Und allzu viele tun verwundert, wo der herkommt
Ein ausgezeichnetes Feature des Deutschlandfunk vom März 2018, das mir dieser Tage, nach dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, als Link auf facebook angezeigt wird, zitiert den Politologen Gideon Botsch: »Also, ich fordere das ganz deutlich von der Zeitgeschichtsforschung, dass sie den Rechtsextremismus als eigenen politischen Akteur in die Nachkriegs-Geschichtsschreibung integriert und aufhört, davon auszugehen, das sind ein paar Ewiggestrige, die vernachlässigenswert sind. Nein, der Rechtsextremismus ist ein begleitender Faktor, der sich durch die Geschichte der Bundesrepublik durchzieht, mal laut, mal weniger laut und in dessen möglichen Handlungen auch immer wieder proto-terroristische oder terroristische Gewalt aufzufinden ist.«
Rechtsterrorismus, oder wie es genauer heißen müsste: Terror durch Neonazis, ist im Juni 2019 wie zuletzt 2011/12 in aller Munde. Die damaligen Enthüllungen über den Nationalsozialistischen Untergrund haben den Aufstieg der Alternative für Deutschland nicht behindert. Als heute die Bemühungen dieser Partei, Hass und Gewalt zu säen, mit blutigen Früchten in Verbindung gebracht werden können, sind wieder einmal alle »Anständigen« dagegen und rechtschaffen empört. Aber wogegen genau sind sie eigentlich, wenn nur eine Handvoll Journalisten und kein Historiker sie über den Terrorismus im Namen von Nation und Volksgemeinschaft aufgeklärt hat?
Eben. Man wollte und will es nicht genau wissen und schon gar keine Kontinuität der Anschauungen bis in die Mitte der Gesellschaft erkennen. Neonazis heißen unverändert Rechtsextremisten und Rechtsradikale, damit so getan werden kann, als hätten sie nichts mit der eigenen Erinnerungs- und Gedenkkultur zu tun. (→ Gezerre um Gedenken (2) / → Vogelschiss in Stade)
Meine Studien dazu, in denen ich etwas von dem umsetze, was Gideon Botsch fordert, haben keinen Verlag gefunden. (Immerhin habe ich sie auf diesem Blog verfügbar machen können: → Braune Bande.) Vielmehr haben die Repräsentanten der Bürgerschaft in der Stadt, von der aus ich meine Nachforschungen unternahm, versucht, mich als Extremisten und des geistigen Terrors Verdächtigen zu kriminalisieren. Dabei behilflich waren solche, die sich gern für Kameras als »Antifaschisten« ausgeben und die unbescholtene Bürgerschaft unterstützen, die Verbindungen von Geschichte und Gegenwart zu verdrängen. (→ Neonazis aus dem Schatten)
Ich muss mir das aktuelle Geschwätz umso weniger anhören, als ich weiß, dass die Empörung rasch wieder vergehen wird und von jenen, die sie am lautesten äußern, nicht mehr Einsicht zu erwarten ist wie von denen, gegen die sie sich zu wenden vorgeben, ohne sie zu kennen.
Bestenfalls kennen sie die Gestalten, gegen die sie mit »Aktionen« wie »Kaffeetrinken« und »Radeln gegen Rechts« antreten, aus den paar Sätzen und verpixelten Fotos, die ihnen die Massenmedien dazu anbieten. Sie wissen so wenig und haben die letzten Male so flüchtig zugehört, dass ihnen 2019 das Terror-Konzept erklärt werden muss, nach dem der NSU 20 Jahre zuvor zu operieren begann. (Wobei die Praktikanten im Rundfunk Combat 18 als »Combat achtzehn« aussprechen, um die Zuhörerschaft nicht zu überfordern. [Zu C18 siehe → Die NS-Oberfläche (3)])
Eines wäre, wenn der Tatverdacht sich bestätigt, neu: auf der Opfer-Liste des Neonazismus stünden dann nicht nur Ausländer, Linke, Gewerkschafter, Journalisten, Homosexuelle, Behinderte, Obdachlose, Zigeuner, Russlanddeutsche, die eigenen Kamerad*innen, Juden sowie beliebige Bürger (wie beim Terrorakt mit der höchsten Opferzahl seit 1945, dem Oktoberfestattentat), deren Namen vergessen sind und allenfalls ihres Todes wegen erinnert werden, sondern ein bereits medial präsenter ranghoher CDU-Politiker.
Die Biografie des mutmaßlichen Täters kann als typisch gelten. In das Netzwerk verstrickt wurde er während der Gewaltwelle von 1991 bis 1993, kam zur NPD und schließlich zu Blood&Honour. Für Behörden und Publizistik, die sich auf Neonazis als Jugendliche und junge Männer konzentrieren, geriet er aus dem Blick. Wie unlängst einer, der im selben Jahr 1992 wie der für den Lübcke-Mord Verdächtige erstmals als Straftäter auf sich aufmerksam machte. Weil bei seinem Attentat kein Blut floss, blieb man wie gehabt ungestört darin, seine politischen Verbindungen und Motive zu leugnen. (→ Natürlich kein Neonazi)
Ich nehme keine Wette an, dass ich diesen Post recyclen kann, nachdem die Aufregung sich gelegt hat, nach allerhand Demonstrationen ins Leere und Betroffenheitskolummnen. Bis es das nächste Mal heißt: Die Erben der Ahnen sind unter uns! Wo kommen die denn plötzlich her? (→ Die NS-Oberfläche (1))
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Ein Online-Magazin, das Pseudo-Journalismus betreibt, indem es die Nachrichten echter Medien aus dem Internet zusammenklaubt und kommentierend zurichtet, beschließt seinen »Bericht« über den mutmaßlichen Mörder: »›Genau der gewünschte Idealtäter‹ höre ich einen Kollegen bereits stöhnen.«
Der Kreisverband Stade der AfD verlinkt diese Vorlage für eine Verschwörungstheorie, und die Konsumenten stricken in Kommentaren mit: »Im Zweifel für den Angeklagten.« – »So wird es uns erzählt« – »Da wird jetzt so ein Theater gemacht, warum sollte man so ein[en] unwichtigen Politiker ermorden? Am Ende kommt doch was ganz anderes dabei raus, wie auch bei den Hetzjagden in Chemnitz! Aber erstmal waren es wieder Rechte, wann kümmert man sich um linke Gewalt?«
Der letzte Satz war Usus, lange bevor jemand daran dachte, dass es die AfD geben könnte: eine standardisierte Redefigur der CDU. Wenn Neonazis jemand umbrachten, wurde nach links verwiesen, so wie jetzt nicht zum ersten Mal von einer »braunen RAF« geschwafelt wird. Die Mörder der 1970er Jahre reklamierten zwar ebenso wie Neonazis für sich, die wahren Interessen des Volks zu vertreten, aber sie standen mit ihren Anschauungen am Rande der Gesellschaft und nicht in der Mitte, wie CDU und AfD, die mit dem Verweis auf Links nur von der eigenen Verstrickung in rechte Denkmuster, ihre geistige Mittäterschaft ablenken wollen.
»Linke Gewalt« ist eine Politfantasie, die nicht von Gauland oder Höcke erfunden, sondern lediglich erfolgreicher ausgebeutet wurde als von ihren Urhebern. (→ Die Antifa-Verschwörung)
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Auf die Abwiegelung von Rechts mit Links setzt auch Erika Steinbach, die im Februar 2019 mit einem Post über Äußerungen Walter Lübckes zur Migrationspolitik von 2015 zu dessen Markierung als potenzielles Ziel beigetragen hatte. Im Deutschlandfunk erklärte sie: »Ich habe sehr deutlich den Mord an Herrn Lübcke verurteilt und habe auch deutlich gemacht, dass es weder Rechts- noch Linksextremen gestattet sein darf, sich derartig hier im Lande zu verhalten.« Und sie trägt faule Ausreden vor, warum sie mörderische Kommentare unter ihrem Post nicht löschen konnte.
Etwas in die Welt setzen, aber sich dann nicht darum kümmern, was daraus wird: sollte so jemand sich nicht für jede politische Tätigkeit disqualifizieren? Nicht in den Augen der AfD-Wähler. Die fahren geradezu ab auf die Niedertracht, die ihnen das Spitzenpersonal der Partei täglich vormacht. Endlich wird in den Massenmedien so geredet wie sie selbst es seit je getan haben. Nachher tun die Führer so, als seien sie missverstanden worden, aber die Angehörigen ihrer »Volksgemeinschaft« haben ihre Ansagen vollkommen richtig aufgefasst.
Und manchem sind der Worte genug gewechselt, und er (Gewalttäter sind in der weit überwiegenden Mehrzahl Männer) will Taten sehen.
Die »Toleranz gegen Rechts«, zu der ein Ex-Bundespräsident gerade jetzt meint aufzurufen zu müssen, hat Tradition und ist in den Regularien der Sicherheitsbehörden fest verankert. »Antifa – neun Millimeter« und »Antifaschisten, Terroristen« skandierten beispielsweise Neonazis 2005 in Hamburg-Harburg, und die Polizei ließ es geschehen. Sie schritt hingegen ein, als zufällige Passanten »Haut ab! Ihr habt doch kein Gehirn« riefen und forderten die Personalien, weil der Veranstalter der Demonstration Anzeige wegen Beleidigung erstattet hatte. (→ Braune Biografien)
Die Ordnungshüter sind auf dem rechten Auge so wenig blind wie Erika Steinbach keine Zeit hatte, Mordaufrufe von ihrem Account zu tilgen. Gerade jetzt werden die Neonazi-Netzwerke in der Bundeswehr und den militärischen Sektionen der Polizei skandalisiert. Und auch dabei wird geheuchelt, man würde neue Erkenntnisse verbreiten. Das »Haltungsproblem«, das die Verteidigungsministerin neuerdings bei der Bundeswehr erkannte, besteht seit je. Der prominenteste Neonazi bis Anfang der 1990er, Michael Kühnen, war Offizier; der verurteilte Rechtsterrorist Manfred Roeder hielt einen Vortrag an der Führungsakademie, während er eigentlich noch in Haft hätte sein sollen, aber in den Genuss einer vorzeitigen Entlassung gekommen war; jener Roeder, zu dem das NSU-Trio eine besondere Beziehung zu haben schien (belegt ist, dass sie einen seiner Prozesse besuchten), usw. usf.
Solange die Medien ihre eigenen blinden Flecke leugnen, ist nicht zu erwarten, dass in den Sozialen Medien Realismus einkehrt. Jeden der Posts mit Links zu Massenmedien, der mir dieser Tage auf facebook angezeigt wird, müsste ich mit »So what?« kommentieren. Die großspurige Anzeige vermeintlicher Neuigkeiten in den Medien erleichtert es nebenbei, der AfD-Klientel dazu eine Verschwörungstheorie zu basteln: plötzlich werden allenthalben Netzwerke entdeckt, von denen man nie zuvor gehört hatte; sind die nicht erfunden und aufgebauscht?
Der Worte sind genug gewechselt. Wo bleiben die Taten? Als ihre Partei in einem YouTube-Video kritisiert wurde, hatte es die derzeitige CDU-Vorsitzende eilig, neue Regeln für das Internet zu fordern. Wie wäre es damit, die alten einzuhalten? Und Leute wie Erika Steinbach für das zur Verantwortung zu ziehen, was sie in die Welt setzen? Die Begünstigung von Straftaten ist selbst ein Straftatbestand. Solange die Weidels, Gaulands und Höckes ungehindert hetzen, ist nicht zu erwarten, dass ihr Fußvolk sich in Zurückhaltung übt.
Als sie selbst zur Zielscheibe wurde, kündigte die Polizei an, gegen die Kommentare auf facebook massiv vorzugehen. (→ Das »Prügel-Video« von Stade) Geschehen ist offenbar nichts. Als hätte die Polizei nicht genug zu tun, ohne jeder verbalen Entgleisung nachzulaufen. Als wäre es nicht ebenso verfehlt wie längst zu spät, gegen die Verrohung der Sprache mit dem Strafrecht vorzugehen.
Dass die Gesellschaft von ihrer Mitte aus den Neonazismus als AfD in den Bundestag gebracht hat – das immerhin anzuerkennen, würde erst die Sicht darauf eröffnen, welche Taten angezeigt sind, um den Mordworten zu entgegnen.
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Schäbig, erbärmlich, kümmerlich … was dieser Tage allenthalben kommuniziert wird. Von den Verstrickungen der Sicherheitsbehörden in die militante Neonazi-Szene, die zum Teil vom Verfassungsschutz bezahlt wird, wusste man nicht erst seit der Selbstentlarvung des NSU. Unternommen wurde selbstverständlich nichts. Lief alles weiter wie gehabt. Bis zum nächsten Mord.
Jetzt wird diese Debatte erneut geführt (und bald ergebnislos abgebrochen werden), als hätte es den NSU nie gegeben (von allem, was davor war, ganz zu schweigen). Und wieder dient das Gerede über das vermeintliche Versagen des Verfassungsschutzes (dessen jüngster Ex-Präsident sich als AfD-Anhänger profiliert) vor allem dazu, der Mitte der Gesellschaft die Fragen zu ersparen, die sie partout nicht beantworten will und soll. Dieselben braven Bürger, die sich über den VS und sonstwen anders als verantwortlich erregen, haben in ihren eigenen warmen Nestern jene braune Brut gehegt und gepflegt, gegen die sie dann, wenn die Eierschalen abgefallen sind, mit Lichterkerzen und dergleichen Symbolismen anzutreten vorscheinen.
Statt die Schuld bei anderen zu suchen, wäre Selbstreflexion angesagt. Deutschland schafft sich ab: Diese Parole der Neo-Nationalisten hat ein Sozialdemokrat geprägt. Eben lässt sich ein CDU-Grande aus Ostdeutschland damit zitieren, er wolle Nationalismus und Sozialismus verbinden. SPD, CDU, FDP sowieso … und auch die Grünen haben ihre braunen Wurzeln. Die Nazis waren und sind überall.
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Plötzlich werden Einzelheiten übergroß herausgestellt, die Kennern seit Jahrzehnten geläufig sind. Zusammenhänge werden weiterhin ignoriert.
Eine Online-Todesliste von 2011 (Nürnberg 2.0 Deutschland) macht plötzlich Skandal. So what? Neu ist nur, dass Walter Lübcke darauf steht, und es ihn wirklich erwischt hat.
Die Genannten sind so ausschließlich Internet-Prominente, dass die Ersteller nicht in den Verdacht kommen können, selbst sonderliche Sachkenntnis über die braunen Netzwerke zu haben, sondern nur irgendwie dazu gehören. Unter den als »Journalisten«, »Autoren« und »Extremisten« ins Visier Gestellten ist kein Name, der denen zuerst einfiele, die sich auskennen, falls sie eine Liste zu erstellen hätten.
Zum Abschuss freigegeben werden unter anderem TV-Moderatoren, die sich gegen die AfD ausgesprochen haben, aber sonst nichts zur Aufklärung über Neonazismus beigetragen haben. Wenn sie eine Morddrohung erhalten, wird damit PR gemacht, und ein vorübergehender Polizeischutz ist selbstverständlich. Und wann reden wir über die, die bereits buchstäblich von Neonazis eins auf die Fresse gekriegt haben?
Jene, die nicht auf Polizeischutz rechnen dürfen, wenn sie Morddrohungen erhalten. Die manchmal auch etwas von der Polizei abgekriegt haben, so oder anders. Von jener Polizei, nebenbei, von der so überraschend wie die Neonazis aus dem Busch gesprungen sein sollen, ruchbar wird, dass ausgerechnet in ihren Reihen Ordnungsfanatiker sich sammeln, die es gern hätten, wenn ihre militante Sicht der Welt diese regieren würde.
Erst wurde Friedrich Merz gescholten, weil er thematisierte, was spätestens seit dem signifikant hohen Anteil an Polizisten und Juristen unter den AfD-Bundestagsabgeordneten offenbar war: die Nähe von Sicherheitskräften zur Law-and-Order-Partei, die allenthalben Kriminalitätsgespenster sieht, und dabei dank Internet mit Erfolg verheerender ist als die CDU es je vermochte hatte. »Da ist bei vielen Beamten etwas in Schieflage geraten, was sich in Sympathien für das rechtsnationale Parteienspektrum ausdrückt«, bestätigt nun der stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei Merzens Ansage, die ihrer Verspätung nach umso weniger Aufregung hätte verursachen dürfen.
Tag für Tag Neuigkeiten, die keine sind, und deren einziger Sinn darin besteht, die Verdrängung zu vertuschen, in der sich die Gesellschaft seit 1945 gegenüber dem Fortleben des Nationalsozialismus in der Mitte der Gesellschaft, unter den Eliten wie unter den Abgehängten, geübt hat. Hitler hat, entgegen der Legenden, denen ich nach wie vor alltäglich begegne, nicht überlebt, sein Geist schon. Und er ist auch dort virulent (hier wird es kritisch, denn wozu sonst wäre die Verdrängung gut?), wo der Spuk ausgetrieben scheint.
Würde ich fortfahren und was mir einfiele, auf facebook posten, wäre der Shitstorm vorprogrammiert, und höchstwahrscheinlich erhielte ich Drohungen von Leuten, die Drohungen von anderen auf das Schärfste verurteilen.
Kratzt nur weiter an der Oberfläche. Falls ihr euch je dem Kern nähert bei dem, was als öffentlicher Diskurs zelebriert wird, werde ich euch erwartet haben; sofern ich darüber nicht gestorben bin, weil ihr dieses dicke Brett wie gehabt nur zaghaft anbohrt.
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