Anmerkungen über soziale Filter
In einem Feature des Deutschlandfunk über → Filterblasen und Echokammern ist nebenbei von »sozialen Filtern« die Rede. Ich horche auf, weil es die Selektion ist, die mich nicht nur gegenwärtig brutal betrifft, und weil es so niedlich klingt. Früher hieß das »Klassengesellschaft«. Aber das ist zu klar, zu eindeutig und wird außer von Kommunisten nicht mehr verwendet. Denn vorgeblich leben wir in einer vielfältigen, freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft. »Wir«?
»Integration« wurde ab 2015 zum Modewort dafür, wie mit massenhaft zugeströmten Fremdkörpern umzugehen wäre. Und alle schienen sofort zu wissen, was gemeint ist. Integration in den »Volkskörper«? Wie geht die Aufnahme in eine vielfältige und freiheitliche Gesellschaft vor? Kann es sich dabei überhaupt um »Eingliederung« handeln? Der Ausdruck erinnert an militärische Formationen. Ich habe 15 Monate Wehrpflicht geleistet und eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie es vorgeht, sich in eine streng verfasste Organisation einzureihen. Wäre die Gesellschaft wirklich freiheitlich verfasst, sähe Integration anders aus.
Die Eingliederung, auf die Politiker, Presse und Bürgerschaft sich ohne viel Worte verständigt zu haben schienen, konnte nur eine quasi-militärische sein, weil jede andere mehr Erörterungen erforderlich gemacht hätte, als seither auch nur ansatzweise dazu angestellt worden wären. Die Integration war offenbar auch nie das Problem, das politisch-propagandistisch daraus gemacht wurde, denn nach kurzer Zeit hörte man nichts mehr davon. Bis auf CSU, AfD und andere Neonazis schert sich niemand mehr um Flüchtlinge. Keine Presse fragt nach, wie es um die Integration bestellt ist. Denn wofür es keine Kriterien gibt, kann nicht nachgemessen werden.
Inzwischen hat sich eingebürgert (!), ausschließlich noch zwischen Gutmenschen und Neonazis zu unterscheiden und alle gesellschaftlichen Überlegungen in das eine oder andere Töpfchen zu werfen. Die Probleme, die die einen nicht sehen wollen, werden von den anderen besonders grell an die Wand gemalt. Von einer Wirklichkeit sind beide gleich weit entfernt. In der Konfrontation von guten und bösen Bürgern sind die, die es betrifft, lediglich Objekte. Das Gesindel, weiß oder dunkelhäutig, eingeboren oder zugewandert, kommt in den Debatten allenfalls indirekt zu Wort und nur, insoweit es die bürgerlichen Erwartungen bestätigt.
■
Manche Erkenntnisse lassen sich erst im Alter gewinnen, im Blick vom Ende her. Die Wahrnehmungen lagen längst vor, aber der endgültige Schluss ließ sich noch nicht ziehen; es hätten ja noch andere, neue hinzu kommen können. Dieser Tage wurde ich wurde geradezu mit der Nase darauf gestoßen, auf Klassengrenzen und soziale Filter. Und darauf, wie unveränderlich sie sind. Ich stieß schmerzlich darauf, weil ich empfindlicher dafür bin als die meisten. Empfindlich im Wortsinn, nicht wie üblich als überempfindlich verstanden; als sei Empfindlichkeit ein Makel und der Panzer das Ideal.
Ich habe überdurchschnittlich viele soziale Erfahrungen gemacht. Ein Teil ist meiner nomadischen Lebensweise zuzuschreiben, ein anderer der Rolle des Journalisten, in der ich den größten Teil meines Einkommens bestritt. Um nicht in Aufzählung zu verfallen muss eine Metapher, die keine ist, genügen: ich habe mit Künstlern wie Kriminellen sowohl als Reporter Umgang gehabt wie mit ihnen unter einem Dach gewohnt. In der Küche meiner Wohngemeinschaft saß ich mit einem Bewohner der besetzten Häuser in der Hafenstraße zusammen und beobachtete im Fenster die Huren auf dem Hans-Albers-Platz; als Reporter plauderte ich mit dem Ersten Bürgermeister der Hansestadt, dessen Umgang mit der Hafenstraße alle Tage in den Schlagzeilen war, im Fond seiner Limousine.
Es ist nicht ausgeschlossen, aber selten in dem von mir erfahrenen halben Jahrhundert, dass Angehörige der Unterschicht ihre Klasse verlassen. Und es ist eine Legende, dass Bildung etwas daran ändert. Mein jüngerer Bruder hat keinen Hauptschulabschluss; ich war der erste in meiner Familie mit Abitur, doch für meinen sozialen Status macht das keinen Unterschied. Nicht Bildung, sondern Beziehungen sind bestimmend. Der Stallgeruch. Meine Bildung eröffnete mir Zugang zu gehobeneren Kreisen, aber dass ich aus einem stinkenden Stall stamme, ließ mich dort nicht heimisch werden.
Wer immer diesen Text liest, wird höchstwahrscheinlich dem Bürgertum entstammen und angehören. Gesindel wie ich liest wenig und tippt allenfalls Icons. Und es hört nicht gern, wenn man es beim Namen nennt und strengt sich zeitlebens an, als Bürger zu gelten. Nicht wenige kostet die Anstrengung um Aufstieg das Leben.
■
Ein vorinstallierter sozialer Filter ist, dass Gesindel keinen näheren Umgang mit Bürgern hat. Verschiedene Welten, verschiedene Sprachen. Wenn Bürger mit Gesindel Umgang haben, dann als Herablassung oder weil das Gesindel sich bemüht, als Bürger dazustehen und bereit ist, den Preis für die Grenzüberschreitung zu zahlen. Dieser kann in Demütigung oder Denunziation bestehen; gewiss bleibt nicht ungestraft, gegen die Absonderung verstoßen zu haben. Den Preis zahlt in der Regel das Gesindel allein. Dem Bürger, die die Grenzen definiert, ist erlaubt, sie zu missachten, nicht aber denen, vor denen sie schützen sollen.
Ähnlichkeiten der Metaphern sind nicht zufällig. Dieselben, die am lautesten nach Grenzen gegen Fremde schreien, sind die eifrigsten Mauerbauer im Innern. Umgekehrt ist nicht zu anzunehmen, dass alle, die sich tolerant geben, wirklich wissen, worauf sie sich einlassen; die Liberalität für das theoretisch Zugelassene schwindet, sobald es ihnen leibhaftig vor Gesicht tritt.
In der Selbstreflexion der Bürger kommen weite Teile der Gesellschaft nicht vor, und das Gesindel stellt gemeinhin keine Überlegungen an, die weiter reichen als die Sorge um das Überleben erfordert. In die Leere dazwischen rede ich. Verstanden werde ich, technisch gesehen, nahezu ausschließlich von Bürgern; aber bei aller Mimikry, in der ich Übung habe, missverstehen sie mich auch, weil mein Standpunkt nicht der ihre ist.
■
Damit die Esel laufen, wird ihnen eine Karotte vor die Schnauze gehängt. Die Ideologen des Kapitalismus versprechen Bereicherung für alle. Und manchmal auch gelingt es einem aus der Unterschicht, in die Gefilde vorzudringen, wo Milch und Honig fließen und die Bürger zu Hause sind. Die Ausnahmen bestätigen die Regel und stellen die Karotte dar.
Unterschichtler verlassen ihre Klasse nicht und Bürger haben keinen anderen Umgang mit ihnen als herrschaftlichen. Mit Bildung, heißt es stereotyp, könne man dahin gelangen, unbegrenzte Mehrwerte zu konsumieren. Mit einer Art von Bildung freilich, die einen nicht gerade davon abhält, danach zu streben. Und tatsächlich spielt Bildung auch keine Rolle für den sozialen Status. Entscheidend sind die Beziehungen. Die Bürger haben die richtigen, das Gesindel nicht.
Als Gesindel bin ich das leibhaftige Dementi der Aufstiegsideologie. An Bildung mangelt es nicht, aber die Beziehungen fehlen. Ich hätte mich verstellen können im Umgang mit Bürgern und habe es ständig getan; um jene Beziehungen zu knüpfen, die für einen sozialen Aufstieg tauglich sind, hätte ich mehr tun müssen. So gut ich die Bürger verstand, begriffen sie mich nicht. Sie nahmen mich wohl als Bürger an, aber nur, indem sie meine Worte als solche von ihresgleichen hörten und nicht wahrhaben wollten, dass Gesindel zu ihnen sprach.
Ich bin in der grammatischen Zeit verrutscht und bin es nicht: Ich führe keine Gespräche mehr mit Bürgern. Das ist eine der Erkenntnisse, die sich erst im Alter gewinnen lassen: dass es vergeblich ist, als Gesindel mit Bürgern zu reden. Die Ausnahmen, die diese Regel bestätigen, haben mich lange verblendet. Gesindel, das sich seiner selbst bewusst ist, weil es die Welt der Bürger kennt, ist ebenso so selten wie Bürger, die nicht in ihren Anschauungen borniert sind.
Das gesellschaftliche Gefälle zwischen den Klassen ist unüberbrückbar und muss es auch sein. Inzwischen ganz unbekümmert um den bürgerlichen Anschein muss ich im Verkehr mit Bürgern keine Rücksichten mehr nehmen und mich bemühen, die Kluft zu überspielen, die von den anderen nicht gesehen wird. So komme ich mit den Bürgern, denen ich unweigerlich dennoch begegne, rasch auf den Punkt und zum Ende. Von Gesprächen, bei denen aneinander vorbei geredet wird, bleiben nur die beiläufigen Erniedrigungen, die ich hinnehmen muss, um die anderen nicht alle paar Minuten darauf hinzuweisen, dass sie nicht auf Augenhöhe mit mir sind.
Diese Stellen, an denen ich neben mich treten und die Beobachterrolle einnehmen muss, um nicht zu platzen, häufen sich. Schließlich bin es über, mich immerzu vom Platzen abzuhalten. Zuletzt habe ich den Umgang mit zwei Bürgern eingestellt: mit dem einen, nachdem er nicht aufhörte, mich zu den von ihn veranstalteten Versammlungen von Bürgern einzuladen, nachdem ich bereits einmal erlegen war und mit Leuten um einen Tisch saß, die nur deshalb mit mir redeten, weil sie nicht wussten, dass ich Gesindel bin. Der andere meinte, ich würde mich telefonisch mit ihm zu einem Treffen in der einer Lokalität verabreden, in der ich weder erwünscht bin noch die Zeche zahlen kann.
Wer das »empfindlich« nennt, hat es begriffen. Sensibilität ist verdächtig; nur gepanzerte Menschen können brave Bürger sein. Sensibilität, lese ich gerade in einem Interview mit einer Philosophin, ist eine Voraussetzung für das Differenzieren. Bürger machen gern alles gleich. Sie verstehen das Gesindel nicht, und dem Gesindel kann es nur schaden, wenn es die Bürger allzu gut versteht.
■
Die Illustration zeigt eine meiner Behausungen auf → Hamburg-St. Pauli, als ich sie zum letzten Mal fotografierte.
4 Pingback