Nationalsozialismus in Stade ist kein Problem des Andenkens
Zur Erinnerung: es geht um die Erinnerung an etwas, dessen Tatsächlichkeit von einer wachsenden Zahl gewöhnlicher Bürger ganz oder teilweise in Zweifel gezogen wird: die Geschehnisse in Deutschland und Europa zwischen 1933 und 1945.
Gestern saß ich in der Holzstraße mit jemand aus bürgerlich besseren Kreisen als meinen, der mir einen Internet-Mythos über den Nationalsozialismus aufschwatzen wollte.
Solche Leute, ich meine die Legendengläubigen, werden leicht ungehalten, wenn man nach den Quellen für ihre Behauptungen fragt. Sie können selten auch nur eine gehörig, nämlich überprüfbar, benennen. Sie haben etwas aufgeschnappt, das zu einem ihrer Vorurteile passt, und sind nicht interessiert, wer das Betreffende zu welchem Behuf in die Welt gesetzt hat. Von Quellenkritik haben die Gläubigen selbstverständlich keinen Begriff.
Ebenfalls gestern wurde ein Jungspund von der niedersächsischen Alternative für Deutschland zurück getreten, weil er den allerdings ad nauseam als uneingeschränktes Vorbild bejubelten Graf von und zu Stauffenberg in Neonazi-Manier einen »Verräter« genannt hatte.
Gestern entnahm ich außerdem dem Wochenblatt, dass das politische Stade weiter um die Form des Gedenkens an die Toten zankt, die von den oben Genannten für ihre politischen Verschwörungstheorien auf die eine oder andere Weise missbraucht werden.
Das Gezeter geht in die nächste Runde mit einer Sitzung des Kulturausschusses des Magistrats, die am 29. August 2018 oder vielleicht auch nicht oder mit geänderter Tagesordnung stattfinden wird.
Zur Debatte soll bis spätestens 8. Mai 2020 stehen, wie mit den neu entdeckten Namen von Opfern des NS-Regimes umgegangen werden soll: ob sie in einem verschließbaren Buch verzeichnet werden oder öffentlich auf weiteren Gedenkstelen neben einer bereits zwischen Wilhadi-Kirche und Gericht vorhandenen. (→ Gezerre um Gedenken.)
Vor 2020 wird es wohl nichts mit den Totenfeierlichkeiten. Es hat sich herausgestellt, dass die vor ein paar Monaten präsentierte Liste weiterer Opfer revisionsbedürftig ist. Somit können die Verantwortlichen noch ein Weilchen streiten, während der Bürger auf der Bank neben mir im Internet neue Geschichten aufliest, die ihm erlauben, sich ein Fortleben des Nationalsozialismus zu imaginieren.
Er sprach dann noch von »Umvolkung« und den »Invasoren«. Ich glaube, er glaubte mir nicht, als ich eine seiner Theorien mit einem Gespräch zu widerlegen versuchte, das ich keine halbe Stunde zuvor mit einem der »Invasoren« hatte. In seiner Welt können solche wie er selbst und der, für den er mich hielt, keinen vertrauten Umgang mit den »Invasoren« haben.
Er sprach ohne Vorbehalt mit mir, weil ich wie ein »Arier« aussehe und mutmaßlich über den passenden Stammbaum verfüge. Keine Frage für ihn, dass »wir« Bio-Deutschen zusammenhalten müssen.
Mit was für seltsamen Leuten ich umgehe? In der Gesellschaft, die ihm vorschwebt und längst nicht nur von AfD– oder NPD-Wählern geteilt wird, bin allein ich der Sonderbare. Mein Banknachbar ist die Norm, sozial wie nach deutschem Blutreinheitsgebot. Ich kenne meine Ahnentafel bis 1750 nicht; mögen Juden oder Zigeuner dabei sein.
Das Gezerre um das Gedenken könnte meinen Nachbarn nur bestätigen, dass die offizielle Geschichtsschreibung eine für die »Invasion« brauchbare Legende ist. Nicht, dass er im Einzelnen wüsste, was die Historiografie des Hanselstädtchens enthält. Ich würde mich freilich auch hüten, ihm gegenüber auf das zu pochen, was mit Lizenz des Magistrats gedruckt worden ist – weil Legendendichter mitgeschrieben haben.
Wer um den Nachhall des Vergangenen weiß und des Ein- wie Andenkens willig ist, braucht weder Totenbuch noch -tafeln. Allen anderen muss man immer wieder von vorn und im Kleinen vorbuchstabieren, worum es geht. Von der Geschichte des Nationalsozialismus in der Gegenwart lenkt die Mahnmal-Kontroverse in Stade ab und setzt ein fatales Zeichen.
16. August 2018
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28. August 2018
Wie sich die Bilder gleichen. Zwei Wochen nach der Wochenzeitung nimmt sich die Tageszeitung des Themas an: »Mit einem brisanten Thema steigen Politik und Verwaltung nach der Sommerpause in ihre Arbeit ein. Dabei geht es um das Gedenken an die Opfer der NS-Gewaltherrschaft. Und um die Rolle von Bürgermeisterin Silvia Nieber, die in dieser Sache hart kritisiert wurde.«
Mehr nur für Abonnenten und sonstige Käufer. Ich habe also keine Ahnung, wer womit die Bürgermeisterin kritisiert – aber ich weiß, dass der CDU keinerlei Kritik in dieser ganzen Angelegenheit zusteht. Bevor sie sich nicht zu ihrer Verehrung für und Kumpanei mit NS-Verbrechern wie Gustav Wolters und Alfred L. (siehe → hier und → hier) erklären, haben die Stader Christdemokraten beim Thema »Gedenken an die Opfer der NS-Gewaltherrschaft« den Mund zu halten.
4. September
Inzwischen habe ich aufgeschnappt, dass die CDU es wahrhaftig wagt, das Wort zu ergreifen: mit Tagesordnungskritik an der Bürgermeisterin. Schäbiger geht’s nimmer bei diesem Sujet.
Thema des Tages in der Republik (ja, noch ist D das) ist Neonazismus. Die »aufrechten Demokraten«, von denen es plötzlich überall wimmelt (…), setzen Zeichen über Zeichen gegen »Nazis« (…). (Siehe hier und da auf diesem Blog, vor allem unter → Braune Bande.)
Wie oben geunkt und in Chemnitz demonstriert, ist Nationalsozialismus kein Problem des Gedenkens. Statt sich im Hinterzimmer um dessen Form zu streiten (die Zeitungen bieten keine Informationen an über die Sitzung des Kulturausschusses am 29. August), könnte man die historische Gelegenheit nutzen, den Tagesordnungspunkt nicht nur schleunigst abhaken, sondern ein Zeichen zu setzen, indem das Andenken mit der Gegenwart verknüpft wird.
Ich könnte mir einiges vorstellen, das ich ebenso gut für mich behalten kann. Die Verantwortlichen in Stade (wie anderswo), und nicht nur sie, nehmen den Nationalsozialismus als abgeschlossen an und betrachten ihn wie ein Museumsexponat in der Vitrine.
Wenn Gedenken mehr sein soll als pflichtschuldiges Ritual ohne innere Beteiligung – ganz konzentriert auf die Tagesordnungsdebatte –, muss es den Anschluss an die Gegenwart geradezu suchen und sich darum bemühen, zu echter Erinnerung an, nämlich zur Verinnerlichung der Geschichte beizutragen. Dabei könnten einige Herr(!)schaften, zumal in der CDU, in einen Spiegel sehen müssen.
Doch irgendetwas mit Haltung ist in Stade nicht zu erwarten. Das Hanselstädtchen muss schließlich auf die Gefühle der Touristen Rücksicht nehmen. Und da die Busse vor allem aus Ostdeutschland kommen, ist es wirtschaftlich, sich nicht als freiheitlich-demokratisch zu profilieren.
Im Gegenteil könnte man … Ich höre besser auf, bevor alle Pixel braun werden.
5. September
Na geht doch. Der Museumsverwaltung ist Genüge getan.
Nach »einheitlichen« Beschluss des Kulturausschusses, berichtet das Wochenblatt, wird es geben, was als Alternative debattiert wurde: eine zweite Stele aus Stein mit den neuen Namen neben der ersten und ein Totenbuch samt Website.
Wie es sich mit der Erinnerung als Verinnerlichung verhält – darum mögen andere sich kümmern. Wer soll das bloß sein?
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Siehe weiter unter → Gedenken statt Erinnerung
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