sicher bin, sie mit nicht mehr als einer Handvoll Leuten auf Augenhöhe erörtern zu können. Allen anderen halte ich einen Vortrag, und sie können anschließend Fragen stellen. (→ Wieder einmal Rechtsterrorismus)

Ein Aspekt der aktuellen Aufregung ist der vermeintliche Mangel an Wissen über die Neonazi-Szene. Ich konstatiere zunächst einmal einen Mangel an Wissen bei der überwiegenden Mehrzahl derer, die sich darüber in den Medien äußern, von ein paar sehr wenigen abgesehen, die als Experten zitiert werden und dasselbe sagen, was sie schon vor zehn Jahren gesagt haben, allenfalls ein bisschen schärfer oder ungeduldiger.

Eine alte Leier, eine variierte Melodie, eine leicht veränderte Orchestrierung. Das Publikum ist so ahnungslos wie ehedem, aber die Lagerbildung schreitet voran. Leute, die nie einen Neonazi aus der Nähe gesehen haben, nennen sich Antifa. Wer etwas zu sagen hat, trete vor und schweige. Die Einzelnen kommen sogar hinter dem Monitor hervor und realiter zusammen: um sich bei einem improvisierten Lager in der Öffentlichkeit auszustellen.

Im Web werden Todeslisten verbreitet, und alle, die bis dahin nie etwas davon gehört haben, versetzen sich selbst darauf. Eine Gruppe, die der Antifa in der Nachbarschaft bis dato unbekannt war, berichtet en passant von einem Hausbesuch und dass man täglich mehrfach Drohungen in den Postfächern habe, »gestalkt, bespuckt oder körperlich attackiert werde«. Donnerwetter, soll man glauben, die kennen sich aus: Frontschweine. Seltsam, dass sie diese Vorfälle bis hierhin verschwiegen haben.

Dass facebook-Meldungen hin und her gejagt werden, Sperren verhängt werden oder nicht, das ist das eine, virtuelle. Dass diese Kämpfe auf der Straße ausgetragen würden ist mir vollkommen neu. In bestimmten Vierteln einiger Großstädte oder einem ostdeutschen Dorf vielleicht, aber gewiss nicht auf dem niederdeutschen Lande vor den Toren Hamburgs, wo alle im Auto unterwegs sind und die Gelegenheiten »gestalkt, bespuckt oder körperlich attackiert« zu werden, erheblich geringer sind und mehr kriminelle Energie erfordern, um sie auszunutzen.

Unlängst saß ich in einem Café und plauderte mit jemand, mit dem ich darüber plaudern kann, weil er sich auskennt, über Neonazis, und wir nannten einen beim Namen, als dieser sich in unserer Sichtweite niederließ. Großstadtbewohnern kommt das surrealistischer vor, als es in einer Kleinstadt ist; es ist weniger Zufall als Struktur.

Ich hatte ihn als Gewalttäter im Gerichtsaal kennen gelernt. Er war 26, heute ist er 45, so alt wie Stephan E. Ich war ihm dann und wann noch einmal begegnet, aber seit Jahren nicht mehr. Ich hätte ihn nicht wiedererkannt, und er ließ nicht erkennen, ob er uns bemerkt hatte. Nach allem, was ich weiß, habe ich keinen Grund anzunehmen, dass er seiner früheren Gesinnung abgeschworen hat und gehe davon aus, dass die Behörden ihn so gut im Auge haben wie sie können.

Vorbehaltlich der näheren Umstände würde ich der Polizei keine Vorwürfe machen, falls sie eine Tat verpassen, die er oder andere begehen. Sie kann eingreifen, aufklären und bestenfalls Schlimmeres verhüten, aber sie kann weder Vorhersagen treffen noch jeden, der aus politisch konjunkturellen Gründen auf die Liste gesetzt wird, überwachen. Für eine freiheitliche demokratische Gesellschaft wäre es besser, sie täte nicht, wozu sie von den Lagern aufgefordert wird.

Etwas mehr als Kismet darf es schon sein. Wenn meine Zufallsbegegnung noch in der braunen Szene aktiv sein sollte, dann könnte sie außerhalb ihres Wohnbezirks an Aufmärschen oder Konzerten teilnehmen, ohne dass die heimische Polizei davon erführe, und sei es nur, weil die Polizei am Veranstaltungsort es nicht mit bekommt, dass sie anwesend war. Wie im Fall Stephan E. fände sich dann dieses oder jenes in einem Antifa-Archiv, dessen Netz dichter und unbürokratischer ist, vermutlich auch besser digitalisiert.

Die Zufallsbegegnung war weit genug entfernt, damit ich nicht die Stimme senken musste, sonst hätte ich es getan. Aus Höflichkeit, nicht aus Vorsicht. »Militante Neonazis« sind, wie alle anderen Verbrecher, die meiste Zeit ganz »normale« Menschen. NPD-Stephan, den plötzlich alle zu kennen meinen, hat keine »bürgerliche Fassade« aufbauen müssen, um sich dahinter als Neonazi zu verstecken.

»Aufstehen gegen Rassismus« nennt sich die facebook-Gruppe, deren Mitglieder im Frontkampf zu stehen vorgeben. Ich habe mich nicht weiter um den Neonazi in der Nähe geschert. Ich bin nicht aufgestanden und zu ihm hingegangen, um ihm – ja was? Einen Vortrag zu halten, zu maßregeln, zu beschimpfen oder zu missionieren?

Vermutlich muss ich meine besondere Optik hinzufügen. Ich begegne nicht nur Neonazis alltäglich auf der Straße, sondern Leuten aller Art, die ich im Gerichtssaal kennen gelernt habe, und über die alle übrigen gern Schauermärchen hören und glauben möchten. Um die Frucht von drei Jahrzehnten Erfahrung mit Verbrechen zusammenzufassen: es gibt keine Verbrecher. Das ist kein besonderer Menschenschlag, eine soziologisch definierbare Gruppe oder gar eine Rasse. Einbrecher, Räuber, Mörder kann jeder werden. Für Gewaltdelikte kommen in allererster Linie Männer in Frage, aber auch das ist kein Naturgesetz.

Neonazis sind gewiss gewalttätiger als andere. Ihre Glaubensinhalte senken die Hemmschwelle; die Sozialisation in der Szene ist brutal und außerhalb sind sie auf Konfrontation eingestellt, sobald sie sich zu erkennen geben. Aber das besagt nicht viel. Ihren Glauben teilen andere, die überhaupt nicht persönlich gewalttätig sind und solche Verrichtungen delegieren; rüpelhafter Umgang ist in anderen Männergesellschaften gleichfalls üblich. Und wer sich nicht zu erkennen geben will, tut es eben nicht. Nach meiner Zufallsbegegnung hat niemand sich umgedreht und geraunt: »Schau mal, ein Neonazi!«

Den Lagerinsassen ist das zu kompliziert. Sie hätten es gern so klar wie auf dem Meme am Monitor. Freilich, Stephan E. sieht genau so harmlos aus wie er offenbar nicht war. Nicht einmal eine Glatze hat dieser Neonazi, und den Himmler-Haarschnitt sehe ich bei »Nicht-Deutschblütigen« am häufigsten.

Die Gruppe »Aufstehen« wünscht sich, was sie beklagt: Stalken, Spucken, Schlagen. (Übrigens, so weit zu erkennen, handelt es sich ausschließlich um weißhäutige Deutsche, die schwerlich eigene Erfahrungen mit Ausgrenzung haben.) So verlaufen die Gräben aber nicht. Neonazis auf dem flachen Lande rennen nicht herum und belästigen Antifas. Punktum. Es gab zu manchen Zeiten an einigen Orten unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen solche Szenen, aber seit geraumer Zeit ist nichts Derartiges mehr bekannt geworden. Fake-News also, was »Aufstehen« postet: Hetze.

Der Hetze ist es egal, welchen Inhalt sie hat. Das wird im Eifer des Lagerbetriebes gern mal vergessen. Die Feinde, in diesem Fall die Neonazis, mit Verbalinjurien zu bedecken und zum Beispiel meine Zufallsbegegnung für die Tat von Stephan E. in Mitverantwortung zu nehmen ist demnach nicht nur erlaubt, sondern moralisch geboten.

Ich hatte nie Anlass, einen Neonazi zu beschimpfen, und falls mir einer über den Weg liefe und es zu einem Gespräch käme, würde ich ihn gewiss auf NPD-Stephan ansprechen. Oder halt: darf ich das noch? Und zu welchem Behuf? Was sagt das Lager dazu? Gestattet es ein Gespräch, und wenn ja, unter welchen Vorgaben?

Ich muss mich keiner Lagerordnung unterwerfen und kann es gehen lassen, wie es will. Vermutlich würde ich eine ähnliche Erfahrung machen wie unzählige Male zu vor. So wenig wie Neonazis rund um die Uhr als Gewaltverbrecher tätig sind, unterscheiden sich ihre Ansichten von der Welt total von denen aller anderen Mitbürger. Das allerdings hätte, nach dem Einzug der AfD in den Bundestag, nicht mehr die exklusive Kenntnis derer sein sollen, die unter die Oberfläche des nachgeborenen Nationalsozialismus geblickt haben.

Indem ich solche und ähnliche Gedanken auf facebook poste, würde ich die dortigen Kommunikationsweisen überfordern. Keine platten Parolen, keine niedlichen Bilder. Ein Shitstorm wird mir darob auch erspart bleiben. Bei flüchtiger Lektüre erschließt sich die Arbeit des Zweifels nicht. Spürbar wird: der will so überhaupt nicht an der Lagerbildung teilnehmen, dass er auch keine Konkurrenz darstellt. Da muss er auch nicht eigens ausgeschlossen und geächtet werden.

Es erübrigt sich, zu erwähnen, dass bei den Kriegen zwischen den Lagern die ersten Opfer unter denen sind, die weder hierhin noch dorthin gehören.

Lauter wahre Demokraten bei »Aufstehen gegen Rassismus«, die das Grundgesetz gegen Nazis verteidigen. Sophie Scholl als Profilbild, dazu ein paar Tränen-Icons: Widerstand 2019. Die Wirklichkeit ist komplexer, als die Bürgerseelen am Monitor sich einbilden. Ihre einfachen Lösungen passen auf nichts und sind lediglich geeignet, den Lagerzaun zu bilden.

Die Einzelnen am Monitor rufen nach Zivilcourage. Bis es ernst wird. Dann soll die Polizei helfen. Nein, besser noch, sie überwacht die Gefährder rund um die Uhr, um nichts anbrennen zu lassen. Die guten Menschen verlangen nicht, dass alle Verdächtigen stante pede eingesperrt werden. Sie beklagen sich nur über zu niedrige Strafen, wenn ein Täter gefasst wird. Sie fordern nicht die Todesstrafe für Stephan E. Immerhin.

Was die Lagerinsassen in ihren Blasen und Kammern schwerlich erkennen ist, wie verwandt sie sind. Man erklärt sich gegenseitig für dumm und verhetzt. Und es stimmt.

Unterdessen geht alles den gewohnten Gang. Die Klimaschwätzer fahren weiter im Auto, und die Erben des Nationalsozialismus, die nicht am unteren Rand der Gesellschaft Banden bilden, regieren. Ich klicke herum, und der Monitor verzaubert die Welt, bis sie mir gefällt. Nichts ändert sich, bis auf die Mauern um die Lager, die täglich fester und höher werden.

Indem sie sich in ihrem Schema einrichten, sind die Schwarzen und die Weißen, die Guten und die Bösen sich zum Verwechseln ähnlich. Die Verständigungsformeln sind andere, aber auch nicht mehr als das: Formeln, Parolen, Memes.

Die Polizei soll richten, was die Gesellschaft versaut hat. Täglich lese ich von denselben Leuten, die bei anderer Gelegenheit vor einem Polizeistaat warnen und über Polizeigewalt klagen, die Aufforderung an die Polizei, Hassposts im Internet streng, strenger, am strengsten zu verfolgen. (→ Verbrechen und Strafe)

Die verklagten Hetzer sind unterdessen so enthemmt, dass sie ihre Gesichter vor TV-Kameras halten, während sie diese oder jene menschenverachtende Äußerung tun. Sie stellen ihre private Barbarei mit Stolz aus und halten sich selbst für brave Bürger, die alles Recht der Welt haben, über andere herzufallen und ihnen die Polizei an den Hals zu wünschen.

Eine Jüdin schreibt, sie gebe nach zahllosen vergeblichen Versuchen den Dialog mit Rechten auf. Und viele, die nie mit einem Neonazi geredet haben, pflichten ihr bei: sie selbst können also ruhigen Gewissens an die Polizei delegieren. Dass die Jüdin überhaupt mit Neonazis geredet hat, erscheint mir Nicht-Juden bemerkenswerter als ihre Argumente, warum sie es nicht mehr tut.

Sie sei es Leid, schreibt sie, stets die Schuldfrage zu erörtern und den Nachgeborenen, mit denen sie zu tun hat, einen Persilschein auszustellen für die NS-Verbrechen. »Kollektivschuld« hieß das mal und war allerdings etwas, das die Gesellschaft lange gewurmt hat. »Kollektivscham« fand schon Theodor Heuß sachgerechter, und die gilt bis heute für alle Staatsbürger mit passender Ahnenreihe und als Staatsräson für alle übrigen.

Die Schuldfrage muss ich als Nicht-Jude mit Neonazis nicht zwangsläufig erörtern. Meine Gespräche mit ihnen verlaufen selbstverständlich anders als die der Jüdin, ohne vorgezeichnete Frontlinie. »Überzeugen ist unfruchtbar«, notiert Walter Benjamin in der Einbahnstraße, und der Vorsatz schon verdirbt jedes Gespräch.

Die Jüdin schildert die Neonazis als unbelehrbar. Ihr gegenüber werden sie schwerlich Zweifel zeigen, falls die Gespräche je dahin führen, dass er ansetzen kann. Im Dialog mit dem Nicht-Juden können sich dagegen Momente ergeben, in denen die Selbstgewissheiten des Neonazis ins Wanken geraten.

Sofern der Nicht-Jude sich nicht als zu einer Gruppe zugehörig vorstellt, die eine Frontstellung zum Neonazi beansprucht. Gespräche, nicht verbale Konfrontationen, von Juden und Neonazis sind Ausnahmesituationen wie Gespräche zwischen Neonazis und Antifaschisten. Extremlagen von begrenztem Erkenntniswert. Wie die Unterhaltungen, die Neonazis mit Polizisten haben.

Und hier ist schon das Ende der Fahnenstange. Das Allerbemerkenswerteste des Textes der Jüdin ist die Mitteilung, dass sie mit Neonazis geredet hat. Vieles, was von Erfahrungen mit Neonazis erzählt wird, wäre zu überprüfen, wird es aber selten, wenn es denen passt, die keine Erfahrungen haben.

Zum aktuellen Befund gehört nach wie vor das Verschweigen, Vertuschen, Verharmlosen des Neonazismus. Zwar tauchen derzeit allenthalben Leute auf, die schon immer Bescheid gewusst haben wollen und ein Füllhorn von Erfahrungen und Erkenntnissen ausschütten. Vielmehr erscheint es als Füllhorn nur denen, die überhaupt keine Ahnung haben, und nicht merken, dass die vermeintlichen Fachleute lediglich recht oberflächlich das zusammen gekramt haben, was jeder selbst bei gehöriger Suche im Internet finden könnte. (In Bibliotheken oder Archive begeben sich solche Fachleute schon nicht mehr.)

Der Verblendungszusammenhang, der über Jahrzehnte gehegt und gepflegt worden ist (wie ich → an anderer Stelle längst ausgeführt habe), hat sich nicht verändert. Er hat lediglich die Sozialen Medien erfasst und strahlt von dort aus zurück auf die traditionellen Medien, von denen in der Mehrzahl die Vorlagen für die Social-Media-Poster stammen. Neonazis sind NN, eine unbekannte Größe, und in dem Geschwafel, das sich täglich zu dem Thema ergießt, bleiben alle an den Abziehbildern kleben, mit denen ihre jeweiligen Filterblasen ausstaffiert werden. Fotos kursieren in größeren Kreisen als ehedem und simulieren Kenntnis und Nähe, die sie wie gehabt gerade so weit herstellen, wie das Vorwissen reicht, an das sie andocken.

So beliebt Neonazis in den Talk-Shows sind, wenn sie das AfD-Emblem tragen, und so ausgeschlossen es zugleich ist, einen Björn Höcke vor die Kamera zu kriegen oder einen Christian Worch einladen. Also behilft man sich, nach gleichfalls althergebrachtem Muster, mit Aussteigern, bekehrten Sündern, die dafür, dass sie keine Mörder mehr sein wollen, Lob und 15 Minuten Ruhm einheimsen. (Nach wie vor undenkbar ist ein Auftritt von Autonomer Antifa. Soviel zur Abbildung von Wirklichkeit auf dem Monitor durch Talking Heads, an der sich die politische Meinungsbildung entlang hangelt.)

Wer kann glauben, ein Ex-Neonazi, der in einem TV-Studio sitzt, würde etwas anderes sagen, als das Publikum von ihm erwartet? Hat er ein Buch geschrieben und will es verkaufen? Was mag aus den Aussteigern geworden sein, die vor Jahren durch die Talk-Shows tourten?

Jahrzehnt um Jahrzehnt wurde Neonazismus von Justiz, Wissenschaft, Politik und Medien als Jugendsünde behandelt. Beharrlich blendete die Gesellschaft aus, was aus ihnen wurde, wenn sie das Alter überschritten, in denen ihnen Aufmerksamkeit zu Teil wurde. Dass der Nationalsozialismus sich nicht als Reifedefizit auswächst, dass kein Verbot der NPD, kein Verbot überhaupt und keine Polizei ihn ausmerzen: die Erkenntnis ist so trivial wie entmutigend. Weil Widerstand genau dort anzusetzen hätte, wo niemand angreifen möchte.

Über Jahrzehnte blieb es der dabei zugleich von der Polizei beargwöhnten und verfolgten Antifa überlassen, Neonazis im öffentlichen Raum entgegen zu treten. Die brave Bürgerschaft bekam davon entweder gar nichts mit, weil Polizei, Politik und Presse so taten, als sei nie etwas gewesen, oder die Anständigen erhielten Gelegenheiten, nachzutreten: gegen die Antifa.

Inzwischen muss die brave Bürgerschaft nicht mehr auf die Straße gehen, um Neonazis im öffentlichen Raum zu begegnen: virtuell sind sie überall. Was sich so Begegnung nennt. Gespräche finden nach wie vor nicht statt. Man schaut sich Abziehbilder an.

Was die AfD zum Thema Rechtsextremismus von sich gibt, ist gewissermaßen dankenswert deutlich. Mit PEgIdA fing es an. Auf Marktplätzen wurde unverstellter gehetzt, als es der NPD je gestattet worden wäre. Und, zur Erinnerung, ein SPD-Vorsitzender rief zum Dialog mit den Wutbürgern auf; bald darauf beschimpfte er sie als Pack. Im Aufwind der Haltungslosigkeit fast aller anderen Akteure auf den medialen Bühnen gelangte die AfD in den Bundestag, und jeder Vogelschiss von Alexander Gauland wird zum geflügelten Wort.

Wie viele von denen, die an Wahlen nicht mehr teilnehmen, so um die 40 Prozent, stimmen der AfD zu und haben keine Angst vor deren Machtübernahme? Das gemeine Volk hat stets unverblümter geredet als in den Medien üblich. Politische Korrektheit ist eine Formsache, mit deren Aufkommen nur desto leidenschaftlicher dagegen verstoßen wurde. Die Rede-Vorschriften haben keine Tatsachen verändert, aber die Wahrnehmung von Sachverhalten.

Nicht die Entscheidung der Bundeskanzlerin zur Aufnahme von Flüchtlingen war verheerend, sondern die dazu aufgesetzte »Willkommenskultur«. Wäre es beim nüchternen »Wir schaffen das« geblieben, hätte niemand Grund zur Aufregung gehabt. Den politisch korrekt herrschenden Klassen war es indes ein dringendes Bedürfnis, das eigene schlechte Gewissen über die Fluchtursachen Ausbeutung und Krieg heuchlerisch zu beruhigen. Es genügte nicht, die Opfer freundlich aufzunehmen, sie sollten mit Liebe überschüttet werden.

In der Kleinstadt, in der ich mich aufhalte, gab es keine nennenswerten Proteste gegen die Aufnahme von Flüchtlingen. Ohne den politisch-medialen Zinnober hätte nichts von ihnen bemerkt, und sie hätten sich still integrieren können. Aber dieselben Leute, die noch bis dahin allenfalls dadurch aufgefallen waren, dass sie als Behördenvertreter, Polizisten oder Politiker sich gegenüber denen, die nicht ihre Herkunft und Hautfarbe hatten, bestenfalls gleichgültig, vielfach aber feindselig verhalten hatten, traten nun alle Tage breit lächelnd als Flüchtlingshelfer vor die Kameras, meist ohne die von ihnen so herzlich Umsorgten.

Für Hetzer wie Liebhaber sind die Flüchtlinge Objekte der eigenen Begierden, Projektionsflächen. Syrische Fluchtgeschichten finden aus konjunkturellen Gründen und zur eigenen Selbstdarstellung eifrige Aufmerksamkeit, während die Lebensläufe von Mitbürgern, die bei früheren Fluchtwellen in das Land kamen, nach wie vor nicht gehört werden wollen. Werden die frischen Flüchtlinge gegen die Anwürfe der AfD energisch in Schutz genommen, tritt den älteren Migranten niemand zur Seite, wenn sie verhetzt werden.

Deutsche mit Migrationshintergrund wurden im ersten Überschwang 2015/16 von denen, die bis dahin mit abgeblendeten Blicken durch die Straßen gelaufen waren, für Flüchtlinge gehalten, und wer mit ihnen zusammen gesehen wurde, für Flüchtlingshelfer. Jene, die um die Heuchelei wussten, wie alle, denen der Tanz um das Goldene Kalb zuwider waren, fanden sich alsbald in einem Boot mit der AfD, die aus der Camouflage ihre weiter reichenden Schlüsse über Gesellschaft und Staat zogen.

Im AfD-Lager erschien es, als hätten die Linken die Macht übernommen. Und tatsächlich taten nun CDU-Politiker, als hätten sie nie ein Wort gegen Ausländer verloren; als hätten sie nicht eben noch gegen diese oder jene gehetzt, die mit ihnen in derselben Stadt leben, während sie die Neuankömmlinge verbal zu umarmen und zu herzen gar nicht mehr aufhören konnten, natürlich aus jener christlicher Nächstenliebe, die sie anderen Bevölkerungsgruppen ohne weiteres Aufhebens gern entziehen.

Das Flüchtlingsproblem hat sich für die Kleinstadt längst erledigt, und die Selbstdarsteller im Rathaus haben sich anderem zugewendet, als sei nie etwas gewesen. Mit ähnlicher Inbrunst und vergleichbarem Kalbsgetanze werden nun die Schulschwänzer von »Fridays for future« auf Händen getragen. Und wieder gilt: Friß oder stirb. Kritik ist jene Zersetzung, die die Nationalsozialisten »jüdisch« nannten.

Die üblichen Verdächtigen, Führungspersonal der Stadt und solche, die es werden möchten, demonstrieren für eine »humane Seenotrettung« (als könne es inhumane Rettung geben). Warum zeigen Leute, die über Macht verfügen, wofür oder wogegen sie sind, wenn sie anscheinend auch nichts anderes machen können als ich, nämlich demonstrieren? An wen richten sie ihre Transparente? An jene, die zufällig zur selben Zeit am selben Ort waren? An die Leser der einzigen Zeitung, die einen Bericht in die Welt setzt? Welche Wirkung erhoffen sie sich?

Wie ich es auch drehe und wende, bleibt nur eins: die Demonstranten stellen sich selbst aus. Machthaber und deren Vasallen gehen auf die Straße, um ihre Ohnmacht zu zeigen. Das war bei den Schüler-Demonstrationen zunächst anders; anfangs waren diese authentischer Protest. Inzwischen haben dieselben Machthaber sich den Schülern angeschlossen und fordern mit ihnen von anderen das, was sie selbst versäumt haben. (→ Der Müll, die Stadt und der Tod)

Die Inhalte der Parolen, die Ideologien sind nachrangig, die Frontstellungen oft künstlich. Flüchtlinge oder Neonazis sind nie so fremd wie die Propagandisten sie darstellen. Wer aus den Parolen Handlungsanweisungen für sich ableitet, gleichgültig in welche Richtung, liegt immer schon daneben.

Ich entsinne mich eines Neonazis, den ich als solchen kennen gelernt hatte, der mir später zufällig über den Weg lief und das Gespräch suchte. Er war inzwischen ausgestiegen aus dem Kameradschaftsverband, aber manche Überzeugungen teilte er nach wie vor mit den Männern, vor denen er sich in Acht nehmen musste. Er hatte sich nicht vom Nationalsozialismus verabschiedet, sondern das Milieu war ihm zu eng und stickig geworden. Er erzählte von einem Traum, der ihn auf die Spur gebracht hatte.

Er war Anfang 20 und hatte sich also gegen den Männerbund und für ein bürgerliches Leben entschieden. Die Aussteiger, die im TV präsentiert werden, haben sich in Aufklärer und Antifaschisten gewandelt. Der, dem ich begegnete, hatte der Gewalt und der Kameradschaft entsagt, aber nicht begriffen, wofür er sich hergegeben hatte. Er glaubte, das allein mache den Unterschied, und mit seinem Entschluss gäbe es den Abgrund zwischen ihm und mir nicht mehr.

Er wechselte nicht die Lager. Aber er meinte, der äußere Ausstieg reiche, um ein anderer zu werden. Er wird jetzt um die 40 sein. Die Bandbreite dessen, was aus ihm geworden sein könnte, ist das Dunkelfeld dessen, worüber die Parolenhuber und Heuchler so gut Bescheid zu wissen vorgeben.

Ein Einzeltäter mit bürgerlicher Fassade, AfD-Wähler oder Hetzkommentator? Ein unpolitischer Familienmensch, der sich um nichts kümmert, was außerhalb seiner vier Wände vorgeht? Der über seine Vergangenheit als NPD-Aktivist schweigt oder damit renommiert?

Und wäre noch Nationalsozialist, redet er täglich mit anderen, die sich nie die Frage vorlegen, die sich Nutzer der Sozialen Medien rhetorisch vorlegen: ob sie mit Neonazis reden sollen oder nicht. Auf dem geposteten Foto erkennen sie den Neonazi, es steht ja darunter. Aber sonst?

In der Filterblase kommen die anderen nur als Fremde vor, die so erscheinen, wie sie sein sollen. Im Internet wie auf der Straße bleiben alle für sich und kennen einander vornehmlich vom Hörensagen. Miteinander statt übereinander zu reden, würde manche Frontstellung aufweichen, und es könnte klarer werden, wo die wirklichen Gräben verlaufen.

Nicht Links und Rechts, nicht Flüchtling oder Neonazi sind Ausschlag gebende Koordinaten, sondern Oben und Unten. Die ominöse Mitte, in der sich alle aufhalten wollen, wird von Oben gelenkt und tritt nach Unten. Wer sich, wie eine Gruppierung »Bürger-Antifa« auf facebook in einer »gefestigten Demokratie« glaubt und gar nicht genug Polizei gegen angenommene Meinungsdelikte einsetzen kann, Herrschaftsverhältnisse ignoriert, wird sein blaues Wunder erleben, wenn die im Internet geschürten Konflikte auf der Straße ausgetragen werden.

Dann ist es vorbei mit Guhtmenschen-Eiapopeia und Selbstbeweihräucherung. Den Praxistest überstehen viele Haltungen, die sich mit Memes auf facebook leicht einnehmen lassen, nicht.