Doppelt so viele »rechte« Gewaltopfer – na und?

Da schau her – das ist noch ein Thema?

»Die Zahlen über Opfer rechter Gewalt schwanken erheblich«, meldet tagesschau.de. »Zuletzt hatte die Bundesregierung von 83 Todesopfern seit der Wiedervereinigung gesprochen. Laut Medienberichten gab es mehr als doppelt so viele.«

Auf diesem Blog finden sich mehrere Anmerkungen dazu, wie fragwürdig diese Todeslisten und ihre Erstellung sind. (Gerichtsgeschichte (1) & Die NS-Oberfläche) Ich glaubte, inzwischen seien sie unmodisch geworden.

Bereits zwischen zwei Fällen, die ich untersucht habe, die auf allen einschlägigen Listen mit Opfern rechtsextremistischer und/oder fremdenfeindlicher Gewalt stehen, lassen sich zwar Beziehungen feststellen – diese werden jedoch durch ihre Verlistung verwischt. (Schumann und der schwarze Mann [Hamburg/Buchholz 1993] / Das Nest in der Nordheide & Die Braunen Banditen von Buxtehude [1992])

Dass die Listen erst 1990 ansetzen, als habe es vorher nichts gegeben, kein Oktoberfest-Attentat 1980, keine »Türkenmorde« in Hamburg 1985, stärkt die Legende, Neonazismus sei eine Art Relikt der DDR. Diese wurde eben wieder belebt, weil es in Chemnitz und nicht in, sagen wir: Dortmund zum Krach kam. (Chemnitz ist überall)

Untauglich als Maßstab für »rechte Gewalt« sind die Listen, insofern sie nur Todesopfer in den Blick nehmen und alle übrigen Gewalttaten ausblenden. Die Spitze besagt nicht viel über den Eisberg. Ist er breiter, wenn die Spitze höher herausragt? Aber in welchem Verhältnis?

Kunststück, dass die Todeslisten umstritten sind. Bei den Körperverletzungen, die von den Opfern – wie auch immer – überlebt werden, ist der Zwiespalt noch größer. Von den paar Dutzend »rechten« Straftaten, über die ich so viel weiß, wie sich in Erfahrung bringen lässt, taucht nur eine Handvoll in den Polizeistatistiken auf – weit weniger als die Hälfte, wie mutmaßlich bei den Toten.

Amtliche Listen für die Gerichtsverfahren, durch die ich vorwiegend von ihnen erfuhr – gibt es nicht. Allein meine willkürlichen Beobachtungen zählen zwei und zwei zusammen. (Eine Diskrepanz zwischen Polizeieinschätzung und Gerichtsurteil besteht für alle anderen Straftaten ebenso.)

Am Beispiel einer Bande von Neonazis habe ich die Aus- und Abblendung ihrer Straftaten durch Behörden und Medien dargestellt. (Zog Sux und das Rowdytum). Auf deren Gleichklang kann nicht deutlich genug hingewiesen werden. (Die NS-Oberfläche) Kein Toter auf der Strafverfahrensliste der Bande, deshalb ist sie uninteressant für »Langzeitrechercheure« in den Medien.

Die journalistischen Listen muss man nicht für zuverlässiger als die behördlichen halten. Die Kriterien für die Aufnahme von Fällen in die amtlichen Statistiken wurden seit 1990 variiert, die medialen sind gänzlich undurchschaubar. Oder was wissen Sie über redaktionelle Entscheidungen bei BILD, Spiegel oder Stader Tageblatt?

Bei Tötungsdelikten ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass Medien aufmerksam werden, als wenn jemand der Körperverletzung nicht erliegt. Aber was besagt das schon? Dass die Redaktionen nicht, wie sonst, weg oder zur falschen Seite sehen konnten? Und wäre die Todesliste seit 1990 vollständiger als bisher – was sollte das bedeuten?

Die Listen hatten einmal ihren Aufmerksamkeitswert. Für die Einschätzung des Neonazismus besagen sie nur das Offensichtliche: die Braunen Banden sind brandgefährlich. Apropos: wie steht es mit einer Liste der Brandstiftungen?

Die Todeslisten beziehen sich auf eine neonazistische Oberfläche und haben schon nichts zur Aufklärung des nationalsozialistischen Untergrunds beigetragen, bevor der NSU entstand. Spätestens seit dessen »Entdeckung« sollten sie sich erledigt haben. Heute sind sie ein peinlicher Anachronismus, der die Scheuklappen markiert, in deren totem Winkel die AfD in den Bundestag eingezogen ist.

»Der Rechtsextremismus wird seit je von den Sicherheitsbehörden verschwiegen, verharmlost und verleugnet« steht da also nicht. Dass tagesschau.de nicht Tacheless redet, ist bedenklich genug. Das Gerangel um Todeszahlen aber grenzt an Fake-News.

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ÜBERSICHT Braune Bande. Neonazismus in Niederdeutschland