ÜBERSICHT Braune Bande. Neonazismus in Niederdeutschland

Vom Oktoberfest-Attentat über Thomas Lemke zum NSU – Wie Politik, Polizei, Justiz und Medien mit Neonazis umgehen

Vom Wegsehen — Sommer 2012

Der nationalsozialistische Untergrund beginnt an der Oberfläche. Sie besteht aus den Absonderungen von Sicherheitsbehörden, Politik und Medien, die der Meinungsbildung als Grundlage dienen. Eine Drehorgel der immergleichen Phrasen, die um sich selbst kreisen. Behördenstatements und Medienberichte bilden nicht einmal annähernd ab, was als öffentlich gelten kann.

Wie ein verregneter NPD-Stand am Stader Hafenkran im Dezember 2011. Politische Kundgebungen sind in der Kreisstadt ausnehmend selten und erfordern kaum einmal bemerkenswerte Polizeipräsenz. → Adolf Dammann und sein Gefolge werden vom größten Einsatz des Jahres in der Inneren Stadt begleitet. Im Spiegel der Presse hat er nicht stattgefunden. Der Lokalanzeiger vermeldet auf seinen überregionalen Seiten breit die letzten Neuigkeiten vom NSU; Neonazis allenthalben, in Zwickau und Dortmund, in Berlin und nebenan in Hamburg – daheim ist es sauber.

»Können Sie nicht zusehen, dass Sie die da weg schaffen?«, fordert ein Passant die Polizisten beim nächsten Mal auf, bei besserem Wetter. »Nicht unsere Aufgabe«, erwidert der Einsatzleiter. Als CDU-Mandatsträger kennt er den Abgeordneten Dammann aus dem Kreistag. Sie schnacken am Stand, während die neu geschaffene »Festnahme- und Beweismittelsicherungseinheit« der Landespolizei auf ihren ersten Einsatz in der Stadt wartet. Eine Abordnung der Antifa aus Hamburg ist avisiert. Sie entdeckt das Empfangskomitee und kehrt gleich wieder um. Eine Zeitungsredakteurin außer Dienst huscht mit verstörtem Blick vorbei. Weder sie noch ihre Leser erfahren, wie überflüssig das Polizeiaufgebot wieder einmal war.

Auf dem virtuellen Marktplatz des Internet hat sich die NPD früher als ihre Partei-Konkurrenten breit gemacht, und die Straßen hat sich für sich allein. Als einzige Partei wirbt sie auch außerhalb der Wahlkampfzeiten für sich. Sie besetzt die Niederungen der politischen Kultur, bei Regen in der Gosse unter einem Schirm gekauert, wie die Höhen: die größten politischen Manifestationen der jüngsten Stadtgeschichte waren ein Kanzlerbesuch, eine Demonstration für den Erhalt des Atomkraftwerks – und ein Neonazi-Aufmarsch. Die NPD wäre eine Partei zum Anfassen, wäre sie nicht unberührbar. Bei ihren Auftritten steht immer die Polizei dazwischen. Für den gewöhnlichen Bürger sind die Braunen vornehmlich ein Gerücht.

Bei einem weiteren Mal, als die Partei mit Polizeischweif auf der Straße erscheint und verschwindet, zählt ein Staatsschützer auf, mit wem er sich über die braunen Verhältnisse vor der Haustür auf Augenhöhe auszutauschen könne, auf der Basis von Wissen statt Legenden und Vorurteilen: sein Fachkollege; der Anführer des gegenwärtigen Trupps und sein Adjutant, wie unaufrichtig sie dabei auch wären; einer von der Antifa; der Oberstaatsanwalt.

Ein exklusiver Kreis. Kein Vertreter der Medien, kein Politiker, der sich auf die Informationen der Presse verlässt, kein Verwaltungsbeamter oder Richter, und keiner von denen, die regelmäßig Protest gegen Rechts anmelden. Einfaches Ausschlusskriterium: mit wem der Staatsschützer nicht redet, kann nicht wirklich im Bilde sein.

Mit nachgeplapperten Weisheiten werden auch andere Debatten bestritten; Erörterungen über Neonazismus bestehen fast ausschließlich aus wohlfeilen Meinungen bar jeder Sachkenntnis. Die Kluft zwischen dem Mangel an Expertise und dem anfallartig aufbrandenden Geschrei könnte nicht größer sein. »Der Rechtsextremismus war immer im wahrsten Sinne des Wortes etwas in der öffentlichen Aufmerksamkeit ›Randständiges‹«, vermerkte einer, der ihm sein Berufsleben als Politologe gewidmet hat.

Abseits des Mainstreams aus Phrasen und Floskeln würden Journalisten und Wissenschaftler zwar Beobachtungen machen und Betrachtungen anstellen. »Das von diesen produzierte Wissen blieb aber weitgehend den Spezialisten vorbehalten; und mehr als vielleicht zwei Dutzend sind es zusammen in beiden Bereichen nie gewesen.«

Dieser Befund von 1994 wurde 2012 wiederholt und begründet: »Es gibt nicht viele Journalisten, die das Wagnis auf sich nehmen, Informationen aus dem Inneren der gewaltbereiten Neonazi-Szene zu sammeln […] Recherchen am rechten Rand sind mühsam, langwierig und werden von Redaktionen, wenn nicht Spektakuläres zutage kommt, selten belohnt.«

Neonazis sind NN, eine unbekannte Größe. Das kriminologische Dunkelfeld reicht weit über Morde und Attentate, über die Chronik des »Terrors von rechts« hinaus. Es betrifft nicht nur jeden einzelnen Punkt der Kriminalstatistik. Niemand kann eine vernünftige Schätzung abgeben über die Delikte oder gar Mutmaßungen anstellen über Zusammenhänge, die den Behörden entgehen und nirgends verzeichnet sind.

Politische und kulturelle Triebe des Gewächses gedeihen gänzlich im Zwielicht. Sie entziehen sich vorsätzlich der Beobachtung und werden noch weniger zur Kenntnis genommen als die unübersehbarsten der Verbrechen. Die schärfste Waffe der Neonazis ist die Ignoranz der anderen.

Polizei und Justiz, Politik und Medien verharmlosen und verschleiern, verleugnen und verschweigen den braunen Bodensatz seit jeher. Man will sich den Dreck unter dem Teppich nicht ansehen. Die Ausblendung betrifft nicht nur einzelne Züge des Phänomens, indem Klischees das Bild bestimmen.

Ist es unabwendbar, davon zu reden wie anlässlich der Entdeckung des NSU, wird außer Empörung auch Überraschung zelebriert. Huch, wo kommen die denn plötzlich her? Terror im Namen des Nationalsozialismus – wie kann das denn sein! Kurz wird die Teppichecke gehoben und gleich wieder fallen gelassen.

Unscharf und flüchtig ist, worauf die jeweiligen Debattenstürme sich beziehen. Neonazis springen wie Kastenteufel hervor. Und sie sind »nicht von hier«, sondern eigens für einen Aufmarsch angereist. Oder es gibt sie überhaupt nur in Ostdeutschland, in winzigen Dörfern, wo nie jemand hinkommt, der nicht dort wohnt.

Gelegentlich wird hingeschaut, wenn ein Todesfall es in die überregionalen Schlagzeilen schafft. In den Zwischenzeiten kann man sich vormachen, es gäbe es nichts zu beachten: »kurze konvulsivische Zuckungen der politischen Kultur, dann wieder Vergessen der ganzen Problematik bis zum nächsten Vorfall«.

Diese Diagnose von 1994 wurde 13 Jahre später wiederholt: »Öffentlich diskutiert [werden] in periodischen Wellen Wahlerfolge der rechtsextremen NPD, oft genug verharmlost als bloßer Ausdruck von Protest. Eine genaue Berichterstattung erfolgt in konjunkturellen Schüben, ausgerichtet an Sensationen.«

Oder noch deutlicher: »Über Rechtsextremismus wird in Deutschland entweder hysterisch oder gar nicht geredet.« Übertreibung ist eine Variante der Verdrängung: »Die Verharmloser meinen, man könnte die Gefahr herbeireden. Die Übertreiber sagen, man könne die Gefahr herbeischweigen.«

Das Unheil wird in düstersten Farben an die Wand gemalt, das Verbot der NPD zur Frage der nationalen Sicherheit – umso beruhigter kann man sein, wenn das Zeichen an der Wand, wo der Flachbildschirm hängt, ein Menetekel bleibt. Die Ausblendung wird nicht bewusst vorgenommen und selbst nicht wahrgenommen. Wer sollte auch darauf hinweisen, wie schief das Bild hängt? Die es sehen, haben es selbst gemalt und an die Wand genagelt: Polizisten und Politiker ebenso wie Wissenschaftler und Publizisten.

Diskriminierung ist die politische Nährlösung des Nationalsozialismus. Er vergöttert den Kampf und lebt im Widerstreit auf: gegen Ausländer, Linke, Gewerkschafter, Journalisten, Homosexuelle, Behinderte, Obdachlose, Zigeuner, Russlanddeutsche und unbedingt Juden. Neonazis selbst werden geächtet, gelten als unberührbar, sind die Ausgegrenzten schlechthin, die einzige gesellschaftliche Gruppe, die keinesfalls integriert werden darf. Wahrzunehmen, was in Bausch und Bogen verdammt wird, erscheint unnötig. Größtmögliche Distanz ist vielmehr geboten, und aus ihrer Beteuerung besteht oftmals die ganze Rede.

Wie um die Abscheu und den Ächtungswillen möglichst groß erscheinen zu lassen, werden Neonazis als Nazis verschrien. Neonazis beziehen sich zustimmend auf die Nazis, aber sie sind nicht ihre Ahnen. Was immer sie Widerwärtiges anstellen, verniedlicht es die Taten ihrer Vorgänger, die Staatsverbrechen, den industriellen Massenmord, wenn die Bewunderer von Hitler und Himmler mit diesen gleichgesetzt werden.

Neonazis als Nazis zu identifizieren reagiert auch auf die Epochenschwelle. Die letzten Nazis sterben, ihre Anschauungen scheinen endgültig Geschichte zu werden – gäbe es die Nachfolger nicht, denen die Last der Vergangenheit nun ganz allein aufgebürdet wird. Die Haltungen, die das Dritte Reich hervorgebracht und bestimmt haben, sind nicht mit ihm untergegangen oder verkümmern in der braunen Nische.

Als »traditionelle deutsche Werte« gelten »harte Arbeit, strenge Disziplin, Genügsamkeit, Recht und Ordnung in der Familie wie auch am Arbeitsplatz und nicht zuletzt Respekt vor dem Regime« – gemäß dem »Umerziehungsprogramm« der ersten Konzentrationslager. Ein aktueller Kanon von Sekundärtugenden.

Ohnedies fordern Schmähungen Neonazis nur heraus und bestätigen sie. Aus der Abweichung ins Ungeheuerliche beziehen sie ein heroisches Selbstbewusstsein. Sie erwarten als »Pest« bezeichnet und behandelt zu werden. »Man sah sich niemals als Täter«, blickte ein »Aussteiger« zurück, »sondern nur als Opfer einer Gesellschaft, die sich gegen einen verschworen hat, und deren verlogener Politik. War es gerecht, wenn national gesinnte Bürger angespuckt, beleidigt oder gedemütigt wurden? Natürlich nicht. Ich fühlte mich als Deutschnationaler permanent in meiner Würde verletzt und meiner Ehre gekränkt. War das der Sinn des Grundgesetzes? Was für ein Widerspruch, Heuchelei, Hohn! Da kam einem der Hass hoch. Das ist in den Milieu noch heute so.«

Der Neonazi trägt seine Ächtung wie einen Orden. In einem für seine Komplizenschaft von Regisseur und Hauptdarsteller berüchtigten »Dokumentarfilm«, Beruf Neonazi von 1993, deklamierte Ewald Althans, der im Angesicht eines Krematoriums die Shoah leugnete: »Ich trage heute einen Judenstern in der Form eines Hakenkreuzes. Ich bin heute der, der für die Unfähigkeit anderer büßen muss als Sündenbock.«

Ein Jahrzehnt später beschwor in Stade ein Flugblatt unter dem Titel »Vorsicht, Menschenjagd!« die »Pogromhetze gegen Andersdenkende« und den »subtilen Terror« gegen »Nationaldemokraten«: »Wie weit ist es dann noch bis zur ›Schutzhaft für Nazis‹? Und zum Zertrümmern der Fensterscheiben von ›Nazis‹ in einer Bundeskristallnacht?«

Neonazismus bezeichnet die Braune Bewegung besser als »Rechtsextremismus« oder »Rechtsradikalismus«, indem es an ihren Ursprung erinnert. Kein Rechtsextremismus in Deutschland ist ohne Bezug zum Nationalsozialismus vorgekommen oder vorstellbar. Rechtsextreme in anderen Ländern mögen andere Quellen haben und andere Verknüpfungen herstellen; in Deutschland steht noch jeder »Rechtspopulist« in der Nazi-Tradition, ob er will oder nicht.

»Unter den Staaten der Welt liegen auf keiner Nationalgeschichte die Schatten des politischen Extremismus dunkler als auf der deutschen.« Der Verweis auf andere Staaten, in denen der Rechtsextremismus auf parlamentarischer Ebene erfolgreicher ist, entlarvt nur den, der ihn anbringt. Von dort aus verweist man zu Recht zurück nach Deutschland als ultimatives Vorbild.

Angesichts der besonderen strafrechtlichen Restriktionen bis hin zum Verbot von ›Mein Kampf‹ wiegt jeder Wahlerfolg einer rechten Partei hierzulande doppelt. Jeder Anschlag auf Ausländer, jede Schändung eines jüdischen Grabes zeigt einen Abgrund auf, der eine tiefere Grube ist als in Italien, Frankreich oder den USA. Als Idee lag Auschwitz nie in Polen.

Quellen und Literatur

W. Gessenharter: Kippt die Republik?, München 1994 | Spiegel 41/2012 | M. Kraske / C. Werner: … und morgen das ganze Land, Freiburg/Br. 2007 | T. Staud: Moderne Nazis, Köln 2005 | B. Morshäuser: Hauptsache Deutsch, Frankfurt/M. 1992 | Interview M. Bauer, Thalia-Magazin Okt. 2012 | T. Segev: Die Soldaten des Bösen, Reinbek 1992 | H.-D. König (Hg.): Sozialpsychologie des Rechtsextremismus, Frankfurt/M. 1998 | Flugblatt NPD Stade, verteilt am 4.10.2004 zu einem Vortrag (»Irgendwann werden Ruprecht und Konsorten sich jedoch wünschen, nationalistische Jugendliche würden nur Musik machen!« Zitat nach Landser: »Eines Tages werden sie sich wünschen, wir würden nur Musik machen«) | S. Kailitz: Politischer Extremismus in der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2004

TEIL 2

ÜBERSICHT Braune Bande. Neonazismus in Niederdeutschland