Bruchstücke einer Zeitgeschichte 1945–93
Flüchtlinge
Gerda liegt im Sterben. Die Klinik hat sie in die Wohnung entlassen, eine Gemeindeschwester versorgt täglich ihre Kanülen. Vor 40 Jahren, in ihren Vierzigern, hat sie den Krebs einmal besiegt – diesmal nicht mehr. Im Bett den Tod erwartend, telefoniert sie stündlich mit ihrem Sohn Jochen. Niemanden sonst will sie sehen, hat sie je an sich herangelassen.
Gerda, Jahrgang 1909, und Jochen, Jahrgang 1931, sind Flüchtlinge. Letzte Zeugen. Gerda war nie geschwätzig. Seit der Flucht, ein halbes Jahrhundert lang, lebte sie als Einsiedlerin. Wenige Monate vor ihrem Tod erzählt sie ihrem Enkel Arthur, Jahrgang 1958, ein einziges Mal ausführlich von damals.
Fremde
Arthur hat Flüchtling als Warnwort kennen gelernt. Flüchtlinge, hörte er in den frühen 1960ern, wohnten dort, wo später Festhalle und Schießstände des Schützenvereins stehen. Baracken gab es, auch noch Nissenhütten. Wohnten Vertriebene dort oder war der Name übergesprungen als Schimpfwort auf die, die in solchen Behausungen leben mussten?

Gerda lebte lange so, am Apenser Fußballplatz, in einem winzigen Loch; zwei Türen weiter waren die Waschräume für die Kicker. Ihre letzten 20 Jahre verlebte sie vergleichsweise komfortabel in dem Viertel von Harsefeld, wo die Straßen nach der verlorenen Heimat, nach Pommern, Königsberg, Schlesien benannt sind.
Das Erbe
Im März 1993 dämmert Gerda still fort. Das Erbe wird gesichtet. Die Spuren ihrer stillen Vergnügungen, das Goldene Blatt… Irgendwo zwei Pappordner mit juristischer Korrespondenz. Darunter eine Klage von 1962 gegen den Hauswirt, bei dem sie von der Verwaltung einquartiert worden war: Er hatte ihr untersagt, das Klo zu benutzen.
Gerdas Erbe: Klein gefaltete Hundertmarkscheine im letzten Fach eines abgeschabten Schranks. Der übrige Schrankinhalt, die Möbel, fast die gesamte Einrichtung der Sozialwohnung wird Abfall; das TV, ein Spiegel, ein Tisch und ein Ölgemälde bleiben in der Familie.
Ein Bundesgesetz hat Arthur als gebürtigem Harsefelder außerdem Gerdas Flüchtlings-Status vererbt. Ihm steht zu, sich aktenkundig zu Gerdas Heimat zu bekennen, sich »Pommer« und »Heimatvertriebener« zu nennen. Hätten Gerda und ihr Sohn je Sehnsucht nach Rückkehr geäußert – womöglich hätte er sich tatsächlich an eine Heimat in der Fremde gewöhnt. So sind ihm diese Wurzeln gänzlich unbekannt.
Die Suche
In die untergegangene Heimat folgt Arthur den spärlichen Spuren der Vorfahren. Die Suche beginnt in Binz. Im Juni 1990 kreuzt er landseits der Ostsee und lässt den Kurs vom Wind des Eventuellen bestimmen. Bis ihm Rügen einfällt. Um den Namen eine Aura. Zögernd spricht er ihn aus, wie eine uralte, zufällig an verdächtiger Stelle aufgelesene Beschwörungsformel, die hinter dem Rücken aus Asche das Monstrum formt. Sein Vater, fällt ihm aus vergessenen Geschichten ein, hatte hier »eine glückliche Zeit« verbracht.

Rügen – Chiffre einer zweifach versunkenen Welt. Welt des Vaters weit vor der Zeugung des Sohns; Welt von dessen Kindheit, in der er Vaters Satz »auf der Flucht in Rügen« anhand von Andeutungen mit Legenden von Aufbruch, Abfahrt, Abenteuer überblendet, verdichtet hatte zu Utopia, Eldorado, Shangri-La, der sagenhaften Insel der Seligkeit.
Glückliche Zeit
Gleichgültig rollt das Meer an den Strand. In Binz überfällt Arthur sein Blut. Durch seine Erzählungen hat der Vater ihn gleichsam hergeschickt. Die Häuser mit Seeblick waren ehedem als Pensionen erbaut worden und tragen Namen, Sirene oder Quisiana. Im Haus Quisiana, sagt Vater, habe er eine »glückliche Zeit« verbracht.

Seufzend drückt er die Fotokopie ans Herz, die Arthur mitgebracht hat. Sie zeigt eine Abbildung aus Erich Kubys Buch über die letzten Tage des Dritten Reichs, Das Ende des Schreckens: Am Boden kniet ein Knabe mit Panzerfaust, neben ihm der Ausbilder, hinten die Rotte. »Um die HJ-Buben für den Einsatz an der Front zu begeistern, wurde ihre oft nur auf Stunden bemessene ›Ausbildung‹ hochdekorierten Offizieren übertragen«, lautet die Bildunterschrift.
Szczecin
Als er zwei Bahnstunden entfernt von Gerdas alter Heimat lebt, besucht Arthur seines Vaters Geburtsstadt. Auf der Suche nach dem Genius loci, der Aura des Ortes, die der Zeit trotzt.

Der Bahnhof ist der alte geblieben, ein karger Zweckbau aus den 1920ern, nur um eine Giebelspitze ärmer, angeschlagen. Holzüberdachte Perrons, die mit Geländern gegliederte Schalterhalle – der Verfall tut, als sei nichts geschehen, seit Gerda hier den letzten Zug nahm. Die von Erinnerungsbildbänden gerühmte »musterhaft eingerichtete und geführte Bahnhofsgaststätte«, in der Gerdas Schwester Emmi kellnerte, ist allerdings einen Stehausschank gewichen.

70 Prozent der Häuser Stettins fielen dem Bombenhagel zum Opfer. Gleich neben dem Bahnhof liegt unverändert das 1874 eröffnete Hauptpostamt an der Grünen Schanze/Dworcowa. Hier war Gerda bis zur Flucht Putzfrau.

Eine ihrer Schwestern war verheiratet mit einem leitenden Offizier der Beton-Streitmacht der Nazis, der Organisation Todt, die Autobahnen und Bunker baute. Der Schreibtisch des Onkels, erinnert sich Jochen, glich einem Altar mit Kerzen, Orden, Pokalen um das Führer-Portrait.
Eiszentrale
Als sie noch Stettin hieß, war die Stadt in flächenmäßig die drittgrößte deutsche nach Berlin und Hamburg. Mit der Hansestadt an der Elbe verband die Hafenstadt an der Oder eine ausdauernde Konkurrenz, bei der diese stets zweite blieb. Entfernte Verwandtschaft zeigt das Stadtbild noch, die hanseatische Prägung. Szczecin 1992 sieht aus wie Hamburg 40 Jahre zuvor.

Auf der Lastadie, der Freihafeninsel, betrieb Gerdas Vater seine Eiszentrale: Kneipen kühlten ihr Bier mit den Eisblöcken, die er lieferte. Zwischen den Speichern nebenan wohnte Gerda, ging Jochen zur Schule. Alles fort, vernichtet beim ersten Bombenangriff der Alliierten am 20. April 1943, einem makabren Geburtstagsgeschenk für den Führer.

Verschollener Großvater
Gerdas Sohn wurde unehelich geboren, der Vater schien verschollen; sie erzählte nie von ihm. Nur eine Handvoll Einzelheiten sind überliefert: der Name, ein ungefähres Geburtsdatum. Die Eltern besaßen eine kleine Schneiderei; er war »ein Hallodri«, sagt Gerda: wenn sie Alimente bei seiner Arbeitsstelle pfänden ließ, wechselte er die Firma, sagt sie. Bei Verwandten in Sassnitz auf Rügen findet sich ein einziges Foto: Das Hochzeitsbild eines der sechs Geschwister von Gerda, Dezember 1935, zeigt sie, ihren vierjährigen Sohn und dessen Erzeuger.

Der Pimpf
Aus dem Stettiner Hafenviertel, wo er seine Kindheit verbrachte, waren Jochen blutige Balgereien mit den Jungs von der anderen Straßenseite vertraut. Anheimelnd klang die Verachtung von »Feinsinnigkeit«, der Hass auf »goldene Reifen, gestärkte Manschetten, parfümierte Seifen und süße Buben mit Wachsgesicht«, den die Hitler-Jugend schürte. Rügen erlebte der Knabe als HJ-Pimpf. Seine »glückliche Zeit« auf Rügen war das Lagerleben.
Neunjährig gab er sich dem Führer hin; spätestens mit zehn Jahren wäre er fällig gewesen. Nach der Schule erschienen die Anwerber der HJ. Appellplatz war der Schulhof selbst. Die Lehranstalten wetteiferten um die höchsten Beitrittszahlen. Jochen wollte dazugehören. In der Schule wurde auch die Uniform ausgegeben. Den Mut zur Absonderung brachten die wenigsten auf.

Ideale
Vereidigung war am Vorabend von Führers Geburtstag. Die Schwertworte haben sich Jochens Gedächtnis eingebrannt: »Jungvolkjungen sind hart, schweigsam und treu; Jungvolkjungen sind Kameraden; des Jungvolkjungen Höchstes ist die Ehre«. Dienst jeden zweiten Tag von 14 bis 16 Uhr.
Lehrer, die auf Verständnis setzten statt auf Disziplin, wurden von den uniformierten Schülern als »Schwächlinge« abgekanzelt. Der ideale Nazi-Lehrer war soldatisch-männlich. Groß, kräftig, Kranzglatze, im Pullover, nie mit Schlips, beschreibt Jochen den bewunderten Deutsch- und Geschichtslehrer. Er faszinierte mit farbigen Schilderungen von antiken und preußischen Schlachtenlenkern. Er leitete das erste Sommerlager in Göhren auf Rügen, in das Jochen 1941 beordert wurde: KLV – Kinderlandverschickung.
Das Lager
Ein Literaturwissenschaftler, Jost Hermand, ein Jahr älter als Jochen, hat sich der Mühsal der Erinnerung unterzogen und 1993 seine KLV-Zeit beschrieben; die erste kritische Darstellung der Lager (Als Pimpf in Polen). Die KLV sollte den Nachwuchs fern der Eltern nach Parteimaß formen.
Hermand wurde wie Jochen von der erweiterten KLV erfasst, die zwischen 1940 und 1945 rund drei Millionen Kinder und Jugendliche aus bombardierten Städten in 5000 Lager auf dem entlegenen Land sowohl in Sicherheit brachte wie auf den Endkampf vorbereitete: »eine der größten Bevölkerungsbewegungen des 20. Jahrhunderts«.
Nachtwachen
Unvergessen sind Jochen die Anforderungen der Pimpfenprobe, die er im ersten Sommerlager bestand: Laufen, Springen, Werfen, den Tornister packen, Teilnahme an einer Tagesfahrt, Kenntnis vom Aufbau des Fähnleins, von Schwertwort, Horst-Wessel-Lied und Fahneneid.
Er wurde Rottenführer. Dunkelhaarige wie er waren beim Antreten in der ersten Reihe unerwünscht; umso stolzer machte ihn der Erfolg. Er schob Nachtwachen als Unterführer vom Dienst. Das Lager war mit Stacheldraht umgeben. Nicht das Eindringen, Ausbrüche sollten verhindert werden. Nach Ferienende blieb er gern hier. Vormittags Unterricht, nachmittags Dienst: Gewehrkunde, Exerzieren, Kartenlesen, Tarnen, Geländeübungen.
Alptraum
Als Alptraum schildert Hermand die Lager. Als monotone Abfolge von faden Ritualen, Demütigungen, sinn- und geisttötenden Strapazen unter erbärmlichen hygienischen Verhältnissen. Der Unterricht ein Gebräu aus Rassenkunde und Parolen. Ein Sprachfehler und zarte Konstitution ließen Hermand in der Hackordnung der Pimpfe ganz unten rangieren.
Die sportlichsten unter den gemeinschaftlich Geschundenen hielten sich jenseits des Dienstes an den Gruppenschwächsten schadlos. Sadistische Exzesse, Zwangsmasturbationen als nächtliche Kehrseite des täglichen Trainings, bei der sich hervortat, wer das System vorbildlich verkörperte. Der Stärkere hatte immer Recht.
Kreuz
Im Lager Hotel am Meer in Binz wollte Jochen 1942 erneut auch den Herbst verbringen. Inzwischen aber hatte die Mutter geheiratet. Den Stiefvater lernte der Sohn nur stundenweise kennen; er war Soldat. Vaterloses Aufwachsen, millionenfaches Kriegsschicksal, kannte er längst.

Während Gerda in Stettin blieb, wurde er beim Schwiegervater untergebracht. »Opa« verwaltete ein Rittergut. Das Einheitsblatt des Deutschen Reichs zeigt Kreuz bei Reetz als drei um eine Kreuzung gelegene Häuser. Opa verbot dem Pimpf das Tragen der Uniform: »Das mögen wir hier nicht.« Er war adelstreu. »Das bindet man bei uns den Hunden ans Halsband«, erinnert Christian Graf Krockow die Verachtung des HJ-Abzeichens durch seine Klasse.
Ideale II
Vom Lager aus unternahmen die Pimpfe Ausflüge zur Insel Usedom, zur Raketenforschungsanlage Peenemünde. Der V-2-Erfinder Wernher von Braun, selbst noch ein Twen, war das Idol der Jungs. Sie glaubten an den Endsieg durch die »Wunderwaffe« V-3.
Kindliche Bewunderung für Führer und Reich, gegenstandslos geworden und verboten, suchte sich später verwandte, abgesegnete Objekte: Von Braun, längst ein Ami und quasi rehabilitiert, und die Eroberung des Alls. Der Traum vom Weltreich schrumpfte auf Briefmarkenformat. Als Sammler spezialisierte Jochen sich auf Raumfahrtmotive. Von Brauns Triumph, die Mondlandung, bedeutete Erfüllung auch für ihn.
Volkssturm
Ende 1944 wurde Jochen ins Wehrertüchtigungslager Altreddewitz auf Rügen verlegt und an der Panzerfaust ausgebildet. Der Reichsjugendführer hatte Hitler die HJ zum »Geschenk« gemacht, die Partei den Volkssturm ausgerufen. Am Rande der Agonie bäumte sich der Kriegsapparat noch einmal auf. Sechs Millionen Männer zwischen 16 und 60 wurden von Parteichargen kujoniert und mit sinn- und planlosen Schanzarbeiten beschäftigt.
Gewehre gab es nicht mehr; das letzte Aufgebot erhielt die neu entwickelte Panzerfaust. »Panzerfaust ist Panzertod« titelte der Völkische Beobachter. Feuerstrahl und Rauchwolke verrieten den Schützen; um zu treffen musste der Gegner möglichst nah sein – Panzerfaust war meist auch des Schützen Tod.
Prinzip Panzerfaust
Ein im Sprengen ausgebildeter ehemaliger Bundeswehr-Unteroffizier aus Harsefeld erklärt Arthur das »Prinzip Panzerfaust«: Ein Kupferpfennig auf einem aufrecht in die Erde gegrabenen Baumstamm, darüber eine Halbkugel aus »Sprengmasse, formbar, Marzipan ähnlich in Aussehen und Konsistenz«, darin die Sprengkapsel, Zündung per Funk, und die Ladung treibt die geschmolzene Kupfermasse in das Holz. Ebenso durchdringt das Panzerfaust-Geschoss die Panzerplatten und zerschmilzt in der Kabine Plastik, Metall und Menschenfleisch.
Der Ex-Uffz sucht in der Freizeit auf Äckern und in Mooren nach Kriegsschrott, der dem Altmetall-Recycling der Nachkriegsjahre entging. Stahlträgerstücke und Geschosshülsen sind seine Ausbeute. Wie er handfeste Reste gräbt Arthur geistige Relikte aus.
Die Militaria-Kiste des Ex-Uffz im Kellerverschlag enthält auch eine Bibliothek des Teufels. Darunter, was Jochen las, als er elf war: Landsturm von Hugo Scholz. Als Fontispiz die Illustration zur Seite 40: »Die Russen haben Reisighaufen angezündet, um den Wald in Brand zu stecken und uns den Weg abzuschneiden.« Auf der Flucht vor den Russen schießt Jochen ein Foto, das er an diesem Wochenende hervorkramt: Leichen auf einem Waldpfad.
Schlachten
Im Oktober 1944 überschritt die Rote Armee die deutsche Ostgrenze. Fluchtbegehren, »Defätismus« bedrohte die Partei mit Gefängnis und Tod. Im Winter wurde Pommern zum Schlachtfeld. Zwischen dem 15. und 18. Februar unternahm die Wehrmacht eine letzte Großoffensive, die Operation Sonnenwende. Das Gut Kreuz lag mitten im Kampfgebiet. Der Abwehrschlag hatte Erfolg, östlich von Kreuz blieb die Front stabil.
Im März kam Jochen auf dem Gut an. Irgendwie war es der Mutter gelungen, ihn aus dem Lager loszueisen, aber zum 20. April musste er zurück. Der Fluchttreck war bereits vorbereitet. Neben der Eingangstreppe vergrub der Knabe sein Spielzeug, SA- und SS-Figuren aus Tonmasse auf Drahtgestell. Dann rollte der Angriff der Sowjets wieder. Wehrmachtstruppen auf dem Rückzug warnten die Gutsbewohner. Es war der 9. oder 10. April.
Auf der Flucht
Am nächsten Morgen stand der Knabe hinter dem Fenster zur Straße. »Da kam Oma angelaufen. Auf dem Hügel, einen halben Kilometer entfernt, hatte sie russische Panzer gesehen.« Keine Zeit mehr, die Pferde anzuspannen. Sie nahmen nur mit, was sie greifen können. Keine Lebensmittel, aber der Knabe hatte die Camera-Box dabei. Im Nachbarort, wo die Tochter arbeitete, erhielten sie Verpflegung, schlossen sich aber nicht dem Treck an. Opa glaubte, allein mit der Familie bessere Chancen zu haben.

Vier oder fünf Tage brauchten sie bis Stargard, auf der Landstraße 40 Kilometer entfernt. Truppen begegneten ihnen nicht, aber die Spuren der Eroberer: Tote um einen Tisch, mit festgenagelten Zungen. Am 16. oder 17. April erreichten sie das gesprengte Autobahnteilstück südöstlich von Stettin, wo Flüchtlinge und Soldaten lagerten. Allein machte Jochen sich in die Stadt auf.
Die Festung
Am Abend traf er die Mutter, am nächsten Morgen verabschiedete er sich wieder. In den Zug, zurück ins Lager. Mit Feuereifer an die Front, gegen die Roten stürmen. »Hoffentlich dauert der Krieg noch so lange, dass ich meine Rechnung fertigmachen kann.« 13 Jahre alt loderte er im Hass, der Nibelungentreue heißt. »Wer nicht im Felde steht, der ist entweder ein Krüppel oder ein ›grünes Bürschel‹, einer, der für das Leben nichts taugt«, heißt es in Landsturm.
Jochen war pünktlich. Am 20. April wurde Rügen zur Festung erklärt. Die Knaben erhielten Panzerfäuste und wurden in ihre Stellungen eingewiesen. Am 1. Mai besetzten die Sowjets Stralsund, Rügen war die allerletzte Bastion. Der Inselkommandant lehnte den Einsatz der HJ ab und räumte die Insel bis zum 5. Mai. Ein HJ-Bataillon ignorierte den Befehl zur Aufgabe, kämpfte und wurde aufgerieben. Gerda blieb bis zur Räumung am 25. April im umkämpften Stettin. Am nächsten Tag marschierte die Rote Armee ein.
Neue Heimat
Lübeck war die erste, Stade die zweite Verteilerstation für die Flüchtlinge. Das dünn besiedelte, von Bombardements weitgehend verschonte Niedersachsen nahm das mit Abstand größte Kontingent auf. Viele Ortschaften verdoppelten ihre Einwohnerzahl, einige entstanden neu. Gerda besorgte ein Quartier in Harsefeld, dann stieg sie wieder in den Zug ostwärts. Sie kam bis Binz, zu Fuß erreichte sie das Lager und holte ihren Sohn nach Apensen.
Seit seiner Heirat, seit 40 Jahren, lebt er in Harsefeld. Seine neue Heimat hatte auf den Tag genau solange durchgehalten wie Hitler im Berliner Bunker. Gegen Widerstand aus der Bevölkerung wurde die Panzersperre an der Ortseinfahrt von Parteigenossen und HJ geschlossen. Britische Panzer fuhren auf, wurden beschossen. Fliegerangriffe auf den Marktflecken, die ersten des Krieges. Ein Ultimatum des britischen Kommandanten: Übergabe oder Bombardement. Nicht alle Verteidiger gaben auf, ein Müller wurde beim Einmarsch getötet.
Ideale III
1945 zerfielen die Lebensbilder der Generation. Eine radikale Entwurzelung. Zum Verlust der Ideale kam die Sorge ums Überleben. Der Existenzkampf in den Nachkriegsjahren bündelte die Energien. Jochen hat nicht versucht, die alten Ideale neu zu entfachen. Aber die Glut der Lagerfeuer auf Rügen glimmt fort und sprüht unwillkürlich Funken. Deutsche Einheit erfüllt ihm den Traum, als Rentner Rügen vom Wohnwagen aus zu erleben. Knochen lassen sich begraben, Träume nicht.
Beton
Ruinen eines Traums, aufgetaucht aus dem Dämmer: Die Kraft-durch-Freude-Ferienanlage bei Prora auf Rügen, fünfeinhalb Kilometer entlang des Sandstrandes. Jochen erinnert sich wehmütig an die zu Kriegsbeginn aufgegebene Baustelle. Zu DDR-Zeiten bargen die Blocks Kasernen der Roten Armee und dienten als NVA-Übungsgelände. Kaum erst teilweise zugänglich geworden, sind sie schon zur Touristenattraktion und Kultstätte avanciert, trotz Stacheldrahtverhau.

Unverwüstliches Beton, dieser deutsche Baustoff. An zwei unvollendeten Gebäuden wurden Sprengversuche vorgenommen, die ihnen nicht viel anhaben konnten. Wie die ganze Geschichte müsste man den Komplex mit einem Pickel zerhacken, in dauernder Kleinarbeit Brocken für Brocken, Krümel für Krümel abtragen.
***
Nachtrag zur Aktualität 2018: Zeit-Leser schreiben gern. Auf den 1993 erschienenen Bericht über meine Reise nach Stettin / Szczecin erhielt ich mehr Leserbriefe als je zu einem Text. Fast alle waren empört über mein Einverständnis mit der Titelzeile, die nicht von mir stammte: »Rückkehr ausgeschlossen«. Die Lobby der »Heimatvertriebenen« war damals rege, und sie ist inzwischen, etwa in personam Erika Steinbach, bei der Alternative für Deutschland untergekommen. Auch heute stehen »Flüchtlinge« im politischen Focus, aber die »Heimat« wird gegen sie in Stellung gebracht, zum Beispiel durch ein eigens für die CSU eingerichtetes Ministerium.
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