Ein ästhetischer Versuch
Zweckfreiheit ist ein Merkmal des Kunstwerks. Es ist nicht brauchbar und dient niemandem zu irgendetwas anderem als der ästhetischen Kontemplation.
Freilich werden allenthalben Kunstwerke für außer ihrer liegende Zwecke benutzt, so dass im Bewusstsein derer, die ihr Verständnis von Kunst aus dem Feuilleton der Zeitung beziehen, die bespricht, was dem Kunstmarkt frommt, die Grenzen verschwimmen. Ihnen scheint es, als müsse das Kunstwerk schön anzusehen sein.
Das Gemälde, das sie sich an die Wand hängen, muss zum Mobiliar passen und die Besucher beeindrucken, soll also außerhalb seiner liegende Zwecke erfüllen. Philosophisch verstanden ist Schönheit alles andere als Gefälligkeit, sondern der Eindruck, den die Wahrheit macht, die im Kunstwerk eingefangen ist. Und der kann weh tun.
Das im Mai 2019 eröffnete, rund 18 Mio. Euro teure Parkhaus am Rand der Inneren Stadt von Stade ist ein architektonisch charakterloser Zweckbau. Eine Großgarage, bei deren Gestaltung kein einziger Gedanke der Ästhetik galt. Allein bei der Fassade hätten andere als technische Erwägungen in Frage stehen können; aber es wurde darauf verzichtet, sie anzustellen.
Gleichwohl lässt sich manches über das Gebäude feststellen, das in das Feld der Ästhetik reicht. Der größte Teil der 15.000 Quadratmeter Stellfläche erfüllt inzwischen die genannte Bedingung für ein Kunstwerk: er ist zweckfrei.
Ich habe das Parkhaus seit der Einweihung zu verschiedenen Malen und unterschiedlichen Tageszeiten aufgesucht und nie mehr als 50 der 614 Stellplätze besetzt gefunden, fast ausnahmslos in den unteren Etagen.
Das oberste unüberdachte Deck, das einen Panoramablick über die Stadt bietet (→ Vergeblicher Ausflug), ist ein Raum, der den Zweck, für den er gedacht war, überhaupt nicht erfüllt und daher gewissermaßen abrutscht in einen Bereich, der bei seiner Konstruktion nicht in Betracht kam.
Ästhetische Wahrnehmung betrifft alle Sinne, und so kommt es nicht nur darauf an, wie das Parkdeck aussieht, sondern auch was zu hören ist und wie es sich anfühlt, wenn man sich dort aufhält.
Es ist der entlegenste und einsamste Ort der Inneren Stadt und zugleich der buchstäblich erhabenste. Er befindet sich etwa in gleicher Höhe mit der Aussichtsplattform der Cosmae-Kirche, die nur wenigen ausgewählten zu bestimmten Zeiten zugänglich ist. Der dortige Ausblick ist meines Wissens nach erstmals 1913 von → Ernst Harthern und seither nie wieder literarisch erfasst worden. Das Parkdeck ermöglicht einen demokratischeren Blick als es der vom Kirchturm ist, den Harthern zur Kaiserzeit beschrieb.
Das Deck und sein Ausblick zusammengesehen zeigen die Zeit an. Die Innere Stadt, die Harthern vor über 100 Jahren überblickte, hat sich in Einzelheiten, aber nicht im Gesamtbild verändert. Doch wurde der Blick des Schriftstellers durch die Säulen der Kirche gerahmt, deren Turm seit Menschengedenken die Dächer überragt. Standort und Panorama waren ununterscheidbar.
Die Mauern und Gitter, die beim Ausblick vom Parkdeck im Vordergrund stehen, sind nicht nur neu, sondern folgen in ihrer totalen Konzentration auf den Zweck anderen Regeln als das gewachsene Gassengewirr der Stadt, auf man hinab schauen kann.
Später vielleicht, wenn der Autoverkehr, allen aktuell angesagten Klimakatastrophen-Drohungen zum Trotz, in der von den Parkhaus-Planern offenbar erwünschten Weise zugenommen haben wird, oder wenn inzwischen das freie Parken im gesamten Bereich der Inneren Stadt verboten sein wird, in sehr vielen Jahren also wird das Parkdeck möglicherweise seinen Zweck erfüllen.
Bis dahin wird das als Autoregal errichtete Gebäude überwiegend ein zweckfreies Gebilde sein, mit dem dennoch und anderweitig umzugehen wäre.
Heute habe ich es stets für mich allein, um mich frei über den Dächern der Stadt zu ergehen, statt durch die engen Gassen zu streifen. Nur einmal hatte sich am Fahrstuhl eine Gruppe Jugendlicher versammelt. Aber ein Wachmann trat fast sofort aus irgendeiner Tür am Rand hervor und vertrieb sie. Zur Ästhetik dieses sonderbaren Areals gehört das Beobachtetwerden und die Aufzeichnung der eigenen Bewegungen durch eine Kamera.
Ich brenne nicht darauf, meine Ausblicke mit anderen zu teilen, und meinetwegen muss die Zweckfreiheit des Raumes nicht aufgegeben werden, indem er unter anderen Aspekten als jenen, denen er seine Existenz verdankt, gestaltet würde. Doch drängt sich der Gedanke auf und sei hier aufgezeichnet, um der Chronistenpflicht zu genügen und späteren Generationen anzuzeigen, welche Irrwege in der Gegenwart begangen wurden.
Den leeren Raum des obersten Decks vom Parken auszunehmen würde den Zweck des Ganzen nicht berühren und lediglich den Ist-Zustand förmlich bestätigen. Würde er hernach gestaltet und für andere als Parker öffentlich zugänglich gemacht werden, könnte daraus eine gewisse Rechtfertigung für den Teil von 18 Mio. Steuergeld erwachsen, die er gekostet hat. (Bei 13 Ebenen macht das deutlich über eine Mio.)
Unlängst wurde ein nicht ernst gemeinter Ideen-Wettbewerb zur Umgestaltung des Platzes Am Sande ausgelobt (→ Der leere Kasernenhofplatz). Zur Neugestaltung des Parkdecks fielen mir aus dem Stegreif mehrere Möglichkeiten ein, von der Gastronomie bis zum Urban Gardening.
Wie gesagt ist dies nur aufgeschrieben zur Ansicht für andere als jene, die zur Zeit in der Stadt leben und jeden freien Platz vor allem als Parkplatz wahrnehmen (wie bisher den auf dem Sande). Sie halten auch alle Gedanken, die abseits ihrer für begrenzte Zwecke angelegten schmalen Fahrbahnen liegen, für verrückt oder kriminell, weshalb diese zu äußern mit Gefahren verbunden ist, die später einmal als ebenso mittelalterlich anmuten könnten wie es das Abziehbild ist, mit dem die Innere Stadt für Touristen wie Einheimische versehen wird.
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»Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick; jedes gelungene ein Einstand, momentanes Innehalten des Prozesses, als der es dem beharrlichen Auge sich offenbart. […] Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist die objektive Auflösung des Rätsel eines jeden einzelnen. Indem es die Lösung verlangt, verweist es auf den Wahrheitsgehalt. Der ist allein durch philosophische Reflexion zu gewinnen.« (Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie)
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Nun werde ich wohl Hausverbot erhalten im Parkhaus. Als ich mich an diesem ganz gewöhnlichen Dienstag, 5. November 2019, wieder einmal davon überzeugen wollte, dass das Millionen-Objekt zum allergrößten Teil die längste Zeit leer steht und diesen Sachverhalt durch Fotos dokumentierte, wurde ich am Ausgang von der Aufsicht aufgehalten, die mir erklärte, das Fotografieren sei in diesem öffentlichen Gebäude verboten. Ich habe ihn nicht aufgefordert, die Polizei zu rufen, sondern den Aushilfsblockwart einfach stehen lassen.
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Die »gähnende Leere« im Parkhaus ist inzwischen auch denen aufgefallen, die sonst gar nicht genug Parkplätze kriegen können. Laut → Wochenblatt schlägt die FDP vor, den freien Raum für Fahrradstellplätze zu nutzen. Das wird natürlich nicht geschehen, denn es setzt voraus, dass der Rat der Stadt zugibt, ein überflüssig großes Parkhaus gebaut zu haben.
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Am 23. Juni 2020 wird es amtlich: das Parkhaus hat ein „Minus in sechsstelliger Höhe eingefahren“, publiziert der Lokalanzeiger. Und demnächst wird über einen Verkauf beraten. Mehr in der Zeitung zu lesen würde mich mehr Geld kosten als die Information wert wäre, falls sie darin stünde. Ich muss nicht genau wissen, wer bei der Chose einen Reibach gemacht hat.
Sollte man hingegen annehmen müssen, das Parkhaus wäre einfach so passiert, wären alle Beteiligten bekloppt. Jedenfalls übernimmt niemand irgendeine Verantwortung. Der Lokalanzeiger illustriert mit einem Fassadenfoto des Parkhauses und zeigt keine*n aus dem Rathaus in Sack und Asche.
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Den sauteuren ungenutzten Platz des Parkhauses anderweitig zu nutzen, schlägt am 1. Juli das → Wochenblatt vor, nämlich eine Rooftop-Bar auf dem obersten Parkdeck. Voraussetzung dafür wäre, dass die politische Klasse ihr Versagen eingesteht. Das ist noch nie vorgekommen. Die mafiöse Clique, die in der Stadt herrscht, ist immun gegen Selbstkritik. Und wer ihr nicht angehört und sich allzu laut äußert, kann nicht nur nicht erwarten, gehört zu werden, sondern muss damit rechnen, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zum Schweigen gebracht zu werden. Demokratie steht für die Feudalherren und -damen, die das Rathaus besetzt halten, nur auf dem Papier und stört sie dabei, Beute zu machen.
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