ÜBERSICHT Braune Bande. Neonazismus in Niederdeutschland

Banden und ein Anführer, die es gar nicht geben soll – Aus der Statistik gefallene Fälle

Teil 1Nachtgang — 22. Mai 2000 | Geschädigter vor Gericht — 19. September 2000

Teil 2Ausgefallener Fall — 10. November 2000 | Zufällige Zeichen — 2000 | Schändungen — Juli 2000 | Anschein von Entsetzen — 20. Mai 2000

Teil 3Bomber, keine Bomber — 1994/98 | Sturm des »Sky« — 25. Oktober 1996 | Partygäste — 1999/2000

Teil 4»Weisse Brüder« — 19. Mai 1999 | Babymord — 1943/2003

Teil 5Letzte Zuflucht — 10. Mai 1999 | Hausbesuch — Mai 2000 | Verfahren — 30. Mai 2000

Teil 6Im Kuhstall — 14. August 2004 | Schulrebellen — 2003–05

Teil 7Abrechnungen — 10. Juni 2000 | Ohne Anlass — 18. Mai 2000 | Sommersee — 5. Mai 2001

Teil 8Judenhass — 28. Oktober 2000 | Schändlichkeiten — 2002/03

Neonazis in Niederdeutschland (Illustration: urian

Nachtgang — 22. Mai 2000

Sie drehen noch eine Runde ums Haus, der 35-jährige Gerüstbauer und sein Schwiegervater, der angereist ist, um sich zu überzeugen, wie es der Tochter in der Fremde ergeht. Schauerliches steht in den Zeitungen und wird im Fernsehen gezeigt. »Ausländer raus!« heißt es landauf landab in diesen Tagen.

Der Hass richtet sich vordringlich gegen Asylbewerber. Ihre Unterkünfte werden angegriffen oder angezündet. Nicht allein Neonazis stören sich an ihnen, sie erzürnen ganze Ortschaften. Trupps junger Männer stürmen voran, mit Gaspistolen bewaffnete Rentner folgen im Mob; Mütter warnen ihre Kinder vor den schwarzen Männern, die in der Baracke am Ortsrand hausen. Soweit nichts Neues. Eine der kleinen und großen, mal mehr, mal weniger blutigen Wellen von Fremdenhass, die medienwirksam durch das Land rollen.

Sonntag ist vorbei, eine halbe Stunde nach Mitternacht. Alles ruht am Drosselstieg, der Hauptstraße von Hahle am Rand von Stade. In den Fenstern flackern noch Fernseher. Vor die Tür geht man allenfalls von einem Hund geführt. Man braust mit dem Auto durch oder sprintet mit dem Fahrrad woanders hin.

Untertags bevölkern Hausfrauen, Rentner höchstens zu dritt, Kinder und Jugendliche die Gehsteige. Gerüstbauer und ihre Schwiegerväter flanieren gemeinhin nicht durch die Straßen. Auch von weitem und als Silhouette wären die beiden tagsüber als Fremde entlarvt; um Mitternacht ist kaum jemand unterwegs, der Anstoß nehmen könnte. Um Mitternacht ist nur Gelichter auf der Straße.

Alles ruht am Drosselstieg. Daher ist der Lärm auf der Baustelle weithin zu hören. Das geht den Gerüstbauer doppelt an, als Nachbarn und beruflich. Er stellt sich den Ärger der Kollegen vor, die am Morgen die Verwüstung entdecken und beheben müssen, Trümmer beseitigen, die Ordnung wiederherstellen.

Er entdeckt Gestalten auf dem Gelände und ruft ihnen zu, sie sollen mit dem Unsinn aufhören. Und sie tun es. Stille kehrt wieder ein am Drosselstieg, der Gerüstbauer und sein Schwiegervater schlendern fort. Plötzlich poltert es in ihrem Rücken. Zwei junge Männer haben die Randale bloß beendet, um ihnen nachzulaufen und etwas zu schleudern, Flaschen oder Steine.

Der Gerüstbauer stellt sich den Verfolgern: »Was wollt ihr denn?« Er hört: »Scheiß-Kanaken«. Und dann hat er die beiden buchstäblich am Hals. Eine Flasche trifft ihn im Gesicht. »Hier ist Deutschland«, hört er, »was habt ihr hier zu suchen!«

Der Schwiegervater zieht den Gerüstbauer aus dem Handgemenge zurück, und sie entfernen sich. Erneut wird ihnen etwas nachgeworfen, diesmal bestimmt Steine. »Hier ist Deutschland!« Der Gerüstbauer schüttelt den Schwiegervater ab und greift sich vom Rand der Baustelle eine Stange. »Wenn ihr es so wollt!« Da machen sich die Angreifer davon.

Der Krach vor dem Fenster wird der Polizei gemeldet. Die »Ruhestörung« hat sich erledigt, als der Streifenwagen eintrifft. Unterdessen hat auch der Gerüstbauer 110 gewählt und der Wachbeamte »Körperverletzung« aufgenommen. Die Streife umkreist den Tatort und greift Patrick, 18, und Sven, 20, auf. Dann herrscht bis zum Morgen wieder Ruhe am Drosselstieg.

Geschädigter vor Gericht — 19. September 2000

Gerüstbauer Senel K. kommt in Arbeitskluft direkt von der Baustelle zur Verhandlung vor dem Jugendrichter am Amtsgericht. Er unterliegt einem Irrtum, den »Geschädigte« häufig begehen. Er glaubt, es gehe um das, was ihm widerfahren ist.

Doch seine Gefühle tun nichts zur Sache. Angestrebt wird ein »Tat und Schuld angemessenes Urteil« für den Täter. Allenfalls dessen Seelenlage kommt eingehender in Frage. Ein Zeuge besteht nur aus Name, Alter, Wohnort und dem, was seine Aussage zum Fall beiträgt.

Soweit es die Anklagepunkte betrifft, ist der Sachverhalt bereits unstrittig, als Senel K. den Saal betritt. Überflüssig, dass er seine Sicht schildert. Das Gericht kann einem Opfer die Qual der erinnernden Wiederholung der Tat ersparen, wenn dadurch nichts weiter aufzuklären wäre.

Senel K. will gehört werden. Ihm wird die Zeit gelassen. Der Jugendrichter soll auch Erzieher sein. Vom Leid des bis dahin namenlosen nächtlichen Opfers zu erfahren könnte den heranwachsenden Täter beeindrucken.

Nicht in Rede steht, wie lange K. in der Fremde lebt; wie seine Arbeitsverhältnisse sind, dass er nicht einmal einen halben Tag frei bekommt, um vor Gericht erscheinen zu können. Nach seiner Aussage eilt er zurück auf die Baustelle, die Sitzung wird fortgesetzt.

Kein Reporter läuft dem Zeugen nach, um Angaben zu ergänzen oder recherchiert Wohnung und Arbeitsstelle für ein späteres Interview. Die Wirklichkeit spinnt Geschichten aus lauter losen Fäden. Wer K. gefolgt wäre, hätte verpasst, welche Knoten die Justiz nicht bindet.

Senel K. fühlt sich als Ankläger. Entschieden aber unaufgeregt bringt er an, was er sich zu sagen vorgenommen hat. Immer wieder blickt er zur Anklagebank, als müsse von dort Antwort kommen; doch von den Tätern werden die Blicke ihrer Opfer selten erwidert.

So couragiert sich K. in jener Nacht verhalten hat, so sehr hat ihn das Erlebnis verstört. Das liegt nicht an dem Schlag mit der Flasche an den Kopf, der das Strafmaß für die Tat erhöht. »Gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung«: ein Gegenstand als Waffe macht die Körperverletzung »gefährlich«. Wer mit Steinen wirft, mit Flasche oder Knüppel zuschlägt oder mit dem Stiefel tritt, will schwere Verletzungen zufügen. Will Blut fließen sehen.

Die Schrammen im Gesicht haben dem Gerüstbauer zwei, drei Wochen zu schaffen gemacht. Doch nicht das bedrückt ihn. »Ich habe Angst«, sagt er. Er scheut sich, abends vor die Tür zu gehen. Er sorgt sich um die Sicherheit von Frau und Kindern. Alle paar Tage ruft der Schwiegervater an und will wissen, ob wieder etwas vorgefallen ist. Und die Medien berichten immer noch Schlimmes.

»Scheiß-Kanaken« hört Senel K. auch anderweitig. Die Steine und Schläge auf der Straße verunsichern Senel K. weniger als die Sprüche, die auf Schlimmeres vorausweisen. Er nimmt die Angreifer todernst. Werden Männer ihresgleichen in Zukunft den Ton angeben in dem Land, in dem seine Kinder leben? Wann wird er mit dem Schwiegervater telefonieren und ankündigen müssen, ihm die Tochter in die Türkei zurückzuschicken zur Sicherheit?

Die Generation des Schwiegervaters, der einstmals angeworbenen »Gastarbeiter«, kennt es nicht anders: Arbeiten im Ausland, die Familie auf Urlaub sehen und schließlich zurückkehren in die Heimatdörfer, wo sie als die »die Deutschen« angesehen werden und bis an ihr Ende fremdeln. Die Enkel sind in Deutschland ebenso unerwünscht. Sie müssen nicht nur Verachtung ertragen, sondern Angst haben.

Ganz förmlich stellt Senel K. seine Gretchenfrage: »Kann der Richter mir die Garantie geben, dass ich sicher bin?«

Ein bedauerndes Achselzucken: »Auf den Ausländerhass hat das Gericht keinen Einfluss.«

Der Jugendgerichtshelfer tröstet den Geschädigten: »Das wäre Ihnen auch passiert, wenn Sie Deutscher gewesen wären.« Er schiebt dem Alkohol die Schuld zu. Fast zwei Promille hat Patrick bei der Festnahme im Blut, Sven nicht viel weniger.

Bevor ein Jugendlicher vor Gericht gestellt wird, erkundet das Jugendamt seine Verhältnisse. Erwachsene Angeklagte sollten selbst Rede und Antwort stehen können, bei jugendlichen Delinquenten ist Sprachlosigkeit ein durchgängiges Merkmal. Was sie nicht sagen und im Gerichtssaal nicht zu erfragen ist, steht im Bericht des Sozialarbeiters.

»Weiß nicht«, antwortet Sven, als er nach einem Grund für den Angriff gefragt wird. Patrick kann nicht befragt werden, er ist seinem Prozess ferngeblieben und wird daraufhin per Haftbefehl gesucht. Seinetwegen ist ein Beobachter zugegen: Patrick soll den Hahler Bombern angehören.

Die Bande ist zwar polizeibekannt, taucht aber vor Gericht nie als solche auf. Richter und Staatsanwalt übergehen die Bandenzugehörigkeit nicht etwa geflissentlich. Sie wissen nichts von ihr.

Der Überfall auf die beiden Türken wird zunächst der Staatsschutz-Abteilung der Polizei zugeteilt, der Volksverhetzung wegen. Die Staatsanwaltschaft verzichtet auf eine Anklage. So müssen die »Scheiß-Kanaken« nicht erörtert und das Deutschtum der Angreifer nicht näher betrachtet werden.

Einziger Polizeizeuge ist der Streifenbeamte, der Sven und Patrick vorläufig festgenommen hat. Dass sein Einsatzbericht an den Staatsschutz gelangt ist, bleibt unerwähnt. Es ist kein Geheimnis und stand in der Zeitung. Die Meldung ist Politik. Mit ihr demonstriert die Polizei Achtsamkeit: in schlimmer Zeit werden Türken überfallen, und die Fachleute übernehmen, die Bürger können unbesorgt sein.

Dass die Sprüche der Angreifer nicht der Gelegenheit geschuldet waren, wird im Prozess allein durch die beiläufige Bemerkung des Jugendgerichtshelfers über den abwesenden Patrick angedeutet: »Er ist ein Skinhead, der klassische Mitläufer.« Wobei er mitläuft, bleibt unausgesprochen; als verstünde sich das von selbst.

Und wem läuft er nach? Den Anführer seiner Gang kennen Richter und Staatsanwälte aus dem Gerichtssaal. Aber auch in seinen Prozessen hören sie nichts von Bombern. »Skinhead«, sagt der Jugendgerichtshelfer, und das nicht anwesende Publikum mag assoziieren, was es will und aus den Medien kennt.

Rings um den Justizpalast haben Richter wie Staatsanwalt nie jemand gesehen, der dem Typus entspricht. Um ihm zu begegnen, müssten sie sich an bestimmte Orte in Berlin und Hamburg begeben. Skins waren nie mehr als eine Nische der Subkultur, niemals identisch mit Neonazismus, sogar teilweise verfeindet.

Als der Jugendgerichtshelfer damit etwas erklärt zu haben meint, bedient er ein Klischee. Die »Skinheads«, die er zu meinen scheint, haben mit den ihm bekannten Straftätern nichts Äußerliches gemein.

»Alkohol ist nicht der Grund der Tat, sondern Auslöser.« In seinem Plädoyer widerspricht der Staatsanwalt dem Sozialarbeiter, der wie ein Verteidiger gesprochen hat. »Alkohol ist keine Entschuldigung, und die Tat wäre nicht besser gewesen, wenn es Deutsche gewesen wären.«

Ohne Patricks Version gehört zu haben, ohne dass Senel K. die Angreifer hätte auseinander halten und angeben können, ob einer aggressiver auftrat als der andere, lediglich aufgrund der Einschätzung des Sozialarbeiters, der Patrick nicht kennt, wird Sven als dessen Mitläufer eingestuft.

Der Richter spricht zwar von einer »ziemlich üblen Tat« und hebt in seiner Urteilsbegründung hervor, dass die »Einsatzstrafe« für das Delikt sechs Monate Freiheitsentzug beträgt, bringt aber Reifedefizite mildernd in Anschlag. Der biografisch-therapeutische Blickwinkel blendet die Gruppe und den Rest der Gesellschaft aus. So gesehen sind alle Täter gleich: angetrieben von Alkohol und Hormonen.

»Doch der Verweis auf den schwierigen persönlichen Hintergrund der Gewalttäter überzeugt nicht als Begründung ihrer Aktionen«, wurde schon 1982 eine Studie über die Lebensläufe von 212 »militanten Aktivisten« kritisiert. »Gestörte Familienverhältnisse, Ärger im Elternhaus und am Arbeitsplatz, Schulprobleme, Schwierigkeiten mit Mädchen haben unzählige Jugendliche, die nie zur Bombe greifen.«

Vom besoffenen Krawallmacher unterscheidet den Neonazi eine doppelte Einbindung: in die Organisationsstruktur, die frei flottierende Gewaltbereitschaft auffängt und kanalisiert, sowie in die gesellschaftliche Stimmung, auf die seine Handlungen eingehen. Der schlichte Schläger darf sich besinnungslos saufen, ein Bombenleger muss ruhige Hände haben.

So lange er jung ist, kann der Neonazi Straftaten begehen, ohne dafür anders als durch einen Schriftsatz zur Verantwortung gezogen zu werden: das Urteil, mit dem die Bewährung verkündet wird. Neonazismus ist Kriminalität unter Vorbehalt.

Wo er seit sieben Jahrzehnten immer wieder neu geboren und herangezogen wird, wo ihm eigens Strafgesetze gewidmet sind, wünscht sich nicht nur die Justiz, die Gesinnungen und Haltungen würden beizeiten verschwinden und sich auswachsen. Jugendtypische Straftaten, Graffiti und Sachbeschädigungen, erscheinen allerdings irgendwann nicht mehr auf den Verfahrenslisten der Delinquenten.

Womöglich werden sie überhaupt nicht mehr straffällig oder in geringem Umfang und mit Delikten ohne aufdringlichen weltanschaulichen Bezug. Verschwinden sie als »Rechtsextreme« vom Schirm der Behörden, geraten sie ganz aus dem Blick, aus der Statistik, aus den Medien, aus den Abhandlungen von Politologen, Soziologen und Psychologen.

Gegen Sven verhängt der Richter eine Geldstrafe, die er gegenüber dem Antrag der Staatsanwaltschaft verdoppelt; dazu Schmerzensgeld an das Opfer. Den Alkohol habe er nicht strafmildernd berücksichtigt, betont er, Saufen sei »kein Freibrief«. Aber auch er nennt die Tat »völlig grundlos«.

»Weiß nicht«, sagt Sven über sein Motiv. Weiß nicht, sagt sein Richter. Kein Grund für diese »ziemlich üble Tat«. Wir haben nicht gewusst, was wir tun, behauptet Sven. Nur eine Bierlaune.

Der Verweis auf den Rausch vernebelt die Geschichte. Die allermeisten Gewaltverbrechen würden nicht begangen, wäre kein Alkohol im Spiel. Deswegen sind nicht alle »grundlos«. Alkohol enthemmt nur; wer »Scheiß-Kanaken« nie denkt, dem wird es auch im Suff nicht über die Lippen kommen. Alkohol löst den Ausdruck von Ausländerhass aus, erzeugt aber nicht die Haltung.

Angeschlagen vom Alkohol reicht ihr Kampfgeist für Steinwürfe und einen Schlag mit der Flasche hinterrücks. Sturzbetrunken wie sie sind, greifen sie dennoch an. Hass auf den Feind der »Volksgemeinschaft« überwindet die Trunkenheit für einen Ausbruch. Für die Flucht vor der Polizei reichen die Kräfte nicht mehr.

Der Promillegehalt mindert ihre Schuld, insofern er sie außerstande macht, ihr Opfer zu überwältigen. Patrick und Sven denken freilich fast nichts, als sie auf die Türken losgehen. Und vor Gericht müssen sie selbst ihren Hass nicht im Alkoholnebel verstecken, das tun andere für sie.

Auch in weiteren Fällen mit Verbindung zu den Hahler Bombern verschleiert die Berufung auf Bierlaune ein wohl erwogenes Motiv. Und die Angeklagten kommen mit der Lüge durch. Die Bierlaune ist lachhaft. Mit wem man indes lachen müsste, verdirbt einem die Laune.

Quellen und Literatur

Geschädigter vor GerichtStern [Febr.] 1982

TEIL 2

ÜBERSICHT Braune Bande. Neonazismus in Niederdeutschland