Antisemitismus und politische Heuchelei
Alles schon einmal dagewesen. Obwohl alle Welt wie erwacht tut. Auch das eine Wiederholung, ein Ritual. Huch, wo kommt denn bloß der Antisemitismus her!
Angriffe auf Synagogen, auf Juden, auf jüdische Friedhöfe gab es immer. Die Polizei meldete nicht jede Tat, die Medien berichteten nicht immer spektakulär, und wenn es unvermeidlich war, davon zu reden, stand das Ansehen des Landes im Vordergrund und nicht Selbstreflexion.
Ein geplantes Massaker ist allerdings eine neue Dimension. Die freilich erwartbar war. Und weil es nur geplant war und ausblieb, erscheint es wie eine letzte Chance.
Um was zu tun? Mehr Polizei, härtere Strafen, mehr Druck? Für wen? Die nach letzter Zählung 12.700 gewaltbereiten Extremisten? Unter denen der Attentäter von Halle nicht war. Nach derzeitigem Stand dessen, was die Sicherheitsbehörden zugeben. In der Regel kommt nur häppchenweise heraus, was sie wissen, und oft genug weigern sie sich, es zu bekennen. Aus Sicherheitsgründen.
Der Umgang der Sicherheitsbehörden mit Neonazis ist eine Quelle der Unsicherheit. Ihnen den Kampf gegen Antisemiten und Fremdenhasser anzuvertrauen ist bei Licht besehen ein Irrweg. Aber so genau will ja die Mehrheit gar nicht hinschauen. Weil sie dazu in den Spiegel sehen müsste. Die Lösung gesellschaftlicher Konflikte an Polizei und Justiz zu delegieren ist auch in anderen Bereichen Usus und geht dito stets fehl.
■
Fast alles schon einmal dagewesen. Bis auf das Internet. Aber auch das ist nicht so neu, wie Politik und Medien tun. Der NSU operierte bereits unter seiner Ägide. Der Einfluss des Netzes auf die braunen Netzwerke ist allerdings enorm. Jüngst durch die AfD, die bekanntermaßen die Partei mit den besten Beziehungen im Web ist.
Die AfD nährt das Denken, aus dem Terror wird, so offen wie die NPD es nie wagen konnte. Sie ist ein Produkt des Zusammenspiels der öffentlich-rechtlichen Medien mit ihrem Zwang zur Ausgewogenheit, die der Partei die ersten Plattformen verschafft haben, und den vielen freiwilligen und den zahlreichen bezahlten Verstärkern im Internet. Die NPD wurde geächtet, die AfD in Talk-Shows hofiert.
Die AfD hat nicht, wie nun zu lesen ist, »den Boden bereitet« (→ Der Spiegel). Der Boden war stets fruchtbar und ist lange vor der Gründung der AfD bereitet worden. Die Partei ist vielmehr die Frucht derer, die es seit 1945 bei Lippenbekenntnissen und Gedenkritualen belassen und keine Gelegenheit ausgelassen haben, die NS-Geschichte zu verschweigen, zu verharmlosen oder zu verleugnen.
Björn Höckes »Denkmal der Schande« und Alexander Gaulands »Vogelschiss« brachten auf den Punkt, was sich längst durchgesetzt hatte: Überdruss und Gleichgültigkeit gegenüber dem offiziellen und medialen Umgang mit dem Nationalsozialismus als Geschichte wie in der Gegenwart. In der einhelligen Empörung über Höckes Formulierung vom »Denkmal der Schande« wurde geflissentlich vergessen, dass dessen Errichtung ein Jahrzehnt lang höchst umstritten war.
Höckes Wort ist, wie er selbst betont, mehrdeutig. Die Chronik der Errichtung (siehe C. Leggewie / E. Meyer: »Ein Ort, an den man gerne geht«. Das Holocaust-Mahnmal und die Geschichtspolitik nach 1989, München 2005) lässt sich als schändliche Geschichte lesen. Es gab lange vor Höcke viele einflussreiche Leute, die sich gegen die Erinnerung sperrten und das Denkmal selbst für eine Schande hielten.
Darunter jene, deren Vermögen durch Zwangsarbeit oder Arisierung entstanden war. Jene, in deren Familien nie von persönlichen Verstrickungen die Rede gewesen war. Die erst 1979 mit einer US-Fernsehserie einen Eindruck vom Holocaust bekamen. Während Neonazis begannen, sich auf der Straße zu zeigen und seither nie wieder verschwanden, auch wenn Politik und Medien und oft auch die Sicherheitsbehörden so taten, als gäbe es da nichts Nennenswertes. (→ Braune Biografien)
Geschichtspolitik und Neonazismus werden fast nie in Zusammenhang gebracht. (→ Braune Bande) Und nahezu alles, was über den verhinderten Anschlag auf die Synagoge in Halle zu lesen ist, dient erneuter Verschleierung. Mal wird »der Osten« verantwortlich gemacht, mal ist der Attentäter nur jemand, der die Wirklichkeit mit einem Ego-Shooter-Game verwechselt.
Counter Strike wurde ehedem auch für Amokläufe an Schulen verantwortlich gemacht. Und Gundolf Köhler habe das Attentat auf das Oktoberfest in München 1980 nicht nur allein, sondern auch nicht aus politischen Motiven, sondern seiner »Schwierigkeiten mit Mädchen« wegen verübt.
■
Antisemitismus äußert sich in Deutschland überwiegend verklausuliert als Israel-Kritik. Und ja, wer als Jude erkennbar unterwegs ist, muss seit einigen Jahren vermehrt damit rechnen, angepöbelt oder angegriffen zu werden. Aber damit rechnen mussten Juden immer und gingen damit je nach Veranlagung um. Die paar zehntausend Juden, die in Deutschland leben. Durchschnittsbürger begegnen nie Juden.
Ich gehöre einer Generation an, die in der Schule bereits vor 1979 vom Holocaust hören konnte. An den Besuch von Gedenkstätten war nicht zu denken, weil es kaum welche gab. Gespräche mit Zeitzeugen waren lange noch nicht Usus. Ich begegnete einer Auschwitz-Überlebenden außerhalb des Unterrichts, nachdem ich mich mit meinem Gemeinschaftskunde-Lehrer über »Kollektivschuld« gestritten hatte.
Meine Vehemenz war dem Schock durch die Konfrontation mit dem Grauen in Form von Filmaufnahmen aus dem KL Buchenwald geschuldet. Ein Grauen, von dem ich bis dahin nie ein Wort gehört hatte. Mein Konflikt mit dem Lehrer bestand darin, dass ich partout nicht einsehen wollte, warum ich dafür in Mithaftung genommen werden sollte. Die Massenmorde der Deutschen als Nationalsozialisten (bei denen bis heute der an den Juden so stark im Vordergrund steht, dass andere darüber vernachlässigt werden) waren schändlich, aber ich sah nicht ein, mich damit zu identifizieren, weil ich mich nicht als Deutscher im nationalistischen Sinn verstehen wollte.
Die von Theodor Heuss vorgebrachte »Kollektivscham« trifft das Verhältnis, auf das sich Deutsche, ob sie wollen oder nicht, einlassen müssen. Als ich mich im Unterricht mit dem Lehrer anlegte, kam nicht zur Sprache, dass ich mich oft mit meinem Vater über Juden stritt. Ohne nähere Kenntnis von der Shoah waren mir seine hasserfüllten Kommentare aufgefallen, mit denen er TV-Vorkommnisse bedachte. Wohinter die Juden stecken sollten. Beiläufige Bemerkungen, wie sie heute millionenfach auf facebook gemacht werden, dazu gedacht, sich selbst zu entlasten oder Zustimmung zu heischen.
Dass ich auf meine Fragen, wer denn die Juden genau seien und wie sie ihren Einfluss ausübten, von meinem Vater nie eine Antwort erhielt, und sich mir bei keinem seiner Kommentare von selbst erschloss, was Juden, die in dem, worauf sich seine Bemerkungen bezogen, nicht vorkamen, dennoch damit zu tun haben könnten, reizte mich. Nachdem ich aus anderen Quellen wusste, was mein Vater meinte, wurde mein Widerspruch heftiger.
Meine Kenntnisse über den Antisemitismus meines Vaters bleiben gleichwohl Schlussfolgerungen. Der Judenhass war so tief eingegraben, dass es sinnlos war, darüber zu debattieren. Mein Vater war als Nazi sozialisiert worden. (→ Fluchtpunkt Harsefeld) Seine Kindheit und Jugend im NS-Regime und in dessen Schlagschatten waren unter ein Schweigegebot gefallen. Die Aspekte seiner Sozialisation, die ich schließlich in Betracht nahm, wurden erst seit den 1990ern zaghaft untersucht, bezeichnenderweise zunächst von Autor*innen aus dem Ausland, darunter Juden.
Was Himmler »Ahnenerbe« nannte war verschüttet und wird es in weiten Teilen bleiben. Es wurde ebenfalls erst seit den 1990ern als solches verstärkt in den Blick genommen. Ab der Jahrtausendwende wurden NS-Familienromane Bestseller. Leute wie mein Vater kommen darin nicht vor, sondern namhafte Persönlichkeiten und damals wie heute wichtige Familien mit Tradition und großen Häusern, in denen Nachlässe aufbewahrt werden, Familien mit handgreiflichem Erbe. Die Dokumente, über die ich verfüge, kann ich an den Fingern abzählen, und die meisten habe ich suchen müssen.
■
Inzwischen bewege ich mich mit meinen Erinnerungen im akademischen Rahmen der Zeitgeschichte. Die Quellenlage ist erbärmlich. Ich kenne reichlich Literatur über den Antisemitismus, seine Geschichte und Gegenwart nicht nur in Deutschland. Aber die Traditionslinien seit 1945 kommen darin allenfalls pauschal vor, entlang der öffentlichen Ereignisse, bei denen sofort die Lücken auffallen. Haben Friedhofsschändungen mal Konjunktur, um dann plötzlich ganz aufzuhören?
Man kann sich bei allem, was das Fortleben des Nationalsozialismus anbelangt, nur bedingt auf das verlassen, was öffentlichen Quellen zu entnehmen ist. (→ Die NS-Oberfläche) Für Politik, Behörden und Medien war dies stets ein empfindlicher Punkt. Durch persönliche Beziehungen und die Verbindungen, die sich daraus ergaben. Durch das Ahnenerbe in jeder Hinsicht, von denen keine gesellschaftliche Instanz frei sein konnte.
Die formale Entnazifizierung durch die Besatzungsbehörden, legendär durch die »Persilscheine«, ist vernachlässigenswert. Die eine oder andere Firma lässt einen Forscher die eigene braune Vergangenheit beleuchten; das eine oder andere Ministerium tut es. Die meisten tun es nicht einmal pro forma.
Wie immer die öffentliche Aufarbeitung der Geschichte beurteilt wird, kann sie die private nicht nur nicht ersetzen, sondern ist vielfach genau dazu gedacht. Die Teilnahme am Gedenkritual erspart die Selbstkritik. In die mündet weitaus mehr als bis dato öffentlich erörtert wird.
Ich habe das antisemitische Erbe meines Vaters ausgeschlagen. Ich habe keine Vorstellung und kann mich auf keine Literatur stützen, wie es damit insgesamt aussieht: Wie sich die in Frage kommenden Jahrgänge zur Judenfrage nach 1945 verhalten haben. Sofern darunter welche sind, die Biografien geschrieben haben: sind diese darauf hin untersucht worden? Für die Anschauungen von Leuten wie meinem Vater und wie sie mit diesen umgegangen sind, ist nicht von ausreichend Zeugnissen auszugehen. Sie sind gestorben ohne befragt worden zu sein.
Inzwischen hat sich »Kriegsenkel« als Schlagwort für das Problem eingebürgert. Einzelfälle dafür, worin das Ahnenerbe bestehen kann. Aber Ausnahmefälle, weil es sich beschreiben lässt. Alles andere ist Schweigen. Ein Schweigen wie das, in das mein Vater verfiel, weil er sich mit seinem Antisemitismus ausgegrenzt fühlte.
Alexander Gauland ist jünger als mein Vater war, aber seine Attitüde ist ähnlich. Er verkneift sich immer noch allerhand, aber er sagt laut und in die TV-Kamera, was mein Vater nur in Richtung auf den Fernseher grummeln konnte, als Protest. Er würde Gauland verstehen, auch wenn dieser nicht ausdrücklich von Juden reden würde. »Vogelschiss« wäre eine Formulierung, die mein Vater im Gespräch mit anderen seiner Generation hätte gebrauchen können. »Vogelschiss« könnte im Text eines Neonazi-Songs vorkommen. »Vogelschiss« bringt der Talk-Show Quote, und also wird der Gauland gleich wieder vor die Kamera gebeten.
■
Ich bin unter Nationalsozialisten geboren und aufgewachsen, ohne es zu wissen. Ich kann nur Rückschlüsse ziehen, welche Prägungen daraus hervorgingen und kaum etwas überprüfen. Um Juden musste ich mir jedenfalls keine anderen als abstrakte Gedanken machen. Es gab in der Gegend, in der ich Kindheit und Jugend verbrachte, immer nur vereinzelte Juden, zur Deportationszeit etwa zwei Dutzend.
Bezeichnend ein Vorfall von 1935 in der Kreisstadt, als vom Nürnberger Reichsparteitag heimkehrende SA-Männer ein Opfer suchten. Weil ihnen kein Jude bekannt und greifbar war, griffen sie sich einen Pastor, der sich irgendwie freundlich über die Verhassten geäußert haben sollte, hängten ihm ein Schild »Ich bin ein Judenknecht« um und wollten ihn lynchen, was ein Regierungsrat mit Schusswaffe verhinderte.
Der ersten Jüdin begegnete ich als Student in Hamburg Anfang der 1980er, aber ohne es zu wissen. Sie war in meinem Alter, 13 Jahre nach Kriegsende geboren. Aber die Verfolgung empfand sie als so konkret, dass sie mir schließlich nach Jahren geradezu feierlich eröffnete, dass sie Jüdin sei. Ihre beste Freundin, die anders als sie einen unverkennbaren Namen trug, lernte ich erst danach kennen.
Ich habe meine Familiengeschichte nach Kräften ausgeforscht und nichts materiell Belastendes entdeckt. Was wenig heißt in Anbetracht der Quellenlage. Immerhin scheint mein Vater in seinem Eifer für den Nationalsozialismus Widerstand in seiner Familie erfahren zu haben. Für seinen Eintritt in das Jungvolk fälschte er sein Alter und die Unterschrift seiner Mutter, die es nie erlaubt hätte, dass er dem Hakenkreuz nachlief. Seinen Vater kannte er nur als gelegentlichen Begleiter seiner Mutter. Er ist verschollen.
Ich habe keine Spur von ihm gefunden. Eine Verwandte, die das einzige Foto besaß, das ihn, meine Großmutter und meinen Vater bei einer Hochzeitsfeier 1935 zeigte, brachte auf, mein Großvater könne Jude gewesen sein oder sonstwie einer den Nationalsozialisten missliebigen Gruppe angehört haben. Meine Großmutter sagte nichts dazu. Sie sagte ohnehin wenig. Einige Male erinnerte sie sich falsch, manchmal log sie vielleicht auch.
Der verschwundene Vater als Ursprung für den Antisemitismus des Sohns? Eben das ist der Punkt. Lauter unbeantwortbare Fragen. Seit ich meine eigene Familiengeschichte in Angriff genommen hatte, habe ich entsprechende Gelegenheiten genutzt, um andere auf die eigene Kenntnis des Ahnenerbes anzusprechen. Dabei blieb es. NS-Familiengeschichte war nichts, womit man sich je beschäftigt hatte oder es tun würde.
Und je mehr Zeit verging, desto weniger war möglich, bis schließlich, nachdem die Großeltern und Eltern verstorben waren und die eigenen Enkel Fragen zu stellen begannen, immerhin abstrakt Nachschau gehalten wird, in den Büchern, in denen ausnahmsweise Fälle festgehalten werden, aus denen sich je nach Gusto Schlüsse ziehen lassen.
Der Zug ist abgefahren. Wie sich der Antisemitismus, um ihn nur weiter als Beispiel für vieles andere zu behandeln, von den Erlebnisgenerationen auf deren Kinder und weiter vererbt hat, wird sich schwerlich noch im Einzelnen darstellen lassen. Entsprechend hohl sind alle Erklärungsversuche, warum er anno 2019 wie in Halle wieder mörderisch in Erscheinung treten konnte.
■
Was bleibt sind öffentliche Verlautbarungen. Im Frühjahr 2012 erschien eine Studie, wonach Judenhass nicht nur bei den üblichen Verdächtigen, den Ungebildeten und sozial Deklassierten, den Blöden und Armen, im Schwange sei, sondern »tief in der Gesellschaft verankert«; für 20 Prozent der Bevölkerung wurde ein »latenter Antisemitismus« veranschlagt.
Erstaunt wie erschreckt verbreiteten Medien die »neue Erkenntnis«, »Jude« sei als Schimpfwort im Gebrauch. Darauf war wenigstens durch das Buch eines Berliner Journalisten bereits 2004 hingewiesen worden (P. Gessler, Der neue Antisemitismus, Freiburg i. Br.). Im Deutschlandfunk-Interview erzählte der für die Studie verantwortliche Historiker Peter Longerich von einer antisemitischen Alltagsbegebenheit in Berlin wie von einem Damaskus-Erlebnis. Er lebt und lehrt in Großbritannien.
Ein Historiker muss sich nicht um die Gegenwart kümmern. Äußert er sich aber dazu, sollte er wissen, wovon er redet. Longerichs Unkenntnis des Neonazismus, die er mit deutschen Akademikern teilt, führt in seiner Biografie von Reichsführer-SS Heinrich Himmler zu charakteristischen Fehlschlüssen, die die Zeitgeschichte betreffen. Dass damit Kontinuitäten verwischt werden, war bereits vor der Entdeckung des NSU, der Ermordung von Walter Lübcke oder dem Anschlagsversuch von Halle klar.
Als Beleg dafür, dass »Himmlers Versuch, mit Hilfe von heiligen Orten, besonderen Ritualen und symbolträchtigen Gaben die SS-eigene Weltanschauung zu zelebrieren […] über Ansätze nicht hinaus« gekommen sei, nennt Longerich (Heinrich Himmler, München 2008, Seite 308) als Beispiele ausgerechnet den Sachsenhain in Verden an der Aller (→ Sachsenhain und Ahnenerbe), die Wewelsburg bei Paderborn und die Externsteine im Teutoburger Wald. Alle drei sind Wallfahrtsorte für Neuheiden und Neonazis.
Dass die Burg inzwischen dem Andenken der im angeschlossenen Konzentrationslager Gepeinigten und Ermordeten geweiht ist, schreckt Verehrer von keiner Pilgerfahrt ab. Den Kult um die 13 Externsteine als vorchristliche Weihestätte hat Himmler nicht erfunden, sondern einen seit Ende des 19. Jahrhunderts in völkischen Kreisen geschaffenen Nimbus aufgegriffen und verstärkt. Er wies sie als Schutzgebiet aus, um dass er sich eingehend besorgte: »Dauernd beobachtet werden müssen alle Kleinigkeiten wie Tafeln, Wegzeichen, Körbe für Papier und Abfälle, die geschmackvoll sein und unauffällig angebracht werden müssen«. Germanys Pendant zu Stonehenge zieht Mondsüchtige aus aller Welt an, Deutschgläubige wie Muttergottheitsanbeter und Gothics.
In verbreiteter Literatur über deutsche Kultstätten kommt diese Erbschaft gar nicht vor. Als verfügten die Redakteure weder über Gedächtnis noch Archive wurde in den Medien im August 2015 das Schimpfwort »Jude« wiederum als Neuigkeit verbreitet.
Mit der Schwarzen Sonne, einem Kreuz aus zwölf Sig-Runen in der Wewelsburg, die bis 1945 ein okkultes Zeichen war, verzierte der Attentäter von Christchurch das Manifest, mit dem er seinem Anschlag auf eine Moschee eine Begründung zu geben versuchte. (→ Hexen und das Heute in Buxtehude)
■
»Jude ist etwas, was nichts mit mir zu tun hat«, sagen die Kids, für die »du Jude« alltägliches Schimpfwort ist. »Sag, dass du ein Jude bist!«, forderten seine Mörder von Marinus Schöberl im Juli 2002 in Potzlow, damit sie ihn tot treten konnten. »Nu sag schon, dass du Jude bist, dann hören sie auf«, riet ihm eine Zeugin. Ein Täter rühmte sich hinterher, ein »Scheißjudenschwein« umgebracht zu haben; so wurde der Fall publik.
Eliminatorischer Antisemitismus, wo kein Jude ist. Die Nationalsozialisten gingen schon so vor: Partisanen, Bolschewisten: alles Juden. Judentum nicht als Religion, sondern als Rasse. So gucken sich die Kids auf dem Schulhof einen als Juden aus.
Die Fake-News auf AfD-Accounts, der Anschlag auf die Synagoge von Halle sei islamistisch motiviert, zeigt an, mit welcher mörderischen Willkür die Gesellschaft es zu tun hat. Der Anschlag selbst demonstriert sie in seinem Scheitern. Nachdem dem Täter bewusst geworden war, dass er keine Juden würde ermorden können, tötete er die erstbeste Passantin. Dann besann er sich und stürmte auf das nächstbeste Ziel zu, einen Döner-Imbiss, um weiter zu töten.
In seinem Manifest benennt er andere potenzielle Opfer. Kommt im Einzelnen so wenig darauf an wie bei dem Attentäter von Christchurch, den sich der deutsche Möchtegern-Massenmörder zum Vorbild genommen hat. Zum Vorbild hinsichtlich der Ausführung und Präsentation der Tat. Die Präsentation ist kein neues Merkmal von Verbrechen, das aber in der Form des Live-Streams eine ungekannte Komplizenschaft der Zuschauer schafft.
Unlängst nutzte ein Bankräuber in Hamburg einen Gerichtssaal als Bühne, und die Medien griffen seine Show dankbar auf. Aber dabei ging es um eine bereits begangene Tat. Zirka 2000 Leute schauten dem Mörder von Halle live zu; weiß man, wie viele den Notruf wählten? Ob es überhaupt vorkam?
Die Polizei sah in Halle eine »Amoklage«. Und das war es. Ein gescheitertes Attentat, nach dem der Täter nicht aufhört und abzieht. Die Mordlust ist stärker als alles, was er sich darüber hinaus vorgestellt hat. Sie ist sein Antrieb.
Wäre er seinem Vorbild aus Christchurch ganz gefolgt, hätte er eine Moschee ins Visier nehmen müssen. Muss ich googlen, ob es eine in seinem Umfeld gibt? Eine Synagoge gab es, vor der kein Streifenwagen der Polizei stand, und bei der der Täter anscheinend sogar eine offene Tür erwartet hatte.
»Jude ist etwas, was nichts mit mir zu tun hat.« Wie einer, der sich im Döner-Imbiss aufhält. Kommt weg wie die Frau, die mich blöd anquatscht.
■
Der Antisemitismus spielt gleichwohl die Hauptrolle. Juden waren und sind auf den Feindeslisten seit Jahrhunderten ganz oben, auf denen von Neonazis wie der des ungarischen Regierungschefs. Und dann folgen, je nach Stimmungslage, andere Gruppen oder solche, die dazu erklärt werden. Kommt im Einzelnen nicht darauf an. Entscheidend ist allein, dass die Gesellschaft Feindbilder aufbaut und sie Tätern wie dem von Halle zur Verfügung stellt.
Serien- und Massenmörder (→ Der Menschenfresser Karl Denke) liefern gemeinhin keine Begründung für ihre Taten. Sie morden wortlos. Wer Manifeste schreibt und die Tat live sendet, braucht den Beifall der Masse für seine Tat. Dass er (gendergerecht zu schreiben wäre an dieser Stelle verfehlt) sich vorstellen kann, ein gerechtes Werk zu tun, gibt den entscheidenden Anstoß. Das Sendungsbewusstsein der Täter ist keines, das die Masse durch die Tat überzeugen soll, sondern eines, das sich bereits im Einklang mit ihr weiß.
Diese Terroristen wollen keine Märtyrer sein, sondern Ruhm genießen. Ihr Suizid ist nicht vorgesehen. Die BILD ist wieder einmal vorgeprescht und hat den vollen Namen des Attentäters von Halle und sein Porträtfoto veröffentlicht. Man kann den Terror, den die Killer verbreiten, nicht ungeschehen machen. Aber man muss ihnen nicht auf den Leim kriechen.
Namen tun zur Sache, wenn es sich um Personen handelt, die unabhängig von dem Verbrechen, das sie begehen, von Belang sind. »Anon« nannte sich der Mann von Halle selbst, im vollen Bewusstsein, dass alle Welt seinen wahren Namen erfahren würde. Er tat, als handle er stellvertretend, während es ihm ganz ausschließlich um sich ging. Ihn statt bei seinem vollen oder abgekürzten Namen »Anon« zu nennen, ginge schon zu weit.
Namen lassen sich im Text leichter handhaben und stehen oft dort, wo man sonst nichts zu sagen hat. Sie vermitteln nicht mehr als es ein Foto mit beliebigen Gesichtszügen kann. Was über den Charakter festzustellen wäre, lässt sich auch sagen, ohne dem Namen Suchmaschineneinträge zu verschaffen.
Solange die Täter am Leben sind, kann ich und muss ich ihnen keinen Zucker geben und sie wichtiger nehmen, als sie sind. Die Archivgesetze geben nicht ohne Grund Grenzen vor, ab denen es erlaubt ist, Personen von nicht-zeitgeschichtlichem Rang zu nennen. Dass die Täter von Christchurch und Halle diesen Rang durch ihre Verbrechen erlangt haben, lässt sich nicht bestreiten. Aber nichts zwingt mich, ihn den Personen beizumessen.
Umso weniger, als sie eben das sind: austauschbar, anonym. Der Hallenser Attentäter soll einen sauberen Bundeszentralregisterauszug haben. Keine behördlich erkennbaren neonazistischen Verbindungen. Eine Tat aus einem tieferen Untergrund, als der, in dem der NSU operierte, aber nur aus behördlicher Sicht. Ansonsten dieselbe Humusschicht.
■
Zum Mord an Walter Lübcke stellen sich Fragen, die sich beim Hallenser Attentäter erübrigen. Dass der Neonazi aus Kassel deutlicher im Visier der Behörden hätte stehen können, hätte die Tat, weil sie gezielter verübt wurde, nur hypothetisch verhindern können. Obwohl sie selbst nicht willkürlich war, musste sie aus behördlicher Sicht so erscheinen. Ein Anschlag auf eine Synagoge war absehbarer, aber weder Tag noch Täter hätten vorgeahnt werden können.
Allein, überraschend war nichts daran, und alle, die so tun, setzen die eingeübte Verharmlosung, Verschleierung und Verleugnung fort. »Und trotzdem fällt Bundespräsident Walter Steinmeier unmittelbar nach dem Anschlag nichts Besseres ein, als schockiert zu sein. Bis vor Kurzem sei es unvorstellbar gewesen, dass Synagogen in Deutschland angegriffen werden. Das muss ein Witz sein!? Na ja, vielleicht nur unglücklich formuliert«, notiert ein jüdischer Autor in der → taz.
Die CDU-Vorsitzende schwafelt von einem »Alarmzeichen«. Die Sirenen haben seit 1933 nicht aufgehört zu heulen. Ihre Partei vor allem hat die längste Zeit nach 1945 nicht hingehört. Unterdessen sind die Bomben gefallen und gefallen und gefallen. Die Täuschung von Steinmeier und Kramp-Karrenbauer wird gelingen, weil sie ihren Volksgenossen damit erlauben, sich weiterhin nicht ins Gesicht sehen zu müssen.
Halle wird bald wieder vergessen sein. Die politische Klasse ist nicht bereit, die letzte Chance, die damit markiert wurde, zu ergreifen. Und die Mehrheit steht hinter ihr, die sich seit je einen Schlussstrich unter den Vogelschiss gewünscht hat.
Die Ängste meiner jüdischen Bekannten aus den 1980ern bezogen sich damals auf eine hypothetische Gefahr. Diese ist seither immer realer geworden, ohne dass es die Gesellschaft und ihre politischen Repräsentanten ernsthaft geschert hätte. Vier Jahrzehnte Lippenbekenntnisse haben den Boden bereitet für einen 27-Jährigen, der auf Judenjagd ging wie seine Urgroßeltern.
■
Bis zur Stunde ist von der politischen Klasse in der Stadt, deren Stimmungslagen ich am besten kenne, nichts mit Bezug auf Halle zu vernehmen. Sie hat ihren Beitrag zum Fortleben des Antisemitismus ein für allemal geleistet, als sie 2002 einen SS-Judenmörder ehrte und wütend um sich biss, als ihr dazu Fragen gestellt wurden. (→ SS-Mann 92901)
Stade symbolisiert in diesem Punkt das ganze Land. Die Politiker haben nichts gegen Juden. Sie besuchen sie gern in Israel, wo sie hingehören. Dann und wann zelebrieren sie Erinnerung mit Gedenksteinen. Doch die Namen der weiterhin einflussreichen Familien, die von der Arisierung profitiert haben, werden in den Büchern, die man pflichtgemäß hat schreiben lassen, nicht genannt. Und nur zu glauben, fragen können zu dürfen, warum sie einen SS-Mann mit Blut an den Händen als ehrbaren Mitbruder behandeln, ist so ungehörig, dass sie die Polizei alarmieren.
■
Nachtrag: Nachdem sie sich zunächst nicht dazu verhalten wollte, will die CDU in Stade die Umbenennung einer Straße als »Zeichen« gegen Halle verstanden wissen. Die Lokalpresse sekundiert willfährig und verstärkt die Heuchelei. Statt dass das Zeichen aber schlicht und einfach gesetzt wird, streitet die politische Klasse monatelang um Kaiserbärte. (→ Vogelschiss in Stade)
Eben blinkt auf meinem facebook-Account auf, dass von einem Kranzabwurf zum Volkstrauertag auch das Grab eines KZ-Kommandanten betroffen wäre. Im Zuge meiner Studien über Verbrechen habe ich auf vielen Friedhöfen nach den Grabstellen von Opfern, Tätern und sonstigen Beteiligten Ausschau gehalten. Hinweise auf private Verbrechen sind eine rare Ausnahme (→ Elses Verehrer). Bei den Staatsverbrechen wird es kompliziert, sofern es sich nicht um Reihengräber von Opfern handelt.
Auf den Friedhöfen liegen zahllose Täter*innen, deren Namen nicht wie der des KZ-Kommandanten von beliebigen Passanten, denen die einschlägige Literatur geläufig ist, zugeordnet werden können. Auf dem Friedhof Diebsteich in Hamburg las ich einmal auf einem Grabstein neben anderen als Sterbeort Auschwitz. Meine Recherchen ergaben nichts. Wenn ich über den Horst-Friedhof in Stade schlendere, weiß ich, wo der Judenmörder liegt, der unter reger Beteiligung der Bürgerschaft verabschiedet wurde: unter einem Obelisk mit dem Namen seines Vaters.
Ich war auch mal, der Gründlichkeit halber, auf der Suche nach Himmlers Grab und nahm es als potenzielle Kultstätte in den Blick. (→ Himmlers Ende / → Das Grab im Wald) Ich habe keine Vorschläge zu machen, wie mit dem Gedenken umzugehen wäre. Allein, dass es auf Erinnerung aufbauen müsste statt sie zu versiegeln.
Die hochmögenden Kreise, die dem Judenmörder das letzte Geleit gegeben haben, führten auch diesmal am Volkstrauertag im Kameralicht vor, für wie wichtig sie es halten, dass die Verbrechen nicht vergessen werden. Es kommt auf keinen Namen an oder die Kennzeichnung eines Grabes. Aber die Geschichte des Judenmörders zu erzählen unter Strafe zu stellen kann wohl kaum Erinnerung genannt werden.
In Halle ging es um Leben und Tod; in Stade meint man, dagegen mit einer Umbeschilderung anzugehen, die allenfalls den Anwohnern der Straße weh tut, aber nicht denen, die mit diesem Zeichen punkten wollen. Einem Zeichen und einer Debatte, in der Antisemitismus gar nicht vorkommt. Ach ja, ich vergaß: den gibt es in Stade nicht.
Und ich halte besser den Mund, denn sonst könnte es weh tun.
■
Siehe auch
3 Pingback