Gegenwärtige Erinnerungskultur in Stade

Schon wieder? Hört das nie auf? „Das hört nie auf.“ (G. Grass, Im Krebsgang) Beim Gedenkgeeier in der „Hansestadt“ Stade ist eine neue Runde eröffnet worden.

Zur Erinnerung: Unter den vergleichbaren niedersächsischen Kommunen war die Stadt 1991 eines der Schlusslichter bei der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte. Fünf Jahre zog sich der Streit um die 2001 aufgestellten Stelen zur Mahnung an die Opfer der Shoah hin (siehe meinen Zwischenbericht im Hamburger Abendblatt). Am liebsten hätte die politische Klasse gar nichts getan. Laut und deutlich wurde das natürlich nicht gesagt; nur hinter vorgehaltener Hand hörte man Schlussstrich-Sprüche, wie sie damals von der NPD geklopft wurden und heute zum Repertoire der AfD gehören.

Errichtung der Stelen am Sande (Foto: urian)
Errichtung der Stelen am Sande

Von den Vorwänden und faulen Ausreden, mit denen die Herrichtung des verwüsteten jüdischen Friedhofs vereitelt werden sollte, erfuhr die Öffentlichkeit schon gar nichts. Ein Artikel in der „unabhängigen“ Presse zur Neueinweihung, in dem sich die Verantwortlichen für etwas feiern ließen, zu dem sie jahrelang gedrängt werden mussten, ist alles, was die mündigen Bürger darüber wissen durften. Die Verlegung von Stolpersteinen®, die es den Nachfahren der Täter erlauben, auf den Opfern symbolisch herumzutreten, ging zwar holprig, aber vergleichsweise rasch über die Bühne.

Eifrig und kurz entschlossen waren die Herrschenden freilich, als es darum ging, einen Judenmörder zu ehren. So viele bürokratische Vorwände man fand, die Opfer zu ignorieren, wurde der kleine Dienstweg beschritten und das Kanzleramt belogen, um einen Täter bejubeln zu können. (Siehe auf diesem Blog.)

Dass es an öffentlichen Stellen überhaupt ein Gedenken gibt, ist in erster Linie und mit großem Abstand das Verdienst zweier Personen, Michael Quelle von der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/Bund der Antifaschisten VVN-BdA, und Dr. Peter Meves von der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Selbstverständlich gehören die beiden nicht dem von der Stadt eingesetzten „Beirat Nationalsozialismus“ an. Wo kämen wir denn dahin, wenn jemand, der von der Materie Ahnung hat und sich dafür engagiert, von der politischen Klasse damit betraut würde!

Quelle hat privat weiter geforscht und sage und schreibe 123 neue Namen von NS-Opfern ermittelt. Sein Vorschlag, die Namenstafel auf der 2005 errichten Stele zwischen der Kirche St. Wilhadi und dem Gerichtsgebäude zu erweitern, die 152 ermordete Zeugen Jehovas, Zwangsarbeiter, politisch Verfolgte und Euthanasie-Opfer verzeichnet, stößt auf Widerstand – bei eben jenem Beirat.

Dessen Vorsitzende, die Stadtarchivarin, die sich bislang nicht durch Sachkenntnis zum Nationalsozialismus hervorgetan hat, sondern durch ihre „wissenschaftliche“ Begleitung des Hanse-Hoax, argumentiert mit technischen Problemen bei der Gravur der Messingtafel.

Außerdem hält sie ein gleichartig fortgeschriebenes Gedenken wiederum nur für „provisorisch“, weil sie damit rechnet, dass noch mehr Namen von Ermordeten auftauchen. Wie sie zu dieser Einschätzung kommt und ob sie mit einer Handvoll oder nochmals über 100 neu entdeckten Schicksalen rechnet, ist dem Artikel im Wochenblatt, in dem sie zitiert wird, nicht zu entnehmen. Wie gehabt: faule Ausreden.

Dem Gegenvorschlag der Stadtarchivarin, ein Gedenkbuch anzulegen und in einem besonderen Raum aufzubewahren, widerspricht Dr. Meves energisch und beharrt auf einer öffentlichen Darstellung.

Muss man eigentlich begründen, welchen Unterschied es macht, ob jemand unwillkürlich stehen bleibt, um sich zu vergewissern, was es mit dem Gebilde am Gehweg auf sich hat – oder sich gezielt in ein Gebäude begibt, um ein Gedenkbuch anzuschauen?

Wer in der Stadt unterwegs ist, ob als Einheimischer oder Tourist, braucht zunächst einmal kein weiteres Buch, um auf das Thema zu kommen.

Der Landkreis Stade in der Zeit des Nationalsizialismus

Wie hoch ist eigentlich die Auflage von Hartmut Lohmanns bis dato uneingeholtem Opus?

Es gab im Stadtarchiv Unterlagen von ihm, die aus verschiedenen Gründen keinen Eingang in sein Buch fanden. Es gab sie, sage ich, weil ich vor vielen Jahren einen Teil ausgewertet habe, aber nicht weiß, was ihnen geworden ist. An einigen der Gründe, weshalb sie nicht veröffentlicht wurden, hat sich nichts geändert.

Die Stelen im Stadtbild sind gerade für die gedacht, die nicht von selbst auf das kämen, von denen sie künden, sondern daran erinnert werden müssen. Die nie auf den Gedanken verfielen, das Stadtarchiv zu betreten oder ein Gedenkbuch einzusehen oder auch nur bei google „Nationalsozialismus Stade“ einzutippen.

Eine Stele für 152 Namen steht bereits – was spricht dagegen, eine zweite für die fast so vielen neuen schlicht daneben zu stellen? Platz wäre allemal.

Dagegen spricht, dass es eben im öffentlichen Raum geschähe, statt, wie Meves die Idee der Stadtarchivarin kommentiert, in einer „verschlossenen Kammer“. Wochenblatt-Redakteur Thorsten Penz regt an, Künstler mit der Gestaltung zu betrauen. So sympathisch mir das ist, wird auf die Art das Geeier nur eine Wendung mehr einschlagen.

Eine Lösung, hat der Stadtrat beschlossen, soll bis zum 8. Mai 2020, dem 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges, gefunden werden. Warum erst dann? Weil der 84-jährige Meves und der 64-jährige Quelle bis dahin verstummt sein werden und die Große Koalition der Gedenkunwilligen das Thema von der Tagesordnung streichen kann? Weil der Einfluss der AfD auf das politische Bewusstsein in der Republik bis dahin noch größer geworden und jedes offizielle Gedenken anathema ist und „den Bürgern nicht vermittelt werden kann“?

Den CDU-Granden Grundmann und Behr, die sich besonders hervortaten, als der SS-Mann aus der Mitte der Bruderschaft geehrt wurde und ohnehin meinten, das sei alles schon so lange her, wird es Recht sein. Falls man in Stade unter „Erinnerungskultur“ nicht nur Gesten der Emphatie mit den Opfern, sondern auch das Verständnis der Täter begriffe, hätten die beiden einiges beizutragen.

Die Opfer wurden zu Fremden erklärt, wie Juden und Behinderte, oder kamen wie die Zwangsarbeiter aus der Fremde. Die Täter standen damals wie heute näher, es waren und sind die eigenen Verwandten.

„Man sieht hinlänglich, was ich zu diesem Thema zu sagen habe, sobald ich darauf bedacht bin, es etwas konkreter zu behandeln.“ (André Breton, Nadja)

Februar 2018

Zur Fortsetzung der »Debatte« ab August 2018 siehe → hier und → hier.

Auch von der nächsten Gelegenheit im Sommer und Winter 2019, sich der Geschichte zu stellen, als es zum wiederholten Male darum ging, ob die → Ostmarkstraße umbenannt werden solle, wird lediglich das unwürdige Gezerre in Erinnerung bleiben, mit der alle Beteiligten jede Auseinandersetzung mit dem, worum es angeblich gehen sollte, verweigerten.

Grundsätzliches zum Umgang mit der NS-Geschichte in Stade anhand eklatanter Beispiele steht in → Braune Heimatkunde