Klimarettung auf der Straße

Werbung auf facebook präsentiert mir »Wiki Stade«: »Sprachlos – so bleibt man oft genug angesichts des desolaten Zustandes der Politik. Lasst uns gemeinsam gegen den herrschenden Wahn anreden. Die Glosse ›Sprachlos‹ auf Wiki Stade steht allen offen, die sich zu den Themen Umwelt, Energie oder Klimawandel äußern wollen. Nur in der Diskussion entstehen neue Ideen. Durch Debatte und Vernetzung können wir die zahlreichen Aktiven im Landkreis Stade zusammenbringen[.] Wir ziehen doch alle am selben Strang.«

Das »Wiki« meint anscheinend nicht Wikinger; es handelt sich nicht um einen Ableger der →»Nordmänner Stade«. Verantwortlich für den Aufruf zeichnen gut situierte Leute, die sich Werbung auf facebook leisten können: zwei Journalisten außer Dienst, eine Politikerin von Bündnis90/Grüne und ein Unternehmensberater. Stützen der Gesellschaft, »die gegen den herrschenden Wahn anreden« wollen. Da kann irgendetwas nicht stimmen.

Welcher »herrschende Wahn« genau gemeint sein soll, erschließt sich mir nicht ohne Weiteres. Offenbar eine Selbstverständlichkeit unter denen, die von der Werbung angesprochen werden sollen. Es kann doch kaum das System gemeint sein, in dem die Herrschaften von »Wiki Stade« ihre führende Position errungen haben, um nun, im Ruhestand, dagegen anzureden.

Einer der beiden Journalisten ist mir erstmals dadurch aufgefallen, wie willfährig er bei einer Geschichte, mit der ich selbst befasst war, Amtsträgern nach dem Mund schrieb. Dass eine Politikerin sich über den »desolaten Zustand der Politik« beklagt, ist merkwürdig genug. Besagte Funktionärin hat sich mir dadurch eingeprägt, dass sie mich öffentlich zu denunzieren meinen musste, als ich über die Ehrung für einen NS-Massenmörder durch den Bürgermeister redete, worüber ihre Partei und das Blatt des vorgenannten Journalisten zu schweigen entschlossen waren. Wie dazu die Etüde über Sprachlosigkeit passt, mag jemand anders begreifen.

Beim Klicken auf der Website von »Wiki Stade« stelle ich zunächst einmal fest, dass Inhalte, die in der Desktop-Ansicht angezeigt werden, in der mobilen Version nicht zu sehen sind. Wie der Aufruf der »Parents für Future«: »Jeden Freitag! Fünf nach Zwölf! Altes Stader Rathaus! Musikalische Mahnwache! Herzlich willkommen! Bastel Dir ein Schild! Stell dich [!] hinters Banner! Reihe dich ein! Verstärke unsere Gruppe und geh mit dem Gefühl nach Hause, etwas getan zu haben. Denn es hilft nur noch die Präsenz auf der Straße, um Politik zu bewegen!«

Klingt reichlich martialisch, diese mit acht Ausrufezeichen versehene Aufforderung, mich hinter einer Fahne einzureihen. (Als einstiger Wehrdienstleistender bin ich gegen Formationsjargon nicht abstrakt allergisch, sondern weiß wie Einreihen sich anfühlt.) Zufällig bin ich zwei Mal an der Handvoll Menschen vorbei geschlendert, als die »Mahnwache« abgehalten wurde. (Was wie das Gegenteil des Aufrufs anmutet. Oder soll es heißen, Kampf und Tod gehörten zusammen?) Ich verweilte nicht, so dass mir entging, woraus die musikalische Begleitung bestand. Arbeiterkampflieder?

Es handelte sich überwiegend um ältere Herrschaften; nicht alle Eltern, wie ich zufällig weiß. Soweit ich die Gesichter kannte, waren es Leute, die seit Jahrzehnten in der heimischen Politik mitmischen, mal hier, mal da, mal im Hinterzimmer, mal auf der Straße, wie es ihnen gerade genehm ist. Wobei das, was sie im Hinterzimmer besprechen, gefälligst nicht in die Öffentlichkeit gehört, wo sie stets den Anstand wahren und niemandem auf die Füße treten.

Diese eingeübte Rücksichtnahme lässt mich über das Wort von »herrschenden Wahn« desto nachhaltiger stutzen. Mit Höflichkeiten wäre einem solchen kaum beizukommen. Zu mahnen und zu bewachen genügte nicht. Wütendem Wahn muss man in den Arm fallen.

Der Beschwörung von Volksgemeinschaft zum Trotz (»Wir ziehen doch alle am selben Strang.«) gilt die Aufforderung, ein Schild zu basteln und die Gruppe zu verstärken nur ihresgleichen: gut situierten Bürgern, die ein schlechtes Gewissen zu beruhigen haben und von ihrem ausnahmsweisen Aufenthalt außerhalb von Haus und Auto mit dem Gefühl heimkehren möchten, etwas getan zu haben, indem sie sich neben dem Rathaus, in dem sie sonst hinter verschlossenen Türen verkehren, auf die Straße stellen.

Gewöhnliche Bürger und Gesindel wie ich werden von »Wiki Stade« nicht angesprochen. (Die wiederholte facebook-Werbung habe ich als »irrelevant« abzustellen versucht, aber das funktioniert wie üblich nicht.) »Durch Debatte und Vernetzung« sollen »die zahlreichen Aktiven im Landkreis Stade« verbunden werden. Als wären sie das nicht längst durch Telefon- und E-Mail-Ketten. Wer nicht »aktiv« ist, wird es durch Aufrufe im Internet nicht werden.

In die virtuelle Welt soll es eigentlich auch gar nicht gehen: »Denn es hilft nur noch die Präsenz auf der Straße, um Politik zu bewegen!« Was besagt das über den gleichzeitigen Hinterzimmer-Schacher derselben Herrschaften?

In meiner facebook-Filterblase befinden sich vor allem Personen, denen Stader Verhältnisse gleichgültig sein können, oder solche, die nicht von »Wiki Stade« angesprochen werden. Leute, die kein schlechtes ökologisches Gewissen haben müssen, weil sie von der Welt nur das Lebensnotwendige verbrauchen (→ Kein Wort mehr vom Klima). Oder die sich daran gewöhnt haben, dass sie nichts zu melden haben, wenn es um praktische Politik vor ihrer Haustür geht. Die als Masse auf der Straße geduldet wären, aber deren Wort in der Runde der »Aktiven« nichts gilt.

Freilich steht nicht wirklich die drohende Klimakatastrophe, die nur durch einen radikalen Kulturwandel abzuwenden wäre, der allerdings jede(n) beträfe, im Focus. Sondern es dreht sich darum, auf »die Politik« des »herrschenden Wahns« einzuwirken, an der die Repräsentanten von »Wiki Stade« bis hierhin gedeihlich mitgewirkt haben. Mithin darum, durch Präsenz auf der Straße Einfluss auf die Gespräche mit Freunden und Bekannten im Hinterzimmer zu nehmen.

Das hat mich metaphorisch vorübergehend »sprachlos« gemacht. »Neue Ideen«? Aber bitte nur in den alten Bahnen, von den etablierten Stimmen.

Soweit es die Präsenz dieser Gruppierung im Web anbelangt, habe ich meine Einwände hiermit vorgebracht. Nachdem ich aber hinter den Paravent der Heuchelei geblickt habe: wie gehe damit um, wenn ich das nächste Mal auf die »Mahnwache« am Rathaus treffe?

Am besten wie gehabt ignorieren und den Ärger herunter schlucken statt vor den wohlfeilen Parolen auf den selbst gebastelten Schildern auszuspucken.

Siehe auch

Personalstrukturgeschichte
Bürger, Gesindel und sowas